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Voyage surprise
Schland! Ach nee, doch nicht

Bei dieser Europameisterschaft ist die Stimmung gefühlt schlechter als bei vorherigen Turnieren – kein schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer und keine ausgelassenen Menschenmengen nach Deutschlandsiegen. Aber was sind die Gründe für die ausgebliebene (Deut)Schland-Euphorie: Wetter, Turniermodus, Terrorangst? Nur eines macht zum Ende hin Hoffnung.

Von Victoria Reith | 05.07.2016
    Zwei deutsche Fußball-Fans beim Public Viewing.
    Zwei deutsche Fußball-Fans beim Public Viewing. (imago sportfotodienst)
    Wer sind noch mal die Vorrundengegner der Deutschen? In welchen Stadien wird gespielt? Und wie ist das mit den Gruppendritten und dem Erreichen des Achtelfinals? Ich muss zugeben: Kurz bevor die Fußball-EM begann, wusste ich so wenig über das Turnier wie selten zuvor bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft.
    Auch wenn ich grundsätzlich interessiert war, die Vorfreude auf die Spiele und das Drumherum war geringer als 2006 (ein Semester, in dem ich aus WM-Gründen nur zwei Pflichtseminare belegte), 2010 (ein Semester, in dem ich große Teile meiner Magisterarbeit aus WM-Gründen in fünf Wochen schrieb) oder auch noch 2014 (als ich an einer weiteren Abschlussarbeit zwei Wochen weniger schrieb, damit sie rechtzeitig zur WM fertig war). In den EM-Jahren 2008 und 2012 lief es ähnlich.
    Achselzucken statt Begeisterung
    In diesem Jahr ist die gute Laune zu den Spielen etwas bemüht, im Freundeskreis keine Anzeichen von Begeisterung, eher ein Achselzucken, wenn es darum geht, wo man denn nun die Spiele gegen Nordirland oder die Ukraine schaut. Und es wird offen thematisiert: "Seid ihr auch nicht in EM-Stimmung?" Viele scheinen traurig, dass nichts mehr so unbeschwert-euphorisch ist wie vor zehn Jahren, als man kaum genug schwarz-rot-goldene Accessoires anlegen konnte und die Hymne lautstark mitsang.
    Ihren Höhepunkt erreichte meine eigene Ignoranz für das Turnier, das ich eigentlich trotz einer gewissen emotionalen Gleichgültigkeit gewissenhaft verfolgt habe, als ich mich auf einem Musikfestival dazu entschied, lieber zwei Bands anzusehen, als das deutsche Achtelfinale gegen die Slowakei zu schauen (auch das wäre 2006 oder 2008, als ich in der gleichen Situation war, undenkbar gewesen). Ich habe drei Hauptgründe identifiziert: Der erste ist trivial, der zweite organisatorisch, der dritte gesellschaftlich-politisch.
    Sommer ist ausgeblieben
    Erstens: der nicht vorhandene Sommer. Selbst wenn einen der Fußball an sich nicht so sehr interessiert, er bildet doch ein angenehmes Grundrauschen, wenn man ohnehin draußen sitzt, und sei es nur kurz, bei einem gekühlten Feierabendgetränk – spätestens zu Turnierbeginn wären sommerliche Temperaturen Anlass genug gewesen zuzuschauen. Stattdessen habe ich mit dem Gedanken gespielt, eine Heizdecke ins Bett zu packen und von dort aus zu schauen. Auch wenn es dann letztlich die Couch wurde: Zu Hause ist eben nicht so mitreißend wie im Biergarten.
    Turniermodus ermüdet
    Zweitens: Der Turniermodus. Die Hängepartien für die Vorrundendritten, die teilweise nach ihren letzten Gruppenspielen in Frankreich ausharrten, um dann doch nach Hause zu fahren, waren ermüdend, auch fürs Publikum. Und folgende Gleichung scheint auch aufzugehen: Je mehr Spiele, desto weniger Spannung. Die Tatsache, dass in nur zwei der 12 Partien des ersten Spieltags mehr als zwei Tore fielen, spricht zumindest dafür. Zurecht hieß es früher, bei der EM werde oft besserer Fußball gespielt als bei der WM. Heute gilt das wohl nicht mehr so uneingeschränkt.
    Dramen auf dem Kontinent bedeutsamer als auf dem Platz
    Drittens: Mitfiebern bei einer Europameisterschaft fällt schwer, wenn Europa aufgrund verschiedener Krisen auseinander zu fallen scheint. Im Gastgeberland haben die Menschen Angst vor Terroranschlägen, England und Wales haben während der EM beschlossen, die EU lieber verlassen zu wollen, Österreich wird langsam zum failed state und in Deutschland reklamieren Rechtspopulisten und Ausländerfeinde Fahne und Hymne für sich. Wenn sich so viele Dramen im Umkreis des Turniers abspielen, ist man für die auf dem Platz nur noch begrenzt aufnahmefähig. Zumal Fußballturniere wegen diverser Skandale ja auch keine reinen Sommermärchen mehr sind.
    Tröstlich aus deutscher Sicht: Zumindest seit dem Elfmetermarathon gegen Italien im Viertelfinale ist mehr Spannung drin – auch wenn bis dahin erst einmal drei Wochen Turnier ins Land gehen mussten. Wenn Deutschland das Halbfinale gegen Frankreich gewinnen sollte, ist der Titel in greifbarer Nähe. Und die Stimmung würde sich aufhellen, wenn auch nur für kurze Zeit. Grenzenlose Euphorie wäre wohl ohnehin derzeit nicht angebracht.