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Wahrnehmung von Alarmsignalen
Warum Schreie durch Mark und Bein gehen

Schreie gelten als primitive Form der Sprache, kommen sie doch in allen menschlichen Gesellschaften vor, zudem bei vielen Tieren. Sie alle schreien, wenn sie sich fürchten, freuen oder Schmerzen erleiden. Weshalb unsere Ohren Schreie sofort als Warnsignal wahrnehmen, war bisher unklar. Ein internationales Team aus Neurowissenschaftlern präsentiert jetzt neue Erkenntnisse.

Von Michael Stang | 17.07.2015
    Eine schreiende junge Frau.
    Schreie sind wichtig für das Überleben, weil man bei Gefahr um Hilfe rufen oder andere vor etwas warnen kann. (picture alliance / CTK)
    Einspieler: "Oh my god, help me!"
    Schreie können Vieles ausdrücken. Nicht nur Freude oder Schmerz:
    Sondern auch Angst oder sie werden dazu genutzt, um Freunde im Wald zu begrüßen.
    Schreie sind wichtig für das Überleben, weil man bei Gefahr um Hilfe rufen oder andere vor etwas warnen kann. Sie gelten als eine Urform der Sprache, zumal sie angeboren sind und im Gegensatz zur Sprache nicht gelernt werden müssen.
    "Ich habe mich zum ersten Mal für Schreie interessiert, als mir ein Freund erzählte, dass die Schreie seines neugeborenen Kindes ihn förmlich verrückt machen würden, weil sie so intensiv sind. Da habe ich mich gefragt, weshalb Schreie so effiziente Alarmsignale sind."
    Schreie sind lauter und höher
    Sagt Luc Arnal von der Universität Genf in der Schweiz. Beim Sprechen modulieren Menschen ihre Laute mit einer Frequenz von etwa vier bis fünf Hertz.
    Bei Schreien hatte das bisher niemand untersucht. Klar war nur, dass sie lauter und meist höher sind als die gesprochen Worte. Was aber ist das genaue Geheimnis der Schreie? Der Neurowissenschaftler hatte in der wissenschaftlichen Literatur vergeblich nach Antworten gesucht. Also schritt er selbst zur Tat - am Computer und im Labor.
    "Ich habe zunächst Schreie von YouTube-Videos und Horrorfilmen genommen, zudem habe ich im Labor selbst einige Kollegen schreien lassen. Bei der Analyse der Schallwellen sahen wir, dass die Schreie alle immer ein typisches Merkmal aufweisen, das wir Rauigkeit nennen. Und dieses tritt in einem Frequenzbereich zwischen 30 und 150 Hertz auf."
    An die Stimmproben zu kommen, war einfach, sagt Luc Arnal. Es sei überhaupt kein Problem gewesen, seine Kollegen zum Schreien zu überreden:
    Alarmsignale nicht verfehlt
    Er ließ Kolleginnen schreien, zudem Freunde und Mitarbeiter. Bei der Analyse sahen Luc Arnal und seine Kollegen aus den USA und Deutschland, dass die charakteristische Rauigkeit stets vorhanden war. Schreie besetzen also eine spezielle akustische Nische.
    "Wir haben dann geschaut, was es noch für akustische Signale gibt und in welchem Frequenzbereich sie liegen. Wir haben uns Gesänge, Vorträge und so weiter angeschaut, auch in verschiedenen Sprachen, aber ausschließlich Schreie zeigen diese Rauigkeit. Die einzige Ausnahme sind Alarmsignale wie Sirenen, Alarmanlagen und Hupen - die liegen auch in diesem Bereich."
    Die Alarmsignale ertönen in derselben Rauigkeit wie menschliche Schreie. Die Rauigkeit entsteht, wenn Geräusche eine zeitliche Struktur durch die Änderung der Amplitude oder der Frequenz erhalten. Erfolgen diese Modulationen sehr schnell, kann das menschliche Gehör die Veränderungen nicht auflösen. Dann empfindet der Hörer das Geräusch als unangenehm, also alarmierend. Um zu klären, was dabei im Gehirn passiert, haben die Forscher bei Freiwilligen, denen sie verschiedene Schreie und Geräusche vorspielten, die Hirnaktivität gemessen - mithilfe eines funktionellen Magnetresonanztomografen.
    Dabei sahen wir, dass mit Zunahme der Rauigkeit auch ein Bereich in der Amygdala stärker aktiviert wurde. Diese Hirnregion ist ja für Furcht und Alarmbereitschaft zuständig. Und es war interessant zu sehen, wie sensibel sie auf die Rauigkeit der Geräusche reagiert.
    Die Experimente belegen, dass Weckertöne mitunter genauso durch Mark und Bein gehen wie ein verzweifelter Schrei.
    Luc Arnal macht keinen Hehl daraus, dass ihm die Versuchsreihe Spaß gemacht hat. Auch wenn einige der Schreie, die ihm dabei unterkamen, durchaus angsteinflößend waren.
    "Immerhin, betont der Forscher, sei damit ja klar, dass der Schrei seine ursprüngliche Wirkung als Alarmsignal nicht verfehlt hat."