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Wähler des Front National
Nur die Angst vor den Migranten verbindet

Warum ist der Front National in Frankreich so populär? Der französische Soziologe Gérard Mauger machte sich in einem Buch auf die Suche nach den Gründen. Ein Ergebnis: Die größte Stärke der Partei ist ihr vages Konzept - das gleichzeitig auch ihr größter Schwachpunkt ist.

Von Philine Sauvageot | 10.04.2017
    Die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen.
    Die Chefin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen. (picture allianc / dpa / Kristina Afanasyeva)
    Die Unterschicht - ein umstrittener Begriff, teilt er doch die Gesellschaft in Unten, Mitte und Oben ein. Der französische Soziologe Gérard Mauger benutzt den Begriff trotzdem ganz bewusst. Seine Mutter war Hausfrau, sein Vater Zahntechniker. Er kommt selbst aus dem einfachen Arbeitermilieu und ist aufgestiegen, hat an der Sciences Po Paris, einer Eliteuniversität, studiert.
    "Ich habe eine Welt entdeckt, die nicht die meine war, in der ich meinen Platz finden musste, mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten, die mir bewusst gemacht haben, dass es wirklich soziale Klassen gibt."
    Ständige Sorge um soziales Ansehen
    Ein besonderes Merkmal der französischen Unterschicht, das Mauger ausfindig gemacht hat: Die ständige Sorge um soziales Ansehen, um die "common decency", wie es der Schriftsteller George Orwell einst nannte. Diese Anerkennung erlangt man in der Arbeiterklasse dadurch, ...
    "... wohl erzogene Kinder zu haben und fürsorgliche Eltern zu sein, die hart arbeiten. Ich habe diese Angst um das soziale Ansehen sehr stark erfahren. Das war wie eine Trennlinie: zwischen der ärmlicheren Familie meiner Mutter und der bessergestellten Familie meines Vaters."
    Trennlinie zwischen oben und unten
    Diese Trennlinie ermöglicht es, sich abzuheben von denen da oben, aber auch von denen da unten. Denen nämlich, die noch schwächer sind als man selbst: den Arbeitslosen und den Sozialhilfeempfängern. Was viele Menschen und ihr soziales Ansehen täglich bedroht, ist, noch weiter an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden: durch den Leistungsdruck auf ihre Kinder in der Schule, durch Arbeitslosigkeit und Verarmung.
    Das ist eine zentrale These in Gérard Maugers Buch "Les classes populaires et le FN". Er ist überzeugt: Die Angst der Unterschicht vor ihrem sozialen Abstieg in die völlige Armut nutzt der rechtsextreme Front National für seine Zwecke.
    "Der latente Konflikt zwischen dem unteren und dem oberen Teil der Arbeiterklasse wird vom Front National ständig geschürt. Er lässt die Kluft innerhalb der Unterschicht wie eine Kluft zwischen den echten Franzosen und den Einwanderern aussehen. Und das scheint nicht einmal völlig falsch zu sein, denn diejenigen, die kriminell werden, die an der Schule scheitern, die uns im Treppenhaus belästigen, das sind häufig Einwanderer. Aber nicht, weil sie Einwanderer, sondern weil sie arm sind."
    Spaltung in Franzose und Nicht-Franzose
    Das ist, wenn man Mauger glauben mag, der größte ideologische Sieg des Front National: In den Köpfen vieler Menschen wurde aus der gesellschaftlichen Spaltung in Arm und Reich oder in fleißige Arbeiter und faule Nutznießer eine Spaltung in Franzose und Nicht-Franzose. Mehr als die Hälfte der Stimmen für den Front National kommt aus der Unterschicht. Zuletzt wählte ihn jeder siebte Arbeiter, allerdings nicht immer aus Fremdenhass.
    "Den Front National zu wählen, heißt ganz häufig, ich bin absolut nicht zufrieden. Oder es heißt, mit den Parteien, wie sie heute existieren, ist es doch immer das Gleiche, und ich hab die Nase voll, also steche ich in das Wespennest und wähle FN."
