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Wahlen in der Türkei
Künstler und Intellektuelle zeigen sich gelassen

In der Türkei haben am Sonntag vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattgefunden. Obwohl Kulturschaffende inhaftiert sind oder unter Hausarrest stehen, sieht Kunstkritiker Ingo Arend positive Zeichen: Es gäbe keinen großen Exodus oder gar Selbstzensur.

Von Ingo Arend | 24.06.2018
    Spaziergänger unter einem Wahlplakat des Präsidentschaftskandidaten Muharrem Ince im Künstlerviertel Beyoglu, Istanbul, Juni 2018
    Spaziergänger unter einem Wahlplakat des Präsidentschaftskandidaten Muharrem Ince im Künstlerviertel Beyoglu, Istanbul (AFP / Bulent KILIC)
    236 Tage. Seit fast acht Monaten sitzt Osman Kavala heute im Knast. Am 18. Oktober letzten Jahres wurde der Istanbuler Kunstmäzen verhaftet. Seitdem sitzt er im berüchtigten Gefängnis von Silivri. Bis heute gibt es keine Anklageschrift gegen den sanftmütigen Philanthropen und Vorsitzenden der Stiftung Anadolu Kültür.
    Kavala, Spitzname: Der Rote Millionär, ist einer der Industriellen, ohne die es in der Türkei keine Kunstszene gäbe. Am Fuße des malerischen Galata-Turms in Istanbul unterhält er ein Zentrum für Kunst, Menschenrechte und gegen Zensur.
    Seine Inhaftierung war ein Warnzeichen des Erdoğan-Regimes an die Allianz aus kritischer Kunst und liberaler Bourgeoisie: Bislang haben wir Euch gewähren lassen. Aber treibt es nicht zu weit! - das war die Botschaft.
    Kaum eine Spur von Depression
    Schon zuvor hatte die Regierung die Daumenschrauben angezogen: Bei einem Friedensmarsch im kurdischen Südosten war die Künstlerin Pinar Öğrenci verhaftet worden. Und die kurdische Malerin Zehra Doğan wanderte zwei Jahre ins Gefängnis, weil sie über Fotografien der von der Armee zerstörten Häuser in Kurdistan die türkische Flagge gemalt hatte.
    Grund genug zur Furcht hätte die Istanbuler Kunstszene also. Umso erstaunter lässt sich beobachten, wie gelassen sie kurz vor der historischen Wahl weiter ihre Pläne verfolgt. Von Depression, vom großen Exodus, gar Selbstzensur findet sich kaum eine Spur.
    Im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu wurde das vor zwei Jahren unter mysteriösen Umständen geschlossene Kunsthaus Salt wieder eröffnet. Der freitägliche Galerien-Rundgang ist frequentiert wie eh und je.
    Im Oktober nächsten Jahres will der milliardenschwere Unternehmer-Clan der Koçs sein neues Privatmuseum eröffnen. Selbst im kurdischen Diyarbakir haben ein paar Aktivisten einen Kunstraum namens "Loading" eröffnet.
    Jüngere sehen sich als Global Player
    Der Hype der 2000er-Jahre, als die Welt "Cool Istanbul" entdeckte, ist zwar vorbei. Doch in sich zusammenfallen wird die türkische Kunstszene nach den Wahlen ganz bestimmt nicht. Selbst wenn einige Künstler inzwischen nach Berlin gezogen sind.
    Ein Zurück zu den Neunziger Jahren wird es allerdings auch nicht geben. Damals war die Kunst in der Türkei das Labor für ein weltoffenes, multikulturelles Land jenseits der Zwangsjacken von Kemalismus und Islamismus.
    Jüngere Künstler- und Kurator*Innen heute verstehen sich eher als Global Player, vernetzen sich, verfolgen internationale Karrieren. Eine Heimatfront des Widerstands werden sie nicht errichten, sollte die Repression anhalten. Doch Macht und Herrschaft in der Türkei werden sie weiter kritisch auf’s Korn nehmen.
    Ästhetik des Widerstands
    1974, vier Jahre nach dem zweiten Militärputsch, persiflierte die türkische Malerlegende Mehmet Güleryüz die Zustände in seinem Land mit der Skulptur eines Affen, der in einen Holzkäfig gepfercht ist. 2013 stieg der türkische Politkünstler Halil Altındere mit seinem Video "Wonderland" zu Weltruhm auf, in dem am Ende ein Polizist in Flammen aufgeht. Die Ästhetik des Widerstands war und ist die DNA der repressionsgeprüften Kunst in der Türkei.
    Und die plötzliche Einigkeit der Opposition in diesem Wahlkampf hat das Klima im Land schon jetzt geändert. Dieser anschwellende Wunsch nach einem Wandel wird auch die Kunst in der Türkei neu beflügeln. Ganz gleich, wer an diesem Abend die Wahlen gewinnt.