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Wahn und Politik

Zu ihrem Schreiben vom 17.1.1942 über privilegierte Mischehen teile ich ihnen mit, dass sich die Bevölkerung sehr darüber erregt hat, dass die hiesige Arztfrau – Volljüdin - keinen Judenstern zu tragen braucht. Die Jüdin nutzt dieses sehr aus, indem sie oft mit der Bahn zweiter Klasse nach Kassel fährt und ohne den Stern ungestört reisen kann. Wenn in dieser Angelegenheit eine Abhilfe geschaffen werden könnte, würde dies von der ganzen Bevölkerung sehr begrüßt.

Tobias Lehmkuhl | 19.12.2003
    Dies schreibt der Bürgermeister des Ortes Immenhausen bei Kassel. Die hiesige Arztfrau, die er bei ihren Bahnfahrten gerne gestört wissen möchte, heißt Lilli Jahn. Auch sie ist Ärztin, kann als Jüdin aber ihren Beruf nicht ausüben. 1926 hatte sie Ernst Jahn geheiratet und von Beginn an stand die Ehe unter keinem guten Stern, denn Lillis Eltern waren skeptisch, was das Gelingen einer Mischehe angeht. Als sieben Jahre später die Machtübergabe stattfand, dauerte es nicht mehr lange, bis die Familie erste Schikanen erfuhr. 1944 schließlich starb Lilli Jahn in Auschwitz; den Bürgermeister Immenhausens wird es gefreut haben, dass sie endlich, wie er es sich gewünscht hatte, "verschwunden" war.

    Martin Doerry, ein Enkel Lilli Jahns, hat die Geschichte seiner Großmutter aus vielen Erzählungen und den noch zahlreicheren Briefen, die zwischen Lilli und ihrer Familie wechselten, rekonstruiert und daraus ein Buch gemacht. Es ist jetzt als Hörbuch erschienen und Doerry selbst spricht darauf den Text, der die Zusammenhänge zwischen den Briefen herstellt und den historischen Hintergrund erläutert. In einem sachlichen, aber nicht kalten Ton, immer knapp, aber nie verkürzend präsentiert er Zeugnisse eines Schicksals, das exemplarisch für Millionen andere steht.

    Als sich Ernst 1942 von Lilli scheiden lässt, ist ihr der letzte Schutz genommen. Sie wird im Arbeitslager Breitenau interniert. Briefe stellen von nun an ihren einzigen Kontakt zur Außenwelt dar. Vor allem drücken sie die Sorge um ihre Kinder aus und Lillis Sehnsucht, sie wiederzusehen. Die Kinder wiederum berichten vom Alltag im Krieg.

    Der Reiz dieser Briefe ist nicht literarischer Art. Tatsächlich wissen die Jahns ihre Gefühle kaum anders als in feststehenden Wendungen auszudrücken. Doch die Aneinanderreihung von Floskeln erreicht irgendwann ein Maß an Eindringlichkeit, das das Leid der Entbehrung deutlich werden lässt. Es zeigt auch, dass die Briefe das letzte bisschen Halt sind, das der Familie bleibt.

    Ich grüße Euch alle sechs tausendmal und umarme und küsse Euch innigst, dankbar, zärtlich und voller Liebe und Sehnsucht. Eure Mutti.

    Lilli Jahn wird von der Schauspielerin Sunnyi Melles gesprochen. Ihre leidvolle und gequälte Stimme mag man unter diesen Umständen für angemessen halten. Zuweilen gewinnt allerdings eine Weinerlichkeit und Piepsigkeit die Oberhand, die zu der gebildeten und starken Frau nicht recht zu passen scheint. Ganz anders Beate Jensen, die die Briefe Lillis ältester Tochter Ilse liest. Ihre Stimme ist hell und klar und auf eine Weise unverstellt, dass man glaubt, tatsächlich ein 14jähriges Mädchen zu hören, das wacker die Familienführung übernommen hat.

