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Wagemutige Annäherung an zwei faszinierende Charaktere

"Das Stalin-Epigramm" ist eins von Robert Littells stilleren literarischen Werken. Darin beschreibt er eine fiktive Begegnung Stalins mit dem oppositionellen Dichter Ossip Mandelstam, der in einem Gulag umgebracht wurde.

Von Antje Deistler | 01.12.2009
    Moskau 1979. Der Journalist Robert Littell ist als Osteuropa-Korrespondent der Zeitung "Newsweek" in Russland unterwegs. Vor einiger Zeit hat er die Memoiren von Nadeshda Mandelstam gelesen, "Das Jahrhundert der Wölfe". Jetzt besucht er die 80-Jährige in ihrer überheizten Wohnung in einem heruntergekommenen Gebäude am Rand von Moskau.

    "Ich erinnere mich an einen dunklen Flur und dass ich an ihre Tür geklopft habe. Und diese alte, alte Frau öffnete. Sie war in Wirklichkeit gar nicht so alt, aber sie hatte so viel durchgemacht in ihrem Leben. Junge Moskauer Dichter kümmerten sich um sie, kauften für sie ein, kochten für sie, das war sehr bewegend."

    Robert Littell hat die größte Pralinenschachtel mitgebracht, die er im Hotelshop finden konnte, und trinkt Tee mit der Witwe von Ossip Mandelstam, dem von Stalin verfolgten und schließlich 1938 in einem Lager umgekommenen Dichter. Nadeshda Mandelstam war mit ihm vor der Geheimpolizei geflohen, ins Exil gegangen, hatte sich und ihren Mann mit Übersetzungsarbeiten am Leben gehalten, seine Gedichte auswendig gelernt und sie so vor der Vernichtung bewahrt. Das alles weiß der amerikanische Journalist und Schriftsteller. Er ist nicht zur Recherche hier, sondern nur, um dieser Frau seine Bewunderung auszudrücken.

    "Ich hatte nicht vorgehabt, ein Buch über sie zu schreiben. Nach etwa einer Stunde hielt ich es für angebracht, zu gehen. Sie stand auf und brachte uns zur Tür. Und bevor sie die Tür öffnete, sagte sie: 'Sprechen Sie kein Englisch im Flur!'. Diese Worte trafen mich wie ein Schlag, sie haben mich seitdem verfolgt. Das war 1979, da konnte man im Flur englisch sprechen, da durfte man ausländischen Besuch haben, aber sie hatte immer noch Angst vor Spitzeln, die einen in den 20er- und 30er-, auch noch in den 40er- und 50er-Jahren bei der Sicherheitspolizei angeschwärzt hätten."

    Diese Begegnung, dieser Satz war es, der Robert Littell nie losließ und der ihn schließlich dazu brachte, fast 40 Jahre später "Das Stalin-Epigramm" zu schreiben. Es erzählt die Geschichte von Ossip Mandelstam, der sich – zu einer Zeit der offenen Repression von Dichtern und Schriftstellern und als die stalinistischen Säuberungsaktionen begannen, als einer von ganz wenigen Künstlern Stalin verweigerte. Keine verherrlichende Ode war es, die er 1934 elf engen Freunden in aller Heimlichkeit vortrug:

    Wir Lebenden spüren den Boden nicht mehr,
    Wir reden, dass uns auf zehn Schritt keiner hört,

    Doch wo wir noch Sprechen vernehmen, –
    Betrifft's den Gebirgler im Kreml.

    Seine Finger sind dick und, wie Würmer, so fett,
    Und Zentnergewichte wiegts Wort, das er fällt,

    Sein Schnauzbart lacht Fühler von Schaben,
    Der Stiefelschaft glänzt so erhaben.

    Schmalnackige Führerbrut geht bei ihm um,
    Mit dienstbaren Halbmenschen spielt er herum,

    Die pfeifen, miaun oder jammern.
    Er allein schlägt den Takt mit dem Hammer.

    Befehle zertrampeln mit Hufeisenschlag:
    In den Leib, in die Stirn, in die Augen, – ins Grab.

    Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten –
    Und breit schwillt die Brust des Osseten.


    Was dann passierte, ist bekannt: Ossip Mandelstam wurde verraten, verhaftet und zehn Tage lang im Gefängnis verhört. Er verließ die berüchtigte Lubljanka als gebrochener Mann, unternahm einen Selbstmordversuch, wurde in die Verbannung nach Woronesch geschickt und schließlich, fünf Jahre später, erneut verhaftet. Mandelstam starb in einem Durchgangslager auf dem Transport nach Sibirien. Das alles hat Nadeshda Mandelstam in ihren Erinnerungen bereits beschrieben. Und doch, sagt der 74-jährige Robert Littell:

    "Es gibt noch so viel, das wir nicht wissen. Was wir wissen, ist, dass Stalin und Mandelstam voneinander besessen waren. Mandelstam war besessen von dem Diktator, von seiner Brutalität und der Macht und Stalin war kurioserweise von Mandelstam besessen, denn Mandelstam war der einzige Künstler, der ihm kein Werk widmete, sonst hatten das alle getan. Stalin wollte Unsterblichkeit, und Mandelstam weigerte sich, ihm die zu geben. Aber die beiden haben sich nie getroffen. Also habe ich mir vorgestellt, was die beiden zueinander sagen würden, wenn sie sich träfen."

    Der Dialog zwischen Stalin und Mandelstam bildet eine Schlüsselszene in "Das Stalin-Epigramm" und eine fast wagemutige Annäherung an zwei faszinierende Charaktere. Natürlich vollkommen fiktiv, wie so vieles in diesem historischen Roman. Er habe die Leerstellen füllen wollen, sagt Littell:

    "Nadeshda war eine sehr diskrete Frau. In ihren Memoiren gibt es ein Kapitel über die Erinnerung, darüber, welche Bedeutung Erinnerungen in unserem Leben haben, und dort sagt sie: 'Ich habe die Wahrheit gesagt und nichts als die Wahrheit, aber ich habe nicht alles erzählt'. Sie hat einiges ausgelassen. Sie hat nie über ihr persönliches Leben gesprochen, nur Andeutungen gemacht, sie hat nie über Sexualität oder Sinnlichkeit gesprochen, obwohl Mandelstam irgendwo sagt, dass nichts für Poesie so wichtig sei wie Sinnlichkeit. Er war ein attraktiver Mann, ein berühmter Poet und – was soll ich sagen - ein Ladykiller, und sie hatte daran teil. Ich wollte ihre Welt nicht beschreiben, sondern erschaffen. Sodass man am Ende, als sie zu mir sagt: 'Sprechen Sie kein Englisch im Treppenhaus!' versteht, warum sie das zu mir gesagt hat. Das Leid, den Terror, die Angst und die Hoffnung. Wahrscheinlich wollte ich nur das: Diese Worte, die mich seitdem verfolgt haben, loswerden. Aber sie verfolgen mich immer noch."

    "Das Stalin-Epigramm" ist eins von Robert Littells stilleren, literarischen Werken. Es wurde in zehn Länder verkauft und bekommt viel wohlwollende Aufmerksamkeit. Doch Littell ist von Kritikern auch schon vorgeworfen worden, pure Heldenverehrung zu betreiben. Dafür hat der amerikanische Schriftsteller mit russisch-jüdischen Wurzeln überhaupt kein Verständnis.

    "Wenn Mandelstam kein Held war, wer denn dann? In einer Zeit des Terrors und der Angst, als die Lüge regierte, sah er die Aufgabe des Dichters darin, die Wahrheit zu sagen. Er hat sein Leben riskiert, als er 1934 das Stalin-Epigramm schrieb, das die Wahrheit aussprach. Er war ein Leuchtfeuer in einer Zeit der Dunkelheit. Wir hier im Westen müssen uns dieser Prüfung nie unterziehen. Selbst unter Bush konnte man sagen, was man wollte, wir werden nicht bestraft. Mandelstam war unglaublich mutig. Und Nadeshda auch."


    Robert Littell: "Das Stalin-Epigramm". Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence. Arche Verlag, 22 Euro