Politisches Ehrenamt in der Krise

Wie Reformen und Hetze Bürgermeister vergraulen

15:36 Minuten
Tatjana Cyrulnikov (CDU, l) nimmt am 22.10.2019 in Altenstadt in Hessen die Glückwünsche der Mitglieder des Ortsbeirates von Altenstadt-Waldsiedlung entgegen.
Gewählt zur Ortsvorsteherin und Nachfolgerin eines NPD-Politikers: Tatjana Cyrulnikov (CDU, l) mit dem Ortsbeirat von Altenstadt-Waldsiedlung in Hessen © picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst
Von Claudia Hennen · 13.01.2020
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Immer weniger Menschen engagieren sich ehrenamtlich in der Kommunalpolitik. Die Posten gelten als zunehmend einflusslos. Selbst Bürgermeister werden häufig mit Hass konfrontiert - so auch Tatjana Cyrulnikov, die einen NPD-Ortsvorsteher abgelöst hat.
"Ich hab den Briefkasten geöffnet, dort war ein DIN-A4-Blatt, auf dem aus Zeitungsartikeln ausgeschnittenen Buchstaben halt eine Morddrohung aufgeklebt war: ‚Scheiß Bürgermeister, tritt zurück oder ich mache dich kalt!`"
Noch immer stockt Michael Burda die Stimme, wenn er von den Morddrohungen erzählt. Zwei Jahre ist es her, dass er als ehrenamtlicher Bürgermeister der kleinen niedersächsischen Gemeinde Beierstedt bedroht wurde. Er erinnert sich noch gut an seine erste Reaktion: "Ich hab das zuerst gar nicht realisiert, diese Tragweite von so einem Schreiben." Er habe versucht, das nicht an sich heranzulassen, es zu ignorieren. Auch seiner Frau habe er erstmal nichts davon erzählt.
"Dann hab ich mit einem Arbeitskollegen gesprochen und der hat mir die Tragweite erklärt. Dann habe ich auch mit meiner Frau gesprochen", sagt Burda. Er stellte Anzeige gegen Unbekannt. "Es kam dann ein paar Tage später das zweite Schreiben, gleiche Art und Weise, da war ich natürlich vorsichtiger. Das habe ich gar nicht erst angefasst."
Nicht nur die Polizei – auch der Verfassungsschutz schaltete sich ein, gab Michael Burda Tipps, wie er sich verhalten solle: "ganz banale Sachen wie: das Auto nicht mehr in der Garage parken oder in der Dämmerung nicht mehr alleine rausgehen." Er habe sich dem nicht beugen wollen, sagt Burda. "Da kann ich mich ja zu Hause einschließen."
Der 39-Jährige blickt nachdenklich von der Terrasse seines freistehenden Hauses über den 400-Einwohner-Ort. Seine Katze streunt auf der Terrasse, drinnen spielt seine Frau mit dem kleinen Sohn. Doch die Idylle trügt. Bis heute konnte nicht aufgeklärt werden, wer die Morddrohungen gegen ihn verfasst hat. Michael Burda hielt dem Druck eines Tages nicht mehr stand.
Ein Schlüsselmoment sei im Zusammenhang mit seinem großen Sohn, damals vier Jahre alt, passiert. Die Familie habe versucht, das Thema vor ihm so weit wie möglich fernzuhalten – doch offenbar ohne Erfolg. "Er kam dann irgendwann auf mich zu und sagte: ‚Ich möchte nicht mehr, dass du Bürgermeister bist‘", erzählt Burda. "Ich war sehr überrascht, dass er das in einen Kontext bringen konnte und fragte: 'Warum?' Er sagte: 'Weil du sonst tot bist'."
Schweren Herzens entschied sich Michael Burda, das Ehrenamt niederzulegen. Der Maschinenbauer zog sich ganz aus der Kommunalpolitik zurück, sein Stellvertreter rückte nach.

