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Wachstum des Homo sapiens
Jugendjahre eines Neandertalers

Über die Neandertaler ist zwar dank etlicher Skelettfunde schon viel bekannt, nur zur Kindheit gab es bislang wenig Erkenntnisse. Ein internationales Forscherteam konnte nun aber ein recht vollständiges Skelett einen Neandertaler-Kindes rekonstruieren und untersuchen. So konnte eine Streitfrage geklärt werden.

Von Michael Stang | 22.09.2017
    Das Bild des Spanischen Nationalen Forschungsrates (CSIC) zeigt zwei Forscher bei der Arbeit in der El-Sidron-Höhle in Asturien im Norden Spaniens. Dort wurden die sterblichen Überreste von 13 Neandertalern gefunden, die dort vor rund 49.000 Jahren lebten.
    Zwei Forscher bei der Arbeit in der El-Sidron-Höhle in Spaniens, wo die sterblichen Überreste von 13 Neandertalern gefunden wurden (EPA / CSIC)
    Obwohl die Neandertaler der Wissenschaft schon seit 1856 bekannt sind und mittlerweile weit mehr als 400 Skelettfunde beschrieben wurden, sind einige Fragen weiter offen, etwa jene nach der Kindheit der Neandertaler. War diese kürzer als die der anatomisch modernen Menschen? Wuchsen Neandertaler also schneller heran als Vertreter von Homo sapiens? Diese in Fachkreisen seit Jahrzehnten kontrovers diskutierte Frage kann Antonio Rosas vom Naturhistorischen Museum in Madrid nun beantworten. Im Fachmagazin Science stellt er heute das gut erhaltene Teilskelett eines Neandertalerkindes vor.
    "Wir wollten herausfinden, wie genau ein Neandertaler herangewachsen ist. Bei diesem Skelett können wir das detailliert am Gehirn, am Schädel, an Zähnen, Brustkorb, Wirbel, Langknochen und so weiter nachvollziehen. Und dabei haben wir festgestellt, dass sich das Wachstum der Neandertaler gar nicht so sehr von dem des Homo sapiens unterschieden hat. Natürlich ist war das nicht exakt gleich, aber die grobe Richtung ist dieselbe."
    Ein Junge im Alter von 7,7 Jahren
    Die 138 Knochenfragmente des kleinen Neandertalers waren bei Ausgrabungen in der El Sidrón Höhle im Norden Spaniens zwischen 2009 und 2011 geborgen worden. Da das als El Sidrón J1 bezeichnete Skelett weder schwere Verletzungen noch Anzeichen von Krankheit zeigt, können die Paläoanthropologen keine Rückschlüsse auf die Todesursache ziehen.
    "Wir gehen davon aus, dass es ein Junge war. Er starb im Alter von 7,7 Jahren. Wir können das exakt bestimmen, weil wir uns die Zähne angesehen haben. Dort lagern sich - ähnlich wie bei Bäumen - in regelmäßigen Abständen Ringe ab, die wir dann nur noch zu zählen brauchen."
    Langsameres Wachstum der Wirbelsäule
    Obwohl das Skelett ein chronologisches Alter von 7,7 Jahren aufweist, zeigt es im anatomischen Vergleich zu heute lebenden Menschen erst ein Stadium von fünf bis sechs Jahren. Damit ist die These vom Tisch, dass Neandertaler schneller als anatomisch moderne Menschen heranwuchsen - im Gegenteil, so Antonio Rosas.
    "Wir haben zwei große Unterschiede entdeckt. Zum einen war das Wachstum der Wirbelsäule, vor allem im oberen Bereich, deutlich langsamer als bei uns. Zum anderen wuchs das Gehirn der Neandertaler langsamer und länger. Möglicherweise war das der physiologischen Balance geschuldet, um so ein großes Gehirn und so einen massiven Körper heranwachsen zu lassen."
    Gemeinsamkeiten von Homo sapiens und Neandertaler
    Denn Neandertaler erreichten ein hohes Körpergewicht und ihre Gehirne waren im Schnitt größer als die von Homo sapiens. Um den Grad der Unterschiede bemessen zu können, haben sie die Ergebnisse mit kindlichen Skeletten anderer Vertreter des menschlichen Stammbaums verglichen, allen voran das Skelett des 1,6 Millionen Jahre alten "Turkana Boys", so der Spitznamens des Fundes eines afrikanischen Homo erectus in Kenia von 1984.
    "Beide, Neandertaler und anatomisch moderne Menschen, zeigen eine verlängerte Kindheit, die sie vermutlich ihrem letzten gemeinsamen Vorfahren verdanken. Primitivere Vorfahren, wie etwa Homo erectus, zeigen das nicht. Nur die Neandertaler und Homo sapiens weisen dieses weiterentwickelte Wachstum auf."
    So macht der Fund des Neandertaler-Kindes in Spanien einmal mehr deutlich, dass Homo sapiens und Neandertaler viel mehr Dinge verbinden als trennen.