    Immer wieder fragt man sich, so auch auf "Mein verwundetes Herz", wie es zum Holocaust hatte kommen können. Auf einem anderen Hörbuch, Katherine Mansfields "In einer deutschen Pension", glaubt man, der Antwort ein Stück näher zu kommen. Mansfield schrieb diese Erzählungen Anfang der 20er Jahre, als sie in Bayern eine Kur machte. Die Menschen, denen sie dort begegnete, dienten ihr für eine Typologie der Deutschen, und ihre Schilderungen verraten überraschend viel über den Zustand der deutschen Gesellschaft kurz vor 1933. Ein kurzes Gespräch zwischen der Erzählerin und einem Kurgast ist da symptomatisch:

    "Stimmt es", fragte die Witwe und stocherte, während sie sprach, mit einer Haarnadel in den Zähnen, "dass sie Vegetarierin sind?" "Ja, ich habe seit drei Jahren kein Fleisch mehr gegessen." "Unmöglich! Haben sie Kinder?" "Nein." "Da haben wir’s. Dahin kommt es nämlich mit ihnen. Es ist unmöglich Kinder zu bekommen, wenn man nur Gemüse ißt. Aber sie haben ja ohnehin jetzt keinen Kinderreichtum in England. Vermutlich haben sie zuviel mit ihrem Frauenstimmrecht zu tun."

    Bornierte Menschen voller Vorurteile bevölkern Mansfields Geschichten, Dummschwätzer, die meinen, die Weisheit mit Löffeln gegessen zu haben, Leute voller Standesdünkel, Besserwisser und Wendehälse. Trotz verlorenem Erstem Weltkrieg scheinen die Kurgäste vor allem an einem zu leiden: an unendlicher Selbstzufriedenheit.

    Nina Hoss liest das vortrefflich. Temporeich und höchst lebhaft bringt sie diese im Grunde sehr bedenkliche Gesellschaftsanalyse zu Gehör. Trotz der häufigen Dialoge verliert man nie den Überblick, denn ihr Vortrag ist auf eine Weise mitreißend, dass es immer einleuchtet, wer gerade spricht.

    Ob Mann oder Frau, die bürgerliche Gesellschaft, die sich "In einer deutschen Pension" trifft, ist überzeugt davon, dass alles so sein sollte, wie es ist und möglichst auch so bleiben soll. Alte Strukturen dürfen nicht in Frage gestellt werden, und schon gar nicht die Vorherrschaft des starken Geschlechts.

    Jede Ehefrau sollte von dem Gefühl beseelt ein, dass sie an die Seite ihres Mannes gehört.

    Nichts wirkt bei Mansfield überzeichnet. Zwar sind ihre Erzählungen voll feiner Ironie, was sie aber beschreibt, bildete in vielen Fällen den Keim, dem kurze Zeit später der Nationalsozialismus so dunkel entspross. Das Bild der Frau etwa, die sich allein über ihren Mann definiert, diente schließlich, zum Mutterkult verzerrt, dem Machterhalt der Männerclique um Hitler und Goebbels.

    Hoffentlich übersteigt es ihr Begriffsvermögen nicht? Ich vergesse es leicht, weil ich so selten Zeit oder Gelegenheit habe, meine Gedanken vor einer Frau zu äußern.

    So beleidigend und unverschämt solche Sätze auch sind, die augenzwinkernde Nonchalance, mit der Nina Hoss sie vorträgt, lässt doch ahnen, dass noch mehr dahinter steckt. Eine Taktlosigkeit nämlich, die alle Wurzeln zur Zivilisation und Kultur gekappt hat und schließlich in Barbarei endet.

    Marin Doerry
    Mein verwundetes Herz. Das Leben der Lilli Jahn 1900-1944
    Gelesen von Martin Doerry, Sunnyi Melles, Beate Jensen u.a.
    Der Audio Verlag, 2 CD, 152 Minuten, 19,95 Euro

    Katherine Mansfield
    In einer deutschen Pension
    Gelesen von Nina Hoss
    Solo Hörbuch, 1 CD, 74 Minuten, 16,90 Euro