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Vorzeige-Projekt in Hessen
Rechtsstaatskunde für Flüchtlinge

Im hessischen Rüsselsheim werden junge Flüchtlinge in Rechtsstaatskunde unterrichtet. Ein Projekt, das bundesweit als vorbildlich gilt. Viele der Schüler haben jedoch Schwierigkeiten, den juristischen Themen zu folgen.

Von Ludger Fittkau | 13.06.2017
    Schüler sitzen in einem Klassenraum. Vorne steht Richter Walter an einer Leinwand
    Vertraut werden mit juristischen Themen: Schüler der Rechtsstaatsklasse (Deutschlandradio / Ludger Fittkau)
    Meggie Merhasalsakip ist 17 Jahre alt und vor zwei Jahren aus Pakistan nach Deutschland geflohen. Heute Morgen ist sie mit ihrer Hauptschulklasse ins Amtsgericht Rüsselsheim gekommen. Ihr Lehrer ist heute der Richter Harald Walter. Er hat Zettel ausgeteilt, auf denen über ein aktuelles Urteil des Landgerichts Cottbus informiert wird. Ein Muslim aus Tschetschenien hat seine Frau aus Eifersucht getötet. Meggie Merhasalsakip liest laut vor, wie die grausame Tat geschah und endet dann mit dem Strafmaß:
    "Das Landgericht Cottbus verurteilt den 32-Jährigen zu einer 13-jährigen Haftstrafe wegen Totschlags."
    Der Richter erklärt den Fall Yücel
    Richter Harald Walter erklärt, dass der Täter nur deshalb nicht lebenslänglich bekam, weil er nach Auffassung seiner Cottbusser Kollegen nach kurzem Aufenthalt in Deutschland noch nicht mit dem hiesigen Rechtssystem vertraut war. Deshalb wird er nicht wegen Mordes sondern wegen Totschlags verurteilt. An anderer Stelle im Rechtsstaatsunterricht kommt er auf den Fall des in der Türkei inhaftierten Journalisten Deniz Yücel zu sprechen. Der stammt aus der unmittelbaren Nachbarschaft Rüsselsheims:
    "Und die deutschen Institutionen, die Botschaft und das Konsulat bemühen sich, zusammen mit dem Außenministerium, da zu unterstützen, dass wenigstens die Verwandten diesen Journalisten besuchen können und dass er ein faires Verfahren bekommt."
    Vom Unterschied zwischen Mord und Totschlag über Deniz Yücel bis zu Grundlagen des Zivilrechts – man merkt nach einer Weile, dass viele der jungen Geflüchteten Schwierigkeiten haben, dem Gesagten zu folgen. In der Pause sagt Meggie Merhasalsakip, die ihre Klassenkameraden gut kennt:
    "Es gibt hier eine Gruppe, die haben gar nichts verstanden. Das weiß ich genau. Eine andere Gruppe hat das nicht interessiert. Aber – das ist so."
    Regeln, die wirklich gelten
    Es sei nicht so schlimm, wenn die Jugendlichen an diesem Tag im Amtsgericht nicht alles verstünden, sagt der Rüsselsheimer Bürgermeister Dennis Grieser. Er hat den Rechtsstaats-Unterricht an diesem Morgen als Gast beobachtet:
    "Ich glaube, in erster Linie geht es darum, dass die Menschen sehen: Es wird sich um sie gekümmert und das Thema Justiz wird ernst genommen. Und dem deutschen Staat ist es wichtig, diese Regeln zu vermitteln, weil sie bei uns wirklich gelten und nicht nur auf dem Papier stehen. Und wenn das mitgenommen wird, ist das schon mal das Allerwichtigste. Wenn Details dann auch noch stimmen am Anfang, dann ist es perfekt, aber das kommt vielleicht auch mit der Zeit."
    Briefkasten und Adresse-Schild des Amtsgerichts Rüsselsheim
    Besonders fleißig bei der Durchführung der Rechtsstaatskurse: das Amtsgericht Rüsselsheim (Deutschlandradio / Ludger Fittkau)
    Das Amtsgericht Rüsselsheim mit seinen rund 90.000 Menschen im Gerichtsbezirk ist besonders fleißig bei der Durchführung der Rechtsstaatskurse für Geflüchtete. Rund 700 der 1.100 Menschen, die in den letzten zwei Jahren in die Opel-Stadt zugewandert sind, haben den Kurs bereits durchlaufen. Bis in die USA fand das hessische Konzept der Rechtsstaatsklassen Resonanz, berichtet Richter Harald Walter. Immer noch sei Hessen bei diesen Thema bundesweit vorbildlich:
    "In dieser Breite gibt es das nicht. Wir hatten in Bayern ein Startprojekt, aber das hat nicht lange vorgehalten. Ich finde, das ist schon beispielhaft. Und ich würde mir eigentlich wünschen, das in irgendeiner Form – das ist ja noch nicht verpflichtend für die Flüchtlinge. Wir verzeichnen zwar großes Interesse, aber noch nicht so, wie wir uns das eigentlich wünschen würden. Natürlich hat man immer den Anspruch, dass man alle erreicht, am besten noch durch so einen Test am Ende, wo man ankreuzt, dass die das auch kapiert haben, dass man die alle kriegt. Viele wünschen sich so eine Pflicht zur Teilnahme."
    Justizministerium setzt auf Freiwilligkeit
    Noch gibt es eine solche Pflicht nicht - das hessische Justizministerium setzt auf Freiwilligkeit und gutes Unterrichtsmaterial für die Rechtsstaatsklassen. Etwa Comics, in denen in Bildern und gleich mehrsprachig vermittelt wird, dass man Frauen auch in Silvesternächten nicht sexuell belästigen darf. René Brosius, Pressesprecher des hessischen Justizministeriums:
    "Wir haben in Hessen geschaut, welche Bevölkerungsgruppen kommen, haben dann die Top Five genommen, die Top-Fünf-Sprachgruppen Arabisch, Dari, Paschtu und Farsi. Haben dann noch mal eine Auffangsprache Englisch genommen, weil Englisch verstehen die Allermeisten."
    Meggie Merhasalsakip schafft es jedoch in Deutsch, Harald Walter zu erklären, dass sie nicht damit einverstanden ist, dass nun seit zwei Wochen die Handydaten von Geflüchteten überprüft werden dürfen. Der Richter hatte das den Jugendlichen kurz vor der Pause erklärt:
    "Wir sind noch so jung. Wir haben so viel auf unserem Handy. Für uns sind die Handys wichtig. Ich habe so viele Sachen in meinem Handy und ich werde nie mein Handy einfach so geben – Ja, du kannst in mein Handy gucken."