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Wandern in einer politisch zerrissenen Landschaft

Raja Shehadeh stieß beim Wandern in Palästina auf zahllose Hindernisse. Außerdem wird der Raum für große Spaziergänge in dieser Region immer kleiner. Der palästinensische Autor und Jurist hat diese Erfahrungen in seinem Buch "Wanderungen in Palästina" zusammengefasst.

Von Kersten Knipp | 12.04.2012
    "Notizen zu einer schwindenden Landschaft" hat der palästinensische Autor und Jurist Raja Shehadeh sein Buch über seine Wanderungen durch die Westbank im Untertitel genannt. Die Landschaft schwindet, weil sie zersiedelt wird, und zwar von den vielen Siedlungen samt dazugehöriger weitläufiger Infra- und Sicherheitsstruktur, die Israel in den letzten Jahrzehnten in der Westband errichtet hat. Sie befinden sich in eben jener Gegend, in der der dort geborene Shehadeh früher tatsächlich gewandert ist – und wo er, aufgrund der politisch zerrissenen Landschaft jetzt vom Wandern eigentlich nur noch träumen kann. Richtig ausholen, unbeschwert die Natur genießen, sich verlieren in weiter, unberührter Landschaft – das ist in im Westjordanland schon lange nicht mehr möglich.

    Das heißt auch, dass dieses Buch lange nicht so romantisch ausfällt wie viele andere dieses Genres. Ein Buch übers Wandern zu schreiben, das heißt allzu oft, ein subjektives Buch zu verfassen, von den eigenen Schwärmereien zu berichten. Mehr als über die durchwanderte Landschaft sagen Bücher dieser Art oft über den aus, der sich in ihnen bewegt, frei nach Chateaubriands berühmten Satz aus seinen "Itinéraire", seinen Aufzeichnungen seiner Reise durch den Orient zu Beginn des 19. Jahrhunderts. "Je parle éternellement de moi", heißt es dort, zu deutsch: "Ich spreche immer nur von mir."

    Zwar spricht auch Raja Shehadeh gelegentlich von sich – viel mehr aber von dem Westjordanland. Die Gegend ist ihm sehr vertraut: Aus seinen notgedrungen kurzen Wanderungen. Und aus seinen Erfahrungen als Rechtsanwalt, der diese Landschaft mit juristischen Instrumenten viele Jahre lang vor weiterer Zersiedlung zu bewahren versuchte.

    Seine eigene Ernüchterung kontrastiert mit den mythischen Träumen der Israelis – zumindest stellt er deren Ambitionen als solche dar. Unverständlich bleibt ihm das israelische Argument der Identitätssuche, der Anspruch, zurückzukehren zu den Wurzeln der jüdischen Geschichte. Für ihn ist das eine Rechtfertigung, die angesichts der Radikalität, mit der er betrieben wird – rund eine halbe Millionen Israelis leben in dem besetzten Westjordanland – nicht hinnehmbar ist. Denn sie missachte, ja unterschlage die historischen Entwicklungen der nachbiblischen Zeit. Für Shehadeh handelt es sich um.

    "Suche nach den eigenen kulturellen Wurzeln, in deren Prozess die palästinensische Geschichte zum Schweigen gebracht und auf den Platz der Vorgeschichte verwiesen wurde."

    Shehadeh diagnostiziert Geschichteversessenheit, die einher geht mit Gegenwartsvergessenheit. Aus palästinensischer Sicht erscheinen die Siedlungen als Fremdkörper, abweisend und unzugänglich. Hohe Mauern und Sicherheitszäune umgeben sie, viele Straßen sind ausschließlich den Siedlern vorbehalten, Berührungspunkte zwischen ihnen und den Palästinensern gibt es nicht. Die einzigen Israelis, mit denen während seiner Wanderungen er ins Gespräch kommt, sind die Soldaten an den Checkpoints. Und diese Straßen und Checkpoints sind es auch, die das Land für seine Wanderungen im Laufe der Jahrzehnte unmöglich gemacht haben.

