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"Walter Jens hat ganz sicher dieses Land mit zivilisiert"

Walter Jens habe die Bundesrepublik zu einem lebenswerteren Ort gemacht, als sie es am Anfang war, sagt der Literaturkritiker Denis Scheck. Er habe Schönheit und Schrecken des Schicksals der Intellektuellen verkörpert.

Denis Scheck im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 10.06.2013
    Tobias Armbrüster: Er war einer der Intellektuellen, die jahrzehntelang in Deutschland immer wieder Debatten angestoßen haben und die sich in den politischen Diskurs eingeschaltet haben. Auch in einer Zeit, als Talkshows im Fernsehen noch gar nicht erfunden waren: der Tübinger Schriftsteller und Rhetorikprofessor Walter Jens. Gestern – das haben wir heute Morgen erfahren – ist er im Alter von 90 Jahren gestorben. Im Studio ist jetzt mein Kollege Denis Scheck aus unserer Literaturredaktion. Herr Scheck, Sie haben es mir gerade eben kurz gesagt, Sie haben selbst in Tübingen studiert und Walter Jens auch gekannt. Was für ein Mann war er?

    Denis Scheck: Na ja, ich muss zugeben, mein Studium in Tübingen liegt in den 80er-Jahren, dass ich Walter Jens zunächst als kranken Mann erlebt habe. Er litt ja sein Leben lang unter Asthma, und diese Asthmaerkrankung hat ihn glaube ich auch sehr determiniert. Er hat in späteren Interviews dann immer gesagt, dass jeder Asthmakranke natürlich mit jedem Atemzug der Sterblichkeit gewahr ist. Und er hat auch mal auf die Frage nach seinem eigenen Tod Homer zitiert und gesagt, lieber ein Knecht hier auf Erden als ein König im Schattenreich. An diesen Satz muss man am Tag des Bekanntwerdens seines Todes sicherlich erinnern. Er hat sehr gern gelebt, er hat sich um dieses Land enorm verdient gemacht, er hat es buchstäblich kultiviert. Weil Sie das Fernsehen ansprachen, Herr Armbrüster: Er sagte mal, Aufgabe des Fernsehens sei es, lehrend und unterhaltend auch einmal der Gesellschaft eine etwas menschlichere Melodie vorzupfeifen. Das sagte er allerdings, glaube ich, in den 60er-Jahren. Man stelle sich einen Intellektuellen vor, der heute vom Fernsehen so etwas erwartet! Walter Jens hat ganz sicher dieses Land mit zivilisiert, diese Bundesrepublik zu einem lebenswerteren Ort, einem demokratischeren Ort gemacht, als sie es am Anfang war. Er hat sich bezeichnet als Radikaldemokrat. Und das leitet ein bisschen seine Position als Intellektueller in dieser bundesrepublikanischen Gesellschaft ab. Ich glaube, Mao sagte mal, ein Revolutionär müsse sich bewegen im Volk wie der Fisch im Wasser. Und Walter Jens hat sich in den Medien bewegt wie der Fisch im Wasser.

    Armbrüster: Was genau hat ihn denn angetrieben?

    Scheck: Na ja, er startete ja als Schriftsteller. Er hat in den 50er-Jahren zwei große Romane veröffentlicht, "Nein. Die Welt der Angeklagten" und "Der Mann, der nicht alt werden wollte". "Nein. Die Welt der Angeklagten" ist ein dystopischer Roman. Ein Roman, der gar nicht so übel ist, wenn er heute wieder gelesen wird, der stark beeinflusst ist von Franz Kafka oder von George Orwell, Aldous Huxley, also einen großen dystopischen Entwurf einer Gesellschaft, wo jeder ein Angeklagter ist. Und der Hauptangeklagte, die Hauptfigur im Roman, die soll nun Richter werden, der Oberste Richter. Aber diese Gesellschaft ist eine maschinierte Gesellschaft. Das nimmt sich gar nicht so schlecht aus, aber er hat sich realistisch eingeschätzt wohl als Schriftsteller, dass es nicht ganz reicht mit dem Talent, hat sich dann verlegt auf die Rolle des Kritikers, war einer der wichtigsten Kritiker in der Gruppe 47. Aber vor allem ist er natürlich der Akademiker Walter Jens, der Griechisch und Latein auf sein Panier geschrieben hat, der sagen wollte, der nach der Devise "Multum, non multa", also mit Plinius gesprochen, er wollte viel, aber nicht vielerlei bieten. Wenn er – so viel Kritik muss dann schon erlaubt sein – in den 80er-, 90er-Jahren doch vielen – schönen Gruß an die Freunde von der "Titanic" –, natürlich auch als ein Intellektueller erschien, der nun wirklich zu jedem Anlass das Wort ergreift, der gerne auch über Fußball sprach – allerdings verstand er auch was davon –, der aber im Grunde die Schönheit und den Schrecken des Schicksals der Intellektuellen in der Bundesrepublik am eigenen Leib auch verkörperte. Also die Beliebigkeit des Schwingens der Moralkeule, ob er in Mutlangen war, sich einsetzte, ob er amerikanischen Deserteuren im ersten Golfkrieg Asyl bei sich gewährte, ob er sich fürs Kirchenasyl stark machte - vieles, was späteren Generationen als eine Überrissenheit des moralischen Arguments erschien, an den Figuren Böll und Grass und eben Walter Jens, das war auch in seinem Lebenslauf eingeschrieben.

    Armbrüster: Denis Scheck, vielen Dank. Wir hörten da einen kleinen Rückblick, wenn das so geht in einigen Minuten, auf das Leben von Walter Jens, der gestern im Alter von 90 Jahren gestorben ist.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.