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Wahlforscher: Systematische Bevorzugung der großen Parteien künftig verhindern

Das vom Bundesverfassungsgericht gekippte Bundestagswahlrecht könnte so geändert werden, dass der Anteil der direkt gewählten Abgeordneten gesenkt werde, sagt Joachim Behnke. Das sei nur eine Möglichkeit von vielen, wichtig sei, dass Überhangmandate nicht mehr Mehrheitsverhältnisse beeinflussen könnten, so der Wahlforscher.

Silvia Engels im Gespräch mit Joachim Behnke | 25.07.2012
    Silvia Engels: Es gibt wohl wieder mal reichlich Arbeit für die Parlamentarier in Berlin. Das Bundesverfassungsgericht ist nämlich nicht zufrieden mit deren Arbeit, genau gesagt mit der Wahlrechtsreform, die Union und FDP auf den Weg gebracht hatten. Damit hatten ja eigentlich Ungerechtigkeiten im derzeitigen Wahlsystem beseitigt werden sollen. Im Einzelfall führen die nämlich dazu, dass nicht jede Wählerstimme gleich stark berücksichtigt wird. Doch Karlsruhe hat das neue Konzept von Schwarz-Gelb auch wieder verworfen und verlangt Änderungen bis zur nächsten Bundestagswahl.
    Am Telefon begrüße ich nun Professor Joachim Behnke, er ist Politikwissenschaftler und Wahlrechtsforscher an der Universität Friedrichshafen. Guten Tag, Herr Professor Behnke.

    Joachim Behnke: Guten Tag!

    Engels: Ist der Karlsruher Spruch nun das, was man ein komplett vernichtendes Urteil nennt?

    Behnke: Also ich vermute mal, das kommt dem zumindest ziemlich nahe. Es ist ja eigentlich nichts übrig geblieben von dem Entwurf oder von dem neuen Gesetz, was dort eine Änderung gegenüber dem alten Gesetz war. Das heißt, alles, was versucht worden ist, das Gesetz zu ändern oder zu verbessern, ist im Prinzip auf Ablehnung gestoßen.

    Engels: Dann fangen wir mit einem Punkt an, der ja immer in der Diskussion ist: die Überhangmandate. Bei der Bundestagswahl hat jeder Wähler zwei Stimmen: Die erste Stimme bestimmt den Wahlkreiskandidaten, die zweite entscheidet über den Stimmanteil der Parteien im Parlament. Und Überhangmandate gibt es immer dann, wenn eine Partei mit der ersten Stimme mehr Mandate bekommt, als ihr laut Zweitstimmenanteil eigentlich zustehen. Nun verlangt Karlsruhe einen Ausgleich und wird da ja sehr konkret. 15 Überhangmandate sollen die Grenze sein. Wie ordnen Sie das ein?

    Behnke: Na ja, es zeigt auf jeden Fall, dass das Verfassungsgericht ganz klar macht, dass die Überhangmandate eben selber nicht mehr in der Lage sein dürfen, die Mehrheitsverhältnisse oder die groben Verteilungsverhältnisse der Stimmen und der Sitze zu beeinflussen oder wesentlich zu verändern. Diese Obergrenze, darüber kann man streiten, im Endeffekt, vermute ich mal, wird die von relativ geringer Relevanz sein, weil man wird hier eine Regelung finden müssen, die dann sozusagen für den Fall gilt, dass es mehr als 15 Überhangmandate gibt, und dann wird man natürlich wahrscheinlich eine Regelung finden, die die Überhangmandate grundsätzlich neutralisiert oder ausgleicht oder wie auch immer damit umgeht. Und insofern heißt es einfach: Die Konsequenz aus diesem Urteil wird sein, dass die Überhangmandate, denke ich, in Zukunft so nicht mehr bestehen werden, zumindest nicht mehr einen Einfluss auf die Verteilung der Sitze haben werden.

    Engels: Nun könnte ja ein Modell aus Nordrhein-Westfalen Schule machen. Nehmen wir mal an, es gibt da 15 Überhangmandate oder mehr als das im Bundestag, im nächsten, dann wäre es zumindest die Übertragung von der Landtagsregelung auf die Bundestagsebene, wenn die anderen Parteien, die keine Überhangmandate bekommen haben, diese Mandate quasi nachbesetzen dürfen als Ausgleichsmandate, damit nachher die Wirkung der Mehrheitsverhältnisse wieder so ist, wie es mal vorgesehen war. Denken Sie, darauf wird es hinauslaufen?

