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Wallfahrt in Istanbul
Eine Kirche für Muslime

In eine kleine Kirche in Istanbul pilgern regelmäßig Gläubige, um Gott um Hilfe zu bitten. Das Besondere: Die meisten Pilger sind Muslime – den christlichen Priester freut es.

Von Susanne Güsten | 08.01.2018
    Ein Stadtpanorama von Istanbul.
    Stadtpanorama von Istanbul. (Imago/Westend61)
    Ein Gewerbegebiet auf der europäischen Seite von Istanbul. Versteckt in einem ummauerten Hof zwischen Werkstätten und Lagerhäusern steht eine kleine Kirche. Ihre Name soll nicht genannt werden, so hat das Patriarchat von Konstantinopel es sich ausbedungen, damit sie nicht zur Zielscheibe islamistischer Eiferer wird.
    Noch während der Priester am Altar sein Morgengebet singt, schleichen sich die ersten Besucher in die Krypta hinunter und drehen die Messinghähne auf, um Wasser in ein Marmorbecken plätschern zu lassen. Unsicher wenden sich zwei Frauen an einen Mann, der sich auszukennen scheint und ihnen bereitwillig das Procedere erklärt.
    "Also, Sie trinken das Wasser und wünschen sich etwas - eine Wohnung, ein Kind oder Gesundheit. Dann gehen Sie zum Priester hinauf und lassen sich segnen. Sie sagen dem Priester ihren Namen und ihren Wunsch, und der Priester segnet Sie."
    Schlüssel als Glücksbringer
    Dankbar wenden sich die Frauen wieder dem Marmorbecken zu und benetzen ihre Gesichter mit dem Quellwasser. Sie sind heute Morgen früh aufgestanden und lange Bus gefahren, um das Ritual zu absolvieren, erzählt eine der Frauen.
    "Ich habe mir etwas gewünscht für meinen Sohn, für meine Tochter und für mich selbst. Deshalb habe ich mir drei Schlüssel geholt – einen für meinen Sohn, einen für meine Tochter und einen für mich. Wenn meine Wünsche in Erfüllung gegen, bringe ich die Schlüssel zurück. Sicher, ich bin Muslimin, aber ich denke, man kann in Kirchen ebensogut beten wie in Moscheen. Gebet ist Gebet, es geht schließlich an Gott."
    Die Schlüssel gibt es am Eingang zur Kirche zu kaufen, wo schon die nächsten Besucher anstehen.
    "Ich habe zwei Schlüssel genommen, denn ich habe zwei Wünsche. Wenn sie in Erfüllung gehen, bringe ich die Schlüssel wieder. Aber was ich mir wünsche, darf ich nicht sagen."
    "Ich nehme fünf Schlüssel und zwei Kerzen. Für jeden Wunsch einen Schlüssel. Hoffentlich gehen sie in Erfüllung."
    Winzige Schlüssel sind es, die beim Küster zu kaufen sind, kleine Spielzeugschlüssel eigentlich. Die Schlüssel zum Glück, sagt der Küster – egal, was man darunter versteht:
    "Die Schlüssel sind alle gleich, sie passen für jeden Wunsch. Manche Menschen wünschen sich Wohlstand, andere möchten heiraten. Sie holen sich einen Schlüssel, äußern ihren Wunsch und zünden eine Kerze an. Dann holen sie sich heiliges Wasser von der Quelle unten. Und sie lassen sich vom Priester segnen."
    "Wir lieben alle Menschen"
    Zur Segnung stellen sich die Bittsteller vor dem Priester auf und senken den Kopf, damit der Geistliche das Ende seiner Schärpe darüber legen kann. So verharren sie still, während der Priester ein christliches Gebet über ihnen spricht. Frauen und Männer jeden Alters sind es, die seinen Segen erbitten. Viele sind offensichtlich zum ersten Mal in einer Kirche; einige der Frauen tragen das Kopftuch der gläubigen Musliminnen. Der Priester wundert sich schon lange nicht mehr darüber:
    "Von hundert Menschen, die hierher kommen, sind vielleicht fünf oder zehn Christen. Die meisten sind Muslime. Aber wir haben damit kein Problem, wir lieben alle Menschen. Unser Glauben ist der Glauben der Liebe, davor sind wir alle gleich."
    Heilige Quelle als Ursprung
    Warum die Menschen ausgerechnet in diese Kirche kommen und was es mit dem Schlüssel-Ritual auf sich hat, kann der Priester nicht sagen.
    "Es ist eine alte Tradition, mindestens hundert Jahre alt, aber ich weiß auch nicht, woher es kommt. Schon als ich hierher kam, gab es dieses System mit den Schlüsseln. Es ist einfach eine Tradition."