Vorgänger von NPD-Mann warf hin wegen "Wirkungslosigkeit"

Wie unattraktiv das Ehrenamt in der Kommunalpolitik geworden ist, lässt sich auch in der Waldsiedlung im hessischen Altenstadt ausmachen. Die Wahl eines NPD-Funktionärs zum Ortsvorsteher hatte im Spätsommer deutschlandweit für Empörung gesorgt. Doch es fand sich kein anderer, der damals den Posten übernehmen wollte. Der langjährige Vorgänger hatte zuvor hingeworfen mit der Begründung, das Amt sei politisch wirkungslos.
Mitte November findet im Gemeinschaftshaus der Waldsiedlung die erste Ortsbeiratssitzung unter Leitung der neuen Ortsvorsteherin, der 23-jährigen CDU-Politikerin Tatjana Cyrulnikov statt. Ein paar Wochen zuvor war der NPD-Funktionär Stefan Jagsch abgewählt worden. Sechs Wochen war er im Amt, gewählt mit den Stimmen von CDU-, FDP- und SPD-Ortsbeiratsmitgliedern. An diesem Abend sitzt Stefan Jagsch am einen Ende des Tisches, die anderen Vertreter am anderen Ende. Jagsch klagt gegen seine Absetzung, bleibt aber politisch aktiv: "Ja selbstverständlich, ich bleibe ja im Ortsbeirat. Auch wenn diese Abwahl weiterhin so beibesteht. Und 2020 kandidiere ich ganz normal bei der Kommunalwahl."
Im Zusammenhang mit seiner Abwahl könne er "gewissermaßen verstehen, dass es durch den öffentlichen Druck keine andere Möglichkeit gab für die Ortsbeiratsmitglieder". Aber es sei ein undemokratischer Akt gewesen, gegen den er jetzt juristisch vorgehe, betont Jagsch.
Der bisherige Ortsvorsteher, Stefan Jagsch (NPD), ist am 22.10.2019 auf dem Weg in das Gemeinschaftshaus zur Sitzung des Ortsbeirates von Altenstadt-Waldsiedlung in Hessen. Im Vordergrund ein Schild mit der Aufschrift "Gemeinschaftshaus 'Waldsiedlung'".
Auf dem Weg zur Abwahl nach rund sechs Wochen als Ortsvorsteher: der NPD-Mann Stefan Jagsch in Altenstadt-Waldsiedlung© picture alliance / dpa / Frank Rumpenhorst
Die 23-jährige Tatjana Cyrulnikov – lange blonde Locken, Jeans und Pullover – wurde erst vor einem Jahr in den Ortsbeirat der Waldsiedlung gewählt. Sie gilt als politisch unbelastet, denn sie hatte entschuldigt gefehlt bei der Sitzung, auf der Jagsch zum Ortsvorsteher gewählt wurde.
"Ich war schockiert und entsetzt. Ich dachte, so etwas wäre nicht möglich – da man doch sensibilisiert ist, so eine Entscheidung nicht treffen sollte", sagt Cyrulnikov im Rückblick. Sie betont aber auch, dass sie auch die Ortsbeiratsmitglieder, auch die Ehemaligen, in Schutz nehmen möchte. Sie seien keine Berufspolitiker und hätten seit zehn Wochen keinen Ortsvorsteher mehr gehabt, sich aber wieder engagieren wollen. "Da wurde halt eine falsche Entscheidung getroffen, aber die wurde korrigiert und damit ist für mich die Debatte geschlossen."

