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Voyage surprise
Cristiano Ronaldo würde unser Mitleid gar nicht wollen

Ein verschossener Elfmeter, ein Abseitstor, die Häme gegen Cristiano Ronaldo ist groß. Der portugiesische Rekordnationalspieler könnte einem fast leidtun – wenn er sich nicht regelmäßig Sympathien verspielen würde. Aber er würde unser Mitleid nicht wollen. Denn er hat etwas, was wir nicht haben.

Von Victoria Reith | 19.06.2016
    Ein aufs Feld gestürmter Fan macht nach dem EM-Spiel Portugal-Österreich ein Selfie mit Cristiano Ronaldo, bevor ihn die Ordner wegführen.
    Nicht alle hassen Ronaldo. (picture alliance/dpa - EPA)
    Der gestrige Abend endete für Cristiano Ronaldo nach der Niederlage auf dem Platz mit einem Selfie. Dass ein Flitzer auf den Rasen und der Zensurapparat der UEFA es nicht verhindert, dass die Bilder zu sehen sind, ist ja schon eine kleine Sensation. Aber wenn Cristiano Ronaldo mit diesem Flitzer-Fan noch ein Selfie macht, bevor ihn die Ordner abführen, kann die Stadionregie natürlich nicht anders, als es auch zu zeigen.
    Es war für Ronaldo der Abschluss eines Abends, der ihm statt CR7 den neuen Spitznamen CR0 verschaffte – nein, kein deutscher Rapper, sondern eine Anspielung auf seine torlose Partie, von der brasilianischen Zeitung Globo. Vor allem der Foulelfmeter, den Ronaldo an den Pfosten setzte, war so etwas wunderbar Ungewöhnliches, dass sich ein Chor von Fußballfans auf den Sofas weltweit in gehässigem Lachen vereinte:
    Der Held des Abends war schnell gefunden.
    Was sich da auf dem Rasen befand, ist bislang unbekannt.
    Und selbst die UEFA kommentierte: Manchmal läuft's einfach nicht.
    Woher kommen die Antipathien gegen Ronaldo? Meine Mutter, die sich Fußball eher von der menschlichen als der rein sportlichen Seite nähert, teilte mir am Telefon vor dem Spiel mit, dass sie hoffe, dass Ronaldo am späteren Abend verliere. Also nicht unbedingt alle Portugiesen, sondern explizit der Superstar. Und das nicht, weil sie besonders große Sympathien für die Gegner aus Österreich hätte.
    Ronaldo wirbt nicht gerade um Sympathien
    Nein, es war der verwehrte Trikottausch mit dem isländischen Kapitän Aron Gunarsson nach dem 1:1 der Portugiesen gegen Island, der meine Mutter so in Rage brachte. Ronaldo hatte abgewehrt, als Gunarsson nach seinem Trikot fragte. Darüber hinaus bezeichnete Ronaldo auch noch den Jubel der Isländer als überzogen. "Sie haben gejubelt, als hätten sie die EM gewonnen oder irgendwas. Das ist eine schwache Mentalität. Darum werden sie nichts erreichen."
    Den Inhalt dieser Aussage kann man durchaus in Frage stellen – Island hat es nach zwei Spieltagen – zwar mit Glück, aber immerhin - auf genauso viele Punkte wie Portugal gebracht.
    Ihn wegen seiner Arroganz zu hassen, ist zu einfach
    Eine schwache Mentalität ist allerdings etwas, das man Ronaldo nun wirklich nicht unterstellen kann. Und seine Mentalität ist auch der Grund, wieso er so polarisiert. Sein hahnengleicher Gang, sein zum Teil verbissen-maskenhafter Gesichtsausdruck, seine für den Zuschauer teilweise schmerzhafte Zelebration der Freistöße – seine unbestrittene Arroganz seinen Gegenspielern gegenüber. Dennoch: Ihn allein deshalb zu verachten, ist zu einfach gedacht (sorry, Mama).
    Cristiano Ronaldo ist mehr als ein Egoman mit eigener Unterwäscheserie. Er ist seit gestern nicht nur Rekordnationalspieler Portugals. Er ist dreimaliger Weltfußballer des Jahres, zweimaliger Europäischer Fußballer des Jahres, dreimaliger Champions-League-Sieger, war Meister, Pokalsieger, Torschützenkönig – und hat alleine in der vergangenen Champions-League-Saison 16 Tore erzielt. Er ist mir nicht sympathisch, aber ich achte ihn als Fußballer.
    Wo ist denn der deutsche Ronaldo, der Superstar, der alle Tore schießt, der das Selbstbewusstsein eines Löwen an den Tag legt? Der Star im deutschen Team ist die Mannschaft, schon klar. Aber einen Fußballer wie ihn würde auch der DFB nicht verschmähen - und dann würden ihn die Deutschen auch nicht mehr hassen. Dafür aber vielleicht die Portugiesen. In Wahrheit sind wir doch alle nur neidisch.
    Unter "Voyage surprise" (dt.: "Fahrt ins Blaue") bildet die DLF-Sportredaktion in den kommenden Wochen Hintergründiges, Humorvolles, Abseitiges rund um die Europameisterschaft in Frankreich ab.