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Wahlen im Irak
Protestvotum gegen die politische Kaste in Bagdad

Mit dem schiitischen Prediger Muktada al-Sadr hat ein politischer Außenseiter die Parlamentswahl im Irak gewonnen. Er gilt als Volkstribun der schiitischen Unterschicht. Wer der nächste Regierungschef des Landes wird, ist aber noch völlig offen. Auch Bündnisse, die heute unwahrscheinlich scheinen, sind möglich.

Von Carsten Kühntopp | 15.05.2018
    Anhänger von Muktada al-Sadr in Bagdad
    Anhänger von Muktada al-Sadr in Bagdad (AP)
    Es hat die vielleicht ungewöhnlichste Allianz gesiegt, die es jemals im Irak gab: Die gemeinsame Liste des schiitischen Predigers Muktada al-Sadr, der Kommunisten und anderer säkularer Kräfte, also die Verbindung eines Islamisten mit weltlich orientierten Menschen. Zwar sind noch nicht alle Stimmen ausgezählt; aber jetzt kann nichts mehr Sadr die Spitzenposition nehmen. Weniger überraschend: Das Bündnis unter dem proiranischen Milizenführer Hadi al-Amiri liegt auf Platz zwei. Ministerpräsident Haider al-Abadi, Favorit des Westens, landet mit seiner Liste wohl nur auf dem dritten Rang.
    Iran hat Widerstand schon angekündigt
    Vielleicht am besten lässt sich das als Protestvotum erklären gegen die politische Kaste in Bagdad; sie hat sich aus Sicht vieler Menschen den Staat zur Beute gemacht und erhielt dafür nun die Quittung. Muktada al-Sadr ist ein Außenseiter, der Volkstribun der schiitischen Unterschicht, und er hat sich als irakischer Nationalist einen Namen gemacht. Er fordert den Abzug aller ausländischen Soldaten, auch der iranischen. Ähnlich wie Regierungschef Abadi will auch Sadr sein Land nicht zu einem Vasall des großen Nachbarn Iran werden lassen. Der Politologe Issam al-Faili von der Mustansirija-Universität in Bagdad rät zu einem außenpolitischen Kurs des Abstands zu allen Regionalmächten:
    "Das neue Parlament muss begreifen, dass der Irak nicht Teil irgendeiner regionalen Achse sein kann. Denn das Land darf keine Arena werden, in der regionale und internationale Konflikte ausgetragen werden."
    Ein natürlicher Verbündeter von Sadr bei der Regierungsbildung könnte der amtierende Ministerpräsident Abadi sein, der sich geschickt um regionale Neutralität bemüht hat. Allerdings kündigte der Iran bereits Widerstand an. Bereits vor der Wahl hieß es aus Teheran, man werde verhindern, dass Sadrs Liste eine Regierung bildet. Als Wunschkandidaten der Iraner galten Hadi al-Amiri und der Ex-Ministerpräsident Nuri al-Maliki. Amiris Liste ist ein Vehikel für schiitische Milizionäre und diverse andere Freunde des Iran. Für viele Iraker ist Amiri wegen seiner führenden Rolle beim Kampf gegen den IS ein Kriegsheld.
    Nächster Regierungschef noch unklar
    Die Bemühungen sunnitischer Politiker, ihr Lager zu mobilisieren, waren überraschenderweise recht erfolgreich. Der Politologe Issam al-Faili:
    "Bei dieser Wahl gab es in den Gebieten, wo sich die Menschen früher weigerten, am politischen Prozess teilzunehmen, die höchsten Beteiligungsraten. In Mosul waren es 60 Prozent. In schiitischen Gebieten hingegen, vor allem im Süden, war die Beteiligung viel geringer."
    Das könnte zeigen, dass viele Sunniten nach der Zerschlagung des IS jetzt eine echte Chance sehen, den Weg des Landes in die Zukunft mitzugestalten. Wer der nächste Ministerpräsident wird, ist erst am Ende der Koalitionsverhandlungen klar. Muktada al-Sadr wird er keinesfalls heißen, denn der Prediger trat selbst gar nicht an und kann deshalb auch nicht Regierungschef werden. Bereits nach den drei vorherigen Parlamentswahlen hatte jeweils nicht der Spitzenkandidat der stärksten Liste den Top-Job bekommen, sondern ein Außenseiter. Diesmal könnte es genauso sein. Die irakischen Politiker sind ideologisch flexibel, und auch Bündnisse, die heute unwahrscheinlich aussehen, sind möglich. Jede Spekulation über den künftigen Kurs des Landes ist deshalb zu diesem Zeitpunkt eigentlich müßig.