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Wahlkampf in Toulouse

Die Mordserie in Toulouse erschütterte ganz Frankreich. Sie traf die Nation mitten im Wahlkampf und lieferte der Rechtspopulistin Marine Le Pen neue Munition. Auch Nicolas Sarkozy, der um die Stimmen des Front National kämpft, ritt auf dieser Welle. Eine gefährliche Entwicklung, denn sie treibt die Spaltung der französischen Gesellschaft voran.

Von Birgit Kaspar | 02.05.2012
    Vögel zwitschern in der Frühlingssonne. In der Rue du Sergent-Vigné in Toulouse erinnert äußerlich wenig an die blutige Überwältigung des islamistischen Attentäters Mohamed Merah vor sechs Wochen. Nur die Fenster seiner Wohnung in der Hausnummer 17 sind mit Holzpaneelen vernagelt. Frederique, Nachbarin und Mutter eines Dreijährigen, macht sich keine Sorgen:

    "Das Leben hier ist unverändert. Man ist niemals vor allem geschützt. Nur weil Mohamed Merah hier wohnte, ist dies doch kein gefährliches Viertel."

    Sie räumt ein, dass nicht alle in der Straße so denken. Einige litten heute noch unter Schlafstörungen. Sie wollten nicht mehr über die traumatischen Erlebnisse im März sprechen, nur noch vergessen.

    Das Mittagsgebet in der El-Hocein-Moschee ist zu Ende. Männer in langen Dschelabas, teilweise mit üppigen Bärten, wie sie erzkonservative Muslime tragen, unterhalten sich entspannt vor dem großen Container, der als Moschee dient. Im Toulouser Problemstadtteil Mirail mit einer Arbeitslosigkeit von über 40 Prozent leben viele Muslime maghrebinischer Herkunft, auch Merahs Mutter. Der Imam Mamdou Daffé ist nachdenklich. Seit der Affaire Merah fühlten sich die Muslime in Toulouse unter Generalverdacht, die Islamophobie habe einen neuen Höhepunkt erreicht, erklärt Daffé.

    "Die Leute hier tragen deswegen einen großen Hass im Herzen, sie sind davon überzeugt, dass niemand sie mag, dass sie vernachlässigt werden, dass es einen starken Rassismus gibt. Vor allem die Jugendlichen fühlen sich ungerecht behandelt."

    Sie seien aufgebracht, manche gewaltbereit. Der Imam und Biologieprofessor aus Mali, der seit 37 Jahren in Frankreich lebt und als moderat gilt, kritisiert, der Wahlkampf mit seinen Muslim- und Immigranten-feindlichen Parolen verschlimmere die Lage.

    Einige Politiker seien auf dieser Welle geritten nur um ein paar mehr Stimmen zusammenzukratzen, so Daffé. Darunter Nicolas Sarkozy, der jetzt von den Muslimen fordere, sich zu entscheiden, ob sie Franzose oder Moslem sein wollten. Völlig absurd, meint Daffe, er selbst sei Franzose und Moslem.

    "Entweder lernen wir uns gegenseitig besser kennen und respektieren und wir leben zusammen oder es kommt zur Explosion. Letzteres befürchte ich. Denn die, die heute im Wahlkampf Öl aufs Feuer gießen, sind sich der Konsequenzen nicht bewusst."

    Auch Nicole Yardeni, Präsidentin des Crif, des Rates der jüdischen Institutionen in der Region Midi-Pyrenees, warnt vor einer weiteren Spaltung der Gesellschaft.

    Die französische Gesellschaft mache ihr mehr Sorgen als die Juden. Antisemitismus sei immer nur ein Symptom, aber nicht die Krankheit, betont die Zahnärztin Yardeni. Das Kernproblem: Niemand wisse mehr, was eigentlich heute einen Franzosen ausmache. Viele Menschen litten unter Identitätsverlust, hätten Angst. Die innere Leere öffne sie für radikale Ideen, sei es Islamismus oder Rechtsradikalismus. Aber Muslime seien nicht grundsätzlich schlechte Franzosen, sagt Yardeni.

    "Mit Religion hat das nichts zu tun. Man kann Muslim und Franzose sein, genauso wie Jude oder Christ und Franzose. Nur, die politische Klasse kann ja nicht mehr erklären, was Franzose sein bedeutet. Sie führen Krieg gegen geschächtetes Fleisch, gegen große Finanziers, gegen alles und jedes – aber was wollen sie denn verteidigen? Welches gesellschaftliche Modell?"

    Keiner der Präsidenten-Kandidaten gebe eine klare Antwort auf diese Fragen.