    Behnke: Das wäre zumindest die Lösung, die möglicherweise jetzt in der Eile der Zeit, die ja geboten ist - es sind ja nur wenige Monate, die man jetzt Zeit hat, ein neues Gesetz zu verabschieden -, am leichtesten umzusetzen wäre. Das ist auch die übliche Art und Weise, wie man mit Überhangmandaten umgeht. Das heißt, in sämtlichen Landtagen oder Landeswahlgesetzen werden ja Überhangmandate durch Ausgleichsmandate ausgeglichen. Nur auf der Bundestagsebene bisher nicht. Das kann man wie gesagt jetzt relativ schnell und einfach durchführen. Das würde aber natürlich grundsätzlich zu einer Aufblähung des Bundestages führen, und das heißt, wir hätten dann relativ bald mal auch Verhältnisse, in denen es 70, 80, 90 Sitze zusätzlich geben könnte plus Ausgleichsmandate, und insofern muss man natürlich langfristig über andere Lösungen nachdenken, die die Überhangmandate von vornherein in einem geringeren Ausmaß entstehen lassen. Aber als erste Übergangsregelung wären die Ausgleichsmandate sicherlich wahrscheinlich das Naheliegendste.

    Engels: Was fällt Ihnen denn ein, damit die Parlamente nicht aufgebläht werden? Die SPD hat ja wohl offenbar vorgeschlagen, parallel die Zahl der Wahlkreise zu verkleinern: Also es gibt grundsätzlich weniger Abgeordnete. Ist das der Weg?

    Behnke: Nein, nicht grundsätzlich weniger Abgeordnete, sondern direkt gewählte Abgeordnete. Das heißt, wir haben im Augenblick ja 299 direkt gewählte Abgeordnete in den Wahlkreisen und 299 durch die Listenmandate reingekommene Abgeordnete. Die Lösung würde dann darin bestehen, dass wir den Anteil der direkt gewählten Abgeordneten von der Hälfte auf zum Beispiel 40 oder 35 Prozent senken, also statt 299 wären das dann vielleicht 200 oder 230, und damit würden von vornherein weniger Überhangmandate entstehen. Eine andere Möglichkeit wäre auch, dass wir die Wahlkreise zusammenlegen, das heißt, dass wir eben Zweipersonenwahlkreise schaffen, und dass in den Wahlkreisen eben nicht die eine Person, die die meisten Stimmen erhalten hat, sondern die zwei Personen, die die meisten Stimmen erhalten haben, gewählt würden. Auch damit würden die Überhangmandate vermutlich so gut wie nicht existent werden.

    Engels: Angesichts dieser sehr komplizierten Materie kann man sich ja auch fragen, warum überhaupt zwei Stimmen. Täte es da nicht eine Stimme, auch Verhältniswahlrecht und die Relation, in der dann die Parteien gewählt werden, die ist dann entscheidend?

    Behnke: Man könnte natürlich ein reines Verhältniswahlrecht einführen, mit reiner Listenwahl. Das wäre natürlich die weitestgehende Reaktion darauf. Das würde natürlich dieses personalisierte Element der Wahl weitgehend außer Kraft setzen, und da haben wir natürlich eine Tradition, in der wir das eigentlich doch immer als ein sehr erfolgreiches Element gesehen haben. Und man muss es ja nicht abschaffen, man kann ja wie gesagt andere Lösungen finden, bei denen das personalisierte Walelement beibehalten wird und gleichzeitig die Verteilung, die proportionale Verteilung gewährleistet ist, und diese Vorschläge existieren ja auch schon seit längerer Zeit. Es gäbe ja auch noch weiter die Möglichkeit, wie es bei dem Grünen-Entwurf drin ist und auch bei der Linken, dass man zum Beispiel die Überhangmandate verrechnet mit Listenmandaten der Parteien in den anderen Bundesländern. Auch das würde ja gehen. Das heißt, es gibt mehrere Vorschläge, die das personalisierte Verhältniswahlrecht aufrecht erhalten in der jetzigen Form, und ich denke, es liegt nahe, eher einen dieser Vorschläge dann aufzugreifen.

    Engels: Dann schauen wir noch mal in die politische Praxis. Es muss jetzt schnell gehen. Sie haben gerade einen Vorschlag von den Grünen noch mal zusammengefasst. Nun erleben wir aber, dass es ja bis jetzt immer die großen Parteien sind, die von Überhangmandaten profitieren. Muss man dann, egal wie sie gestrickt ist, von der neuen Reform nicht auch erwarten, dass die großen Parteien, also SPD und Union, bei diesem Thema eine Lösung entwickeln werden, die ihre Vorteile eben nicht beschneidet, die Privilegien gegen die kleinen zu erhalten?