    Immer wieder stößt Shehadeh auf Hindernisse – auf unumstößliche Hindernisse, auf fremdes Territorium, das dem eigenen rigoros abgewandt ist, das den Dialog nicht sucht, sondern sich abkehrt und verschließt. Über die Siedler schreibt Shehadeh:

    "Sie kehrten ihren palästinensischen Nachbarn den Rücken zu und zeigten damit unverblümt auf sehr rüde Art, dass sie einer anderen Welt angehörten, nämlich der einer modernen Konsumgesellschaft, die luxuriöses Wohnen subventioniert, indem sie Häuser auf Land baut, das sie zum Nulltarif erhalten hat. Land, auf dem es einen atemberaubenden Ausblick und frische Luft gibt und das mit dem Zentrum des Landes über eine vierspurige Schnellstraße verbunden ist, die auf den Grundstücken der Nachbarn gebaut wurde, denen das Befahren der Straße verboten ist."

    Umso skeptischer zeigt sich Shehadeh auch gegenüber den europäischen Zuwendungen für die palästinensische Autonomiebehörde. Sicher, die europäischen Gelder halten viele Menschen in Arbeit und Lohn. Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen sind durch diese Gelder entstanden. Aber was nützen sie, fragt Shehadeh, wenn sie den Menschen etwa Demokratieverständnis beibringen. In einem Land, das besetzt ist, weit davon entfernt, ein unabhängiger Staat zu sein, haben solche Kurse etwas Höhnisches, bemerkt Shehadeh. Ebenso auch die Programme, die die Palästinenser einen sparsamen Umgang mit Wasser lehren – während Israel zugleich die Hoheit über die meisten Reserven übernommen hat, die Palästinenser mit dem Wasser streng haushalten müssen, während es in den Siedlungen in ungleich größeren Mengen fließt.

    Shehadeh hat ein trauriges, ein bitteres Buch geschrieben. Einmal, weil er, der Anwalt mit jahrzehntelanger Prozesserfahrung im palästinensisch-israelischen Landstreit, die Perspektiven seiner Landsleute, ihr Land vor weiterem Siedlungsbau zu bewahren, für wenig aussichtsreich hält. Der auch derzeit fortschreitende Siedlungsbau gibt seinem Pessimismus recht. Es ist aber auch ein trauriges Buch, weil es eine weit über das Westjordanland hinausreichende Einsicht präsentiert: Das nämlich das selbstvergessene und harmlos-naive Wandern heute in weiten Teilen des Nahen Osten, aber auch anderswo kaum mehr möglich ist. Überall stoßen Wanderer auf die Zeichen und eben auch Hinweise, die die Zivilisation setzt, eine Zivilisation, der sie selbst entstammen. Man muss schon ein großer Verdrängungskünstler sein, um all die Schneisen und Sperren nicht zu sehen, die eine angeblich unberührte Natur durchschneiden. In diesem Sinn weist Shehadehs auf die Selbstwidersprüche zeitgenössischer Gesellschaften hin, die das, was sie zu lieben vorgeben, allzu oft zerstören. Es ist darum kein Wunder, dass Shehadeh, wenn er auf begeisternde, geradezu naive Weise vom Wandern spricht, dies in der Form von Erinnerungen tut – in Erinnerungen an Zeiten, in denen seine Heimat noch nicht zerschnitten war, an Zeiten, die er selbst als junger Mann noch kannte, die aber noch viel besser seine Eltern und Großeltern kannten. Wenn er von ihnen spricht, entwirft das Buch eine bezaubernde Anmut, die freilich umso bitterer wirkt, als man weiß, dass sie unwiederbringlich verloren ist.

    Raja Shehadeh: "Wanderungen in Palästina. Notizen zu einer verschwindenden Landschaft". Aus dem Englischen von Jürgen Heiser. Unionsverlag, 250 Seiten, 19,90 Euro