    Abgrenzung von der Unterschicht
    Einer, der die Nase voll hat: Éric, 41 Jahre alt, von Beruf Wachmann. Er hat mit Gérard Mauger für dessen Buch gesprochen. Éric fühlt sich von der Politik im Stich gelassen, den Sozialhilfeempfängern fehle es an Arbeitsmoral. Oder Claudine, 48, gelernte Frisörin, heute Hausfrau, hat Angst um ihre Kinder und fühlt sich auf der Straße nicht sicher.
    Beide haben in der Vergangenheit den Front National gewählt. Beide gehören zum gehobeneren Teil der Unterschicht und wollen sich stets vom unteren Teil abheben.
    "Wir haben aktiv daran gearbeitet, den Zusammenhalt der Arbeiterklasse zu zerstören. Die kommunistische Partei in Frankreich ist zusammengebrochen, die Parti socialiste ist nur noch dem Namen nach sozialistisch. Man kann sagen, dass die Unterschicht ihre politische Identität verloren hat. Da hat sich eine Lücke aufgetan, die der FN auf seine Weise zu füllen versucht - was katastrophale Folgen hat."
    Vage Ideen, keine feste Gefolgschaft
    Nur wenige Franzosen lesen die Parteiprogramme. Die Wahl des Front National begründet sich nach Mauger vor allem mit vagen Ideen. Die Partei sei wie eine Metro, in die ständig neue Wähler einsteigen, ohne zu wissen, wohin sie fährt. Sie lege sich selbst und ihre Wähler selten auf klare Positionen fest. Und werde darum gewählt von Menschen mit völlig konträren Lebenswelten und politischen Überzeugungen. Es gebe nicht den typischen FN-Wähler, keine feste Gefolgschaft. Der Front National – eine "Catch Large Party", die durch vage Konzepte wie "Freiheit" und "Nation" in allen Bevölkerungsschichten nach Stimmen fischt.
    "Freiheit? Naja, wer ist bitte dagegen. Keiner! Kennen Sie Leute, die sagen: Nein, nein, ich bin gegen Freiheit? Was die Wähler zusammenhält, sind zweifellos sehr banale Dinge, wie zum Beispiel das Hochhalten der Nation. Zu sagen: Ihr seid Franzosen, wir sind Franzosen. Na klar sind wir das alle, das verbindet uns."
    Ganz unterschiedliche Standpunkte innerhalb des FN
    Diese vieldeutige Rhetorik und undurchsichtige Politik des Front National ist für Mauger aber auch der Schwachpunkt der Partei. Zusammengehalten sei die Wählerschaft nur durch die Angst vor Migranten. In allen anderen Punkten gebe es ganz unterschiedliche Standpunkte.
    "Diese Welt des FN kann jeden Moment, und viel eher als man annimmt, in sich zusammenbrechen. Dass die Menschen extrem unterschiedliche Interessen haben, ist für ihn eine Bedrohung."
    Den Front National schwächen, hieße auch, ihn immer wieder aufzufordern, klar Position zu beziehen – zu den Themen Sozialabgaben, Lohnsteigerungen, Einwanderungspolitik. "Les classes populaires et le FN" von Gérard Mauger zeigt auf nachvollziehbare Weise, dass es so viele Wähler wie Gründe gibt, sich für den Front National zu entscheiden. Und gibt ein erfrischend differenziertes Bild einer umstrittenen Partei. Doch auch, wenn die Unterschicht besorgt durch den Verlust ihres soziales Ansehens zur rechtsextremen Stimme neigt, ihr viel größeres Problem sind die Nicht-Wähler. Bei den letzten Regionalwahlen waren das mehr als 60 Prozent der Unterschicht.
    "Les classes populaires et le FN. Explications de vote"
    Gérard Mauger, Willy Pelletier, Éditions du Croquant, Reihe "Savoir/Agir", Preis: 18 Euro