    Behnke: Na ja, diese Schlappe, die die Union vor allem ja natürlich erhalten hat mit dem jetzigen Wahlgesetz, das ist natürlich auch schon eine sehr, sehr deutliche Kritik daran, dass die Parteien ja versucht haben, sich damit diese Vorteile zu erhalten. Insofern denke ich, sie wären sehr, sehr schlecht beraten, jetzt wieder ein Wahlgesetz vorzuschlagen oder ausarbeiten zu wollen, bei dem diese Vorteile aufrecht erhalten werden. Und die andere große Partei, die SPD, die natürlich ansonsten grundsätzlich Profiteur von Überhangmandaten sein könnte, die kann ja jetzt nicht hinter diese Positionen zurück, die sie bei diesem Gerichtsstreit selber vertreten hat. Insofern spricht natürlich einiges dafür, dass man hier jetzt eine Einigung finden wird, die tatsächlich eine systematische Bevorzugung der großen Parteien in Zukunft verhindert.

    Engels: Also Ausgleichsmandate könnten hier eine schnelle Lösung sein. - Schauen wir ohnehin auf den Zeitplan, denn die Richter mahnen ja an, 2013, zur nächsten Bundestagswahl, muss ein neues Wahlgesetz stehen. Ist das überhaupt realistischerweise denkbar, dort eine verfassungsfeste Lösung bis dahin hinzubekommen, oder stehen wir am Ende ohne Wahlrecht da?

    Behnke: Ohne Wahlrecht werden wir mit Sicherheit nicht dastehen. Ich vermute mal, dass das Verfassungsgericht im Zweifelsfall dann einfach selber eingreifen würde. Es ist natürlich aber auch kein Problem, so ein Gesetz relativ schnell zu verabschieden. Wie gesagt, die Vorschläge existieren ja, die sind ja da, sie werden seit Jahren diskutiert. Im Grunde gibt es diese Gesetzentwürfe, die liegen in Schubladen, die müssten einfach nur eingebracht werden und könnten ja dann innerhalb kürzester Zeit auch verabschiedet werden. Insofern gibt es eigentlich keinen Grund, warum hier so lange noch mal diskutiert werden soll. Das Verfassungsgericht hat ja auch deutlich bemängelt, dass diese letzten drei Jahre Beratungszeit, die dem Bundestag gegeben worden sind, nicht unbedingt würdig zu einer Verbesserung der Vorschläge geführt haben, sondern ganz im Gegenteil, dass ein ganz, ganz schlechter und letztendlich furchtbar verunglimpfter Vorschlag dabei herauskam. Insofern spricht nichts dagegen, das auch schneller und zügiger abzuwickeln.

    Engels: Die Richter haben ja auch angemahnt, es müsse verständlicher sein, das neue Wahlrecht. Haben Sie denn Hoffnung, dass so etwas herauskommen kann?

    Behnke: Ich glaube, dass kein Wahlgesetz der Welt wirklich in den Konsequenzen von allen Bürgern und Wählern verstanden wird. Ich halte es allerdings auch nicht für problematisch, solange die Bürger darauf vertrauen können, dass das Wahlgesetz in einer Weise wirkt, die ihren Intentionen, also ihren Absichten, die sie bei der Stimmabgabe verwirklichen wollen, auch entgegenkommt. Man darf es aber natürlich auch nicht übertreiben. Das Wahlgesetz sollte dann zumindest für normal intelligente Leute, die sich damit auseinandersetzen und es sorgfältig durchlesen, so verständlich geschrieben sein, dass die sich dann einen Reim darauf machen können, wie die Stimmen in Sitze umgesetzt werden, und da muss man natürlich sagen, das jetzige Wahlgesetz ist unglaublich unverständlich. Selbst Experten konnten eigentlich nur erraten, was damit gemeint war, und es gibt, glaube ich, keinen Menschen, der auf Anhieb verstehen würde, wie diese Sitze berechnet werden sollen nach dem neuen Wahlgesetz. Es ist mit Abstand das unverständlichste und am wenigsten klare Wahlgesetz, das wir jemals hatten.

    Engels: Also schlimmer kann es nicht werden. - Das Bundesverfassungsgericht hat jedenfalls das aktuelle Wahlgesetz von Schwarz-Gelb als verfassungswidrig gebrandmarkt und verlangt eine Neuauflage. Wir haben darüber gesprochen mit Professor Joachim Behnke, Politikwissenschaftler an der Universität Friedrichshafen. Vielen Dank.

    Behnke: Bitte!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.