Dienstag, 23. April 2024

Archiv


Vorzeigedemokratie mit dunkler Vergangenheit

Nachdem der Sohn und Nachfolger des langjährigen taiwanesischen Diktators Chiang Kai-shek vor 25 Jahren das Kriegsrecht auf der Insel aufhob, begann ein langsamer Demokratisierungsprozess. Doch ihre dunkle Vergangenheit hat die Inselrepublik bis heute nicht vollständig aufgearbeitet.

Von Martin Aldrovandi | 14.07.2012
    Hsieh Tsung-mins Hand zittert, schnell legt er den Teller mit taiwanischen Mangoschnitzen auf den Tisch. Er sollte möglichst nichts tragen, sagt der ehemalige Abgeordnete. Seine Arme schmerzen, er kann sie nur beschränkt bewegen. Hsieh Tsung-min wurde im Gefängnis gefoltert.

    "Das erste Mal hängten sie mich acht Tage an den Händen auf, diese wurden mir zuvor mit Handschellen auf dem Rücken fixiert. Dann haben sie mit einem Holzstock auf meine Beine eingeschlagen, als sie mir später die Hose auszogen, klebten Teile der Haut am Stoff."

    Der heute 78-Jährige lebt zusammen mit seiner Frau in einem Vorort von Taipeh. Im Wohnzimmer liegen Bücher und Zeitungsartikel über die Zeit des "Weißen Terrors" – während des 38 Jahre langen Kriegsrechtes verfolgten die Behörden Dissidenten wie Hsieh Tsung-min. Die Haft hat bei ihm neben körperlichen vor allem auch seelische Narben hinterlassen:

    "Mitten in der Nacht schreie ich, winde mich im Bett, versuche ihren Schlägen auszuweichen und wache dann neben dem Bett auf. Auch tagsüber habe ich Blackouts, bin gedanklich plötzlich wieder im Gefängnis. Da kommt es auch schon mal vor, dass ich eine rote Ampel überfahre."

    Hsieh Tsung-min saß zweimal im Gefängnis: Das erste Mal wurde er verhaftet, nachdem er als zwanzigjähriger Student zusammen mit seinem Professor und einem Kommilitonen ein Manifest publizierte, in dem er seine Mitbürger zur Selbstbefreiung aufrief.

    Damit widersprach er der offiziellen Doktrin der Kuomintang-Regierung, die 1949 unter Chiang Kai-shek nach Taiwan geflohen war. Trotz Unterstützung der USA verloren Chiangs Truppen den chinesischen Bürgerkrieg gegen Mao Zedong. Von Taiwan aus, schwor die Kuomintang-Regierung damals, werde man ganz China wieder zurück erobern.

    "Ein solcher Krieg wäre gar nicht möglich gewesen, trotzdem verbrachten die Menschen so viel Zeit mit dieser Idee. Ich fand, dass wir uns stattdessen auf Taiwan konzentrieren sollten. Um China anzugreifen, hatten wir außerdem nicht genug Soldaten und auch zu wenig Lebensmittelvorräte. Ich wollte, dass sich die Menschen bei uns endlich der Realität stellten."

    Zu einer Rückeroberung ist es bekanntlich nie gekommen: Stattdessen geriet die "Republik China" – wie sich Taiwan offiziell nennt - zunehmend in die Isolation. In den siebziger Jahren verlor sie sogar ihren Sitz in den Vereinten Nationen, die USA brachen als eines der letzten großen Länder die Beziehungen mit Taipeh ab - zugunsten Pekings.

    Chiang Kai-sheks Sohn und Nachfolger Chiang Ching-kuo hob vor 25 Jahren schließlich das Kriegsrecht auf, kurz vor seinem eigenen Tod.

    Seither hat sich Taiwan fast schon zu einer Vorzeigedemokratie in der Region gemausert. Es gibt ein allgemeines Wahlrecht, es herrscht Meinungs- und Pressefreiheit. Hsieh Tsung-min, einst politisch verfolgt, saß später für die oppositionelle DPP, die "Demokratische Fortschrittspartei", im Parlament und arbeitete als Berater des früheren Präsidenten.

    Dennoch: Konsequent aufgearbeitet hat Taiwan seine dunkle Vergangenheit immer noch nicht. Das liegt auch daran, dass nach dem Übergang die Kuomintang vorerst weiter an der Macht blieb. Für Chen Chun-hung der staatsunabhängigen taiwanischen Organisation "Wahrheit und Versöhnung" ergibt sich daraus ein Interessenkonflikt:

    "Da sie selbst Täter waren, konnten sie die Vergangenheit natürlich nicht gründlich aufarbeiten. Für die Kuomintang ist das alles äußerst unangenehm, sie wissen nicht wie sie mit den eigenen Fehlern umgehen sollen."

