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Wahl zur SPD-Parteichefin
"Nahles ist eine Hoffnungsträgerin"

Andrea Nahles vertrete einen SPD-Flügel, der das linke Profil der Partei schärfen werde, sagte der Politologe Emanuel Richter im Dlf. Er zeigte sich überzeugt, dass die Politikerin am Sonntag zur Vorsitzenden gewählt und unter ihr die SPD auch versuchen werde, sich neu zu positionieren.

Emanuel Richter im Gespräch mit Sandra Schulz | 20.04.2018
    Andrea Nahles (SPD) im September 2017.
    Andrea Nahles (SPD) im September 2017. (imago/photothek)
    Sandra Schulz: Ein Startschuss soll der Parteitag der Sozialdemokraten am Sonntag werden. Ein Startschuss, um Vertrauen zurückzugewinnen. Diesen Wunsch hat SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil jedenfalls heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk geäußert. Wie gesagt, die Umfragewerte der neuen Spitzenfrau in Spe, von Andrea Nahles, die sind mau. Trotzdem rechnet kaum einer damit, dass sie die Mehrheit für ihre neue Spitzenrolle verpassen wird.
    Über die Situation der Sozialdemokraten können wir auch in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon ist Professor Emanuel Richter, Politikwissenschaftler der RWTH in Aachen. Schönen guten Tag!
    Emanuel Richter: Guten Tag, Frau Schulz.
    Schulz: Ist Andrea Nahles jetzt ein neues oder ein altes Gesicht ihrer Partei?
    Richter: Na ja. Das ganz Neue daran ist, dass sie als erste Frau kandidiert und vermutlich auch gewählt wird. Insofern ist das schon große Innovation. Aber wir kennen sie natürlich als Ministerin, als Juso-Vorsitzende. Sie ist ja seit langem in der politischen Szene sehr aktiv, sehr präsent und auch immer wieder polarisierend und provokant in Erscheinung getreten. Das wird sie vermutlich als SPD-Vorsitzende auch tun.
    Schulz: Sie ist die erste Frau. Von vielen hat sie jetzt auch dieses Attribut bekommen als Trümmerfrau. Das finden Sie schon ganz passend?
    Richter: Na ja, das ist natürlich sehr despektierlich und vielleicht im besten Fall ironisch. Aber es ist in der Tat natürlich erschreckend für die Lage der SPD, wenn wir jetzt auch die jüngsten Umfragen uns anschauen. Da wird Nahles eine riesige Bürde aufgeladen. Sie soll gewissermaßen jetzt die SPD aus dem Tief ihrer Wählergunst führen. Und ich würde sagen: Na ja, das ist zu viel verlangt. Eine SPD-Vorsitzende kann da nur Teile dieser Strategie bewältigen. Die anderen Teile müssen von den Ministern, die in der Großen Koalition sind, bewältigt werden. Ich glaube, da liegt auch die größere Aufmerksamkeit eines schwankenden Wählerpotenzials, als jetzt bei dem, was eine Parteivorsitzende tut.
    "Sie ist eine Hoffnungsträgerin"
    Schulz: Es würde ja vielleicht schon reichen, wenn sie als Hoffnungsträgerin gesehen würde, woran viele ja durchaus auch ein Fragezeichen machen. Wie sehen Sie das?
    Richter: Ja, ich glaube schon. Sie ist eine Hoffnungsträgerin insofern, als dass sie einen SPD-Flügel oder eine SPD-Ausrichtung vertritt, die doch das linke Profil der SPD etwas schärfen wird. Und wenn wir uns mal vorstellen, es hätte ja eigentlich auch Martin Schulz bleiben können, und die beiden vergleichen, dann sehen wir ganz deutlich, dass Nahles schon ein linkeres, profilierteres, konturierteres Profil hat als Schulz. Insofern glaube ich schon, dass die SPD auch ein Stück Selbstfindung unter Nahles betreiben wird, und das ist ja nicht nur von ihr abhängig, sondern von der Parteistimmung insgesamt, und die ist insgesamt sehr stark darauf ausgerichtet: Leute, wir müssen jetzt mal was tun, wir müssen uns da irgendwie neu positionieren und unser Profil schärfen.
    Schulz: Wir sehen andererseits auch dieses Image-Problem, das Andrea Nahles ja hat, dass sie vielen als Reizfigur gilt, dass jetzt auch Auftritte wirklich aus der allerjüngsten Vergangenheit, dieser Auftritt mit "Bätschi" und "auf die Fresse", dass das vielen doch unangenehm aufgefallen ist. Wie kommt sie da raus? Wie kommt sie da runter?
    Richter: Ich weiß gar nicht, ob sie da rauskommen will. Das ist natürlich auch ein Stück ihre Art. Insofern spielt das schon auch eine Rolle. Und als man sie zur Kandidatin gekürt hat, war man sich wohl dessen bewusst, dass man gesagt hat: Na ja, da wird jetzt eine, in der Öffentlichkeit eher provokant auftretende Person gewählt. Aber das ist vielleicht kein Schaden, sondern eher ein Stück Aufmerksamkeitswert für die Lage der SPD und für politische Statements. Insofern weiß ich gar nicht, ob das wirklich langfristig ein Hindernis sein wird oder etwas, was die Wählerinnen und Wähler dann gar nicht schätzen.