Beschimpfung und gelöschte Morddrohung

Zur Abwahl Jagschs kamen 200 Bürger, an diesem Abend sind es etwa 20. Über viele Jahre interessierte sich kaum jemand für die Arbeit des Ortsbeirats in Altenstadt-Waldsiedlung – jetzt ist das anders:
"Wir sind hier, um auch mal Präsenz zu zeigen und den Ortsbeirat zu unterstützen."
"Ich war vor Jahren schon mal auf einer Ortsbeiratssitzung, ich muss sagen, man hört und sieht auch nichts vom Ortsbeirat. Über die Querelen oder die Neubesetzung von Posten hat die Bevölkerung nichts mitgekriegt."
"Ich bin der evangelische Pfarrer vom Nachbarort und ich fand die Entscheidung unglücklich, den Herrn Jagsch zu wählen. Und bin jetzt ganz froh, dass sie ihn wieder abgewählt haben."
Tonaufnahmen sind in der Sitzung nicht erlaubt. Tatjana Cyrulnikov führt souverän durch die Tagesordnung, lässt über Einwände von Jagsch gegen das Protokoll seiner Abwahl abstimmen. Dann geht es um kaputte Laternen, schadhafte Bürgersteige, verfallene Grundstücke. Bürgeranliegen an die Verwaltung werden besprochen und protokolliert. Die junge CDU-Politikerin und Studentin für Steuer- und Prüfungswesen bringt auch eigene Ideen ein – eine Pflanzaktion, ein Gemeindefest, ein neuer Bolzplatz. Nach zwei Stunden endet die Sitzung.
"Ich sag mal, bis zur nächsten Sitzung!" – "Tschüss!" – "Letztendlich bin ich ganz zufrieden, ich habe neue Kontakte geknüpft, das hat mich in meiner Entscheidung bestärkt."
Doch die junge Ortsvorsteherin erhielt nicht nur positive Rückmeldung in den vergangenen Wochen.
"Nach meiner Wahl habe ich eine wunderschöne Mail bekommen, die diskriminierend war bezüglich meines Migrationshintergrunds. Es wäre eine Schande, was aus meinem Heimatland geworden wäre und das Wichtigste wäre ja nur, dass ich jung und blond wäre." Weitere derartige Nachrichten habe sie auf Facebook bekommen. "Da war eine Morddrohung dabei, die jedoch vom Verfasser dann gelöscht wurde. Da stand da: ‚Ihr CDU-Schweine, jetzt heißt es Halt, wollt ihr nicht im Guten, dann geht’s mit Gewalt…'"
Hass und Hetze sind nur die Spitze des Eisbergs. Immer wieder bekommt Tatjana Cyrulnikov auch zu hören: Sie sei zu jung für das Amt der Ortsvorsteherin. Dabei ist sie seit Jahren politisch engagiert:
"Ich bin 23. Soll ich erst mit 40 politisch aktiv werden?"
Altenstadt gilt als rechtsextreme Hochburg in Hessen, hier kam die NPD bei der vergangenen Kommunalwahl auf zehn Prozent der Stimmen. Stefan Jagsch ist als Stellvertretender Landesvorsitzender der NPD ein wichtiger Kader der Szene. Tatjana Cyrulnikov weiß, auf was sie sich eingelassen hat. Bevor sie sich entschieden habe anzutreten, habe sie sich Gedanken darüber gemacht, was das bedeute, auch für ihre Familie. "Mein Vater meinte zu mir: Tatjana, wenn du es machen willst, hast du unsere volle Unterstützung." Mit dieser Unterstützung habe sie den Schritt guten Gewissens machen können, sagt sie. "Ich bin jung, ich bin motiviert und ich will nicht, dass ein Rechter mein Ortsvorsteher wird."
Die Abwahl von Stefan Jagsch als NPD-Ortsvorsteher hat ein juristisches Nachspiel. Jagsch Widerspruch gegen seine Abberufung wurde vom Ortsbeirat Mitte Dezember einstimmig abgelehnt, nun klagt er vor dem Hessischen Verwaltungsgericht.