    Der Priester ist erst seit einigen Jahren hier, er stammt aus Griechenland und verstärkt die ausgedünnten Reihen der Priester am Patriarchat von Konstantinopel. Seiner türkischen Ehefrau zuliebe zog er an den Bosporus. Was es mit dem Ritual auf sich hat, darüber weiß der türkische Küster etwas mehr.
    "Die heilige Quelle stammt aus byzantinischer Zeit, aber die Kirche ist nach der Eroberung von Konstantinopel eingestürzt und von Erdbeben verschüttet worden. Um das Jahr 1700 ist sie wieder in Betrieb genommen worden und seither kommen die Leute hierher und beten für ihre Wünsche."
    Gemischte Gefühle
    Sie kommen und kommen und kommen, den ganzen Morgen lang, bis die Kirche mittags ihre Pforte schließt. Einzeln oder zu zweit, mit ernsten oder bekümmerten Mienen treten sie von der belebten Straße durch das Tor in den Garten ein, halten vor der Kirchentür noch einmal kurz inne und fassen sich dann ein Herz. Männer und Frauen, Junge und Alte, in Jeans oder im Anzug. Nach verrichtetem Gebet lassen sich viele auf den Bänken im gepflegten Garten nieder, um zwischen Blumen und Blättern noch einmal zu reflektieren, bevor sie sich wieder zurück in ihre belebten Stadtviertel begeben. Einige sind aufgekratzt und optimistisch.
    "Ich habe mir vor zwei Jahren schon einmal einen Schlüssel geholt, weil ich ein Auto haben wollte. Und ich habe dann auch ein Auto bekommen. Jetzt hole ich einen Schlüssel für meine Tochter, damit sie eine Wohnung bekommt und auch ein Auto. Ich glaube ganz fest daran."
    Andere sind niedergeschlagen und in sich gekehrt.
    "Mein Mann ist mit einer anderen Frau durchgebrannt, und ich habe drei Kinder. Ich habe gehört, dass der Priester hier einen Zauber hat. Dreimal will ich kommen, und wenn es dann nicht geholfen hat, lasse ich mich scheiden."
    Und manche sind überschäumend glücklich, so wie diese Eheleute, die sich vor Begeisterung gegenseitig ins Wort fallen.
    "Mein Onkel hat mir schon vor vielen Jahren von dieser Kirche erzählt, zum Dank für einen Gefallen, den ich ihm getan hatte. Aber wird sind erst vor drei Wochen gekommen, als wir wegen unserer Sorgen und Nöte nicht mehr ein noch aus wussten. Und wir waren kaum zum Tor hinaus, da klingelte das Telefon und wir erhielten eine Nachricht, mit der ein Großteil unserer Probleme schon gelöst war. Und ein paar Tage später ist noch etwas geschehen, das wir uns gewünscht hatten, und eine Woche später noch etwas. Es hat keinen Monat gedauert, bis alle unsere Wünsche erfüllt waren. Es ist wirklich ein Wunder. Und deshalb haben wir heute den Schlüssel zurück gebracht – und uns gleich einen neuen geholt."
    "Wir hatten wirklich schlimme Sorgen, sowohl materielle als auch psychische. Aber nun ist Gott sei dank alles gelöst. Alles, was wir uns seit Monaten und Jahren gewünscht hatten, ist auf einmal wahr geworden. Wahrhaftig ein Wunder."
    "Wir sehen auch eine Kirche als Haus Gottes"
    Dass sie diese Wunder in einer christlichen Kirche erflehen, finden die muslimischen Bittsteller nicht weiter bemerkenswert. Das sei hier eben so, sagt eine von ihnen nach dem Gebet:
    "Istanbul ist ein Ort vieler Kulturen und Glauben: Armenier, Griechen, Katholiken – Menschen aller Glaubensrichtungen haben hier immer gelebt. Die Stadt ist eine Wiege der Zivilisation. Deshalb ist das hier so. Ich bin zwar muslimische Türkin, aber wir sehen auch eine Kirche als Haus Gottes."
    Am Wesen dieser Stadt und ihrer Geschichte liege es, glaubt auch der Priester, der selbst aus Thessaloniki stammt und anfangs sehr gestaunt hat über die muslimischen Kirchgänger, die seinen Segen erbitten.
    "Es ist der Zauber dieser Stadt. Das ist schwer zu erklären, es ist etwas in der Luft – ich fühle mich hier nicht fremd. Die Menschen kommen mit Liebe in diese Kirche."