    "Die Legitimation formal liegt bei mehr als 50 Prozent"
    Schulz: Wieviel Prozent muss sie jetzt schaffen bei der Wahl zur SPD-Vorsitzenden? Welche Marke würden Sie da sehen, damit sie nicht beschädigt aus diesem Sonderparteitag hervorgeht?
    Richter: Na ja. Zunächst einmal würde ich glauben, dass sie eine sichere Mehrheit kriegt. Und wir müssen uns die innovative und wirklich völlig neue Position vor Augen führen, die Situation vor Augen führen, dass jetzt zum ersten Mal auch eine Gegenkandidatur in Erscheinung tritt. Insofern wird sie nicht bei 90 Prozent liegen, schon gar nicht bei 100 Prozent, wie es mit Martin Schulz der Fall gewesen ist, sondern deutlich darunter. Aber ich würde sagen, alles, sagen wir mal, über 60, 65, 70 Prozent wäre schon ein großes Ergebnis. Es gibt ja jetzt auch unabhängig davon, dass es mit Frau Lange eine Gegenkandidatin gibt, generell Widerstand gegen Nahles. Insofern wird sich das schon auch in ein paar Stimmen artikulieren. Von daher rechne ich mit einem mäßigen Ergebnis, aber das finde ich gar nicht so tragisch, denn wir haben eine Alternative mit Frau Lange. Insofern kann man dann sagen: Ja, es wird sich eine vermutlich deutliche Mehrheit herausstellen, und das ist schon genug.
    Schulz: Das heißt, der Maßstab wäre dann ein Wert von vielleicht Oskar Lafontaine aus dem Jahr 95, als er, was die Sozialdemokraten da auch das letzte Mal gesehen haben, auch mit seiner Kampfkandidatur angetreten ist gegen Rudolf Scharping. Das waren damals 62,6 Prozent. Das wäre dann die Marke?
    Richter: Ja, genau. Das würde ich so sehen als ein durchaus, sagen wir mal, akzeptables Ergebnis, was jetzt nicht die SPD wieder in neue Schwierigkeiten stürzt – in dem Sinne, dass man sagen würde, jetzt haben wir eine Vorsitzende, die hat aber gar keine Legitimation. Die Legitimation formal liegt bei mehr als 50 Prozent. Das müssen wir uns auch immer wieder vor Augen halten.
    Schulz: Aber wir sprechen ja inzwischen über eine 20-Prozent-Partei. Da jetzt nicht mal zwei Drittel aller Delegierten hinter sich zu haben, wäre das nicht ein bisschen wenig?
    Richter: Na ja, denken Sie nur daran, dass wir ja seit langem in der SPD eine sehr tiefe Spaltung haben. Das hat sich ja auch bei der Mitgliederbefragung herausgestellt, dass man über den Kurs der SPD sehr zerstritten ist und die Lager eigentlich relativ nah bei der 50-Prozent-Marge sind. Denken wir an den letzten Parteitag, denken wir an die Mitgliederbefragung. Insofern gibt es diese Spaltung. Damit muss die SPD leben. Es wäre eine Illusion zu glauben, jetzt sind plötzlich alle einmütig und stützen alle personellen Entscheidungen, die sich anbahnen, sondern ich glaube, diese Spaltung wird sich fortsetzen.
    Ob das ein Schaden ist für die Partei, weiß ich nicht einmal. Das ist ja immer auch ein Stück Demokratie, dass man sagt, es gibt die Suche nach Mehrheiten und nach Minderheiten, und die muss aneinander vermittelt werden.
    "Die SPD hat die Botschaft begriffen"
    Schulz: Wenn wir jetzt noch mal den Blick wenden auf das Gesamtbild, das die Sozialdemokraten abgeben. Es geht ja auch um Aufbruchsstimmung. Wir haben Andrea Nahles mit diesem Wunsch auch gerade noch mal gehört. Wie ist der Start denn jetzt gelaufen für die Sozialdemokraten? Wir haben jetzt in den ersten Wochen der sogenannten Großen Koalition gesprochen über die Äußerungen von Horst Seehofer, von Jens Spahn. Da ging es um Islam und Hartz IV. War die SPD, waren die Sozialdemokraten da ausreichend erkennbar?
    Richter: Na ja, das war ein bisschen, wenn man so will, ein publizistischer Trick, dass die Mitglieder aus dem Bereich CSU und CDU sich da in den Medien in den Vordergrund gespielt haben und damit das Profil der Sozialdemokraten ein bisschen hinten anstand. Aber ich glaube, das hat man sehr schnell erkannt, und man hat versucht, nachzubessern – Herr Heil zum Beispiel im Bereich von arbeitsmarktpolitischen Großideen und Reformideen. Insofern versucht man jetzt in den einzelnen Ministerien, die von der SPD geführt werden, da doch auch Profil und Profilbildung und Ideen zu erzeugen und zu zeigen, in die Öffentlichkeit zu transportieren. Das war ein bisschen ein misslungener Start, aber ich denke, die SPD hat die Botschaft begriffen und wird sich da schon auch schärfer und pointierter positionieren.
    Schulz: Der Politikwissenschaftler Emanuel Richter von der RWTH Aachen heute hier in den "Informationen am Mittag" im Deutschlandfunk. Ganz herzlichen Dank Ihnen.
    Richter: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.