    So erhielten Opfer und Angehörige über eine Stiftung von der Regierung zwar finanzielle Unterstützung, Gerichtsurteile aus Zeiten des Kriegsrechts können jedoch nicht mehr angefochten werden, die Verantwortlichen sind bis jetzt nicht zur Rechenschaft gezogen worden.

    "Wir wissen zum Beispiel nicht, wie das Tätersystem aufgebaut war. Es war ja nicht nur Chiang Kai-shek, hinter ihm stand eine ganze Organisation mit Kontrollvollmacht über die Politik. Dazu gehören die Täter, die Befehle erteilt und jene die sie ausgeführt haben. Die Regierung ist nicht bereit dies aufzuklären, und weil die Täter sich nicht selbst melden, können wir als Nichtregierungs-Organisation kaum etwas unternehmen."

    Dabei gehe es ihm nicht einmal um die Bestrafung der Täter, sagt Chen, sondern darum, dass aufgeklärt werde, wer wofür verantwortlich gewesen sei. Nötig dazu sei unter anderem ein einfacherer Zugang zu den Dokumenten aus jener Zeit. Chen Chun-hung verweist auf Deutschlands Umgang mit den Stasi-Akten:

    "Als Grund wird in Taiwan der Schutz der Privatsphäre angegeben, das macht es für Akademiker oder Journalisten fast unmöglich Akten einzusehen. Deutschland hat ein sehr umfassendes System geschaffen, mit dem der Zugang geregelt wird. Wir werden es in Taiwan wahrscheinlich nie ganz so perfekt hinkriegen, hoffen aber zumindest auf eine vereinfachte Version, die zwischen Datenschutz und öffentlichem Interesse abwägt."

    Chang Mao-hsiung, auch er einst politischer Häftling, will nicht mehr auf eine Gesetzesänderung warten. Er hat 15 Jahre lang Unterlagen gesammelt. Als ehemaliges Vorstandsmitglied der Stiftung, die Opfer und Angehörige finanziell entschädigte, hatte er Einsicht in Gerichtsakten von politisch Verurteilten.

    "Ich konnte die Dokumente nur während der Sitzungen einsehen, durfte sie nicht mit nach Hause nehmen. Ich habe mir heimlich Namen, Urteilsbegründungen und Haftdauer notiert. Wir waren ja mitten in einer Sitzung, es musste jeweils schnell gehen. Dennoch habe ich bis jetzt Fälle von mehr als 13.000 Menschen sammeln können."

    Mehr als 3000 Prozesse hat er vergangenes Jahr zusammengefasst und ins Internet gestellt. Beschwerden habe es bislang kaum gegeben, sagt er, auch von der Regierung nicht. Diese wolle ganz offensichtlich mit der ganzen Sache möglichst wenig zu tun haben.

    Taiwans Vergangenheit und sein Umgang damit steht auch im Schatten Chinas. Bis heute ist der völkerrechtliche Status der Insel nicht geklärt. Während Peking Taiwan als abtrünnige Provinz sieht, ist man sich hier über das Verhältnis zum großen Nachbarn uneins. Während Taiwans Opposition sich eher für eine Unabhängigkeit der Insel stark macht, fährt die Kuomintang einen chinafreundlicheren Kurs und versucht es zu vermeiden Peking irgendwie zu provozieren.

    "Die einen sagen, dass Taiwan erst einmal unabhängig werden sollte. Danach könne man sich auch mit der Vergangenheit befassen. Für das chinafreundliche Lager wiederum ist das Thema ‘Aufarbeitung’ mit dem Unabhängigkeits-Lager verbunden und deshalb will es davon nicht wissen. Und dann gibt es noch diejenigen, die sich keinem Lager zugehörig fühlen. Sie können die Streitereien der beiden Seiten inzwischen nicht mehr hören und finden, dass sie das alles eigentlich nichts angeht."

    Während sie von der Regierung nach wie vor eine gründliche Aufarbeitung fordern, haben sowohl Chang als auch Hsieh ihren Peinigern längst vergeben. Zwei Beamte seines Gefängnisses hat Hsieh Tsung-min Jahre später sogar wieder getroffen:

    "Einer führte ein Restaurant, ich habe dort einen Tisch reserviert und ehemalige politische Gefangene eingeladen. Er hat uns je eine Mahlzeit spendiert, das war seine Art mit uns umzugehen. Einem anderen bin ich auf der Straße begegnet, er sagte mir, ich dürfe den Menschen, die gefoltert haben, nicht böse sein. Sie hätten doch alle nur Befehle ausgeführt."