Experte sieht Auseinanderdriften politischer Welten

Für Gerhard Henkel sind die Querelen in der Waldsiedlung von Altenstadt Symptom einer schleichenden und fatalen Entwicklung. Der Geograph gilt als deutscher "Dorf-Papst". Sein Buch "Rettet das Dorf" ist ein Standardwerk, darin beschreibt der 76-jährige emeritierte Professor die schleichende Entmündigung des ländlichen Raumes und die damit verbundene Politikverdrossenheit.
"Es will niemand mehr machen, es kommt Wut auf, es entstehen Nicht-Wähler und es entstehen Protestwähler. Und es entstehen so knifflige Situationen wie Altenstadt, dann ist die Aufregung groß: Wie kann man das machen?" Doch es werde viel zu wenig reflektiert, warum sich immer weniger aufstellen lassen auch in den Parteien der Mitte.
Zu lange habe die Politik den ländlichen Raum vernachlässigt, kritisiert Henkel. Zwei politische Welten – die Politik jener "da oben" und die Kommunalpolitik "unten", an der Basis – drifteten immer weiter auseinander. Der politische Handlungsspielraum der Kommunalpolitiker sei geschrumpft, die Erwartung der Bürger an die Mandatsträger aber unverändert hoch.
"Tatsächlich ist es so, dass über 90 Prozent der Ausgaben in den Kommunen von oben festgelegt werden." Das bedeute, dass es kaum Spielräume gebe, sich für etwas einzusetzen – zum Beispiel, ob die Schule bleiben kann oder nicht. Das lasse sich auf andere Bereiche übertragen. "Zum Beispiel steht dann in den Landesentwicklungsplänen, dass Dörfer unter 2.000 Einwohner keine Bau oder Gewerbe-Entwicklung haben dürfen, so war es in NRW."
Einen entscheidenden Anteil an dieser Entwicklung hätten die Gemeindereformen gehabt. Das Argument war stets: Es würden dadurch öffentliche Gelder eingespart. Viele Studien zweifeln dies inzwischen an. Vielmehr sei dadurch in vielen Orten das "Wir-Gefühl" verloren gegangen, und damit auch die Bereitschaft, sich kommunalpolitisch zu engagieren.
"Wir haben 35.000 Dörfer, davon haben 20.000 durch Gebietsreformen ihre kommunale Selbstverantwortung verloren, durch Diktat von oben." Das sei für die Mehrheit der Dörfer eine traumatisierende Erfahrung, erklärt der Dorf-Experte Gerhard Henkel. "Weil man in den Dörfern eine jahrhundertealte Anpack-Kultur aufgebaut hatte. Diese Ehrenämter hatten ja eine hohe Stellung, da gab es in der Regel keine Probleme, Nachwuchs zu finden. Und das ist mit einem Federstrich beseitigt worden."

Umfrage: Ein Fünftel bekommt Hassmails

Auch Michael Burda, der frühere Bürgermeister in Beierstedt, hat diese Ohnmacht erlebt. Die Abhängigkeit von der Kreisverwaltung, die wachsende Bürokratie. Die Morddrohungen brachten das Fass zum Überlaufen. Eine Umfrage des Städte und Gemeindebundes unter 1000 Mandatsträgern kam zu dem Ergebnis, dass ein Fünftel der Bürgermeister und Kommunalpolitiker Hassmails erhalte, zwei Prozent erlitten körperliche Angriffe. Michael Burda kann das nur bestätigen: "Ich glaube, Anfeindungen respektloser Natur, sei es in den Sozialen Medien oder Face-to-Face, hat jeder meiner Ratskollegen erleiden müssen." Morddrohungen kämen glücklicherweise nicht so häufig vor. Aber man merke, dass der Respekt zwischen den Menschen auf der Strecke geblieben sei. "Und man muss das ja mal dazu sagen: Ich hab das aus Spaß und Freude gemacht. Aber so hab ich mir natürlich kein Ehrenamt vorgestellt.
Politiker-Stalking sollte unter Strafe gestellt werden, fordert der Städte- und Gemeindebund. In seinem Fall, sagt Michael Burda, hätte das nichts bewirkt. Allerdings könnten solche Maßnahmen durchaus abschreckende Wirkung entfalten, insbesondere mit Blick auf die Hetze im Internet: "Was die sozialen Medien betrifft, da hat der Staat viel zu lange geschlafen, das Feld offen gelassen." Man müsse Exempel statuieren; es Leuten klar machen, wenn die Grenze der Meinungsfreiheit definitiv überschritten sei. "Und dass es sich hier um Straftaten handelt. Die müssen auch verfolgt werden. Ganz klar."
Für den Wissenschaftler und "Humangeographen" wie sich Gerhard Henkel nennt, ist das lange nicht ausreichend. Er fordert ein Umdenken. Das Image der Kommunalpolitik nehme dann erst wieder zu, wenn Ehrenamtliche dort wieder mehr Verantwortung bekämen: "Weil ja im Grundgesetz auch steht, die Wurzel unserer Demokratie ist, dass sich demokratisch gewählte Menschen darum kümmern." Die Kommunalpolitik sei auch das Gesicht des Staates; ein Ort, an dem der Staat mit den Bürgern Kontakt aufnehmen kann. "Das Bürgermeisteramt ist eigentlich eines der wichtigsten Ämter, das der Staat zu vergeben hat!"
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