Freitag, 19. April 2024

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Warten auf die Wirkung
Über Bücher und andere Medien

Bücher haben Zeit. Sie können vergessen und wiederentdeckt werden, und weder sie noch die Menschen, die sie lesen, verlieren dadurch unbedingt etwas. Oft gewinnen sie sogar. Ein Versuch über die gewinnbringende Sperrigkeit und Bescheidenheit eines altmodischen Mediums.

Von Florian Felix Weyh | 07.03.2021
Symbolbild: Alte Bücher, mehr oder weniger vergilbt, gewellt und bestoßen
Bücher ermöglichen Zeitgenossenschaft über die Zeiten hinweg (imago / Cavan)
Die Wirkung eines Buches, das man sich er-lesen muss, ist qualitativ eine andere als die eines Films oder einer Serie. Die unmittelbare Wirkung, die keine langfristige Befassung mit sich bringt, birgt ein Problem, das lautet: Ist die Wirkung mächtig, bleibt die Qualität dennoch gering.
Eine zeitliche Kluft zwischen Medienproduktionsgeschwindigkeit und Wirkzeit der Medienprodukte gibt es seit Anbeginn der industriellen Buchgesellschaft. Aber mit immer stärker verbreiteten sogenannten Echtzeit-Medien (Film, Radio, Fernsehen, Internet) wurde aus einem vormals nur den Buchautor quälenden Umstand ein gesellschaftliches Problem. Denn wo Medienzeit und Wirkzeit wie bei Büchern ohne dauernd eingeübte Praktiken auseinanderklaffen, siegen zwangsläufig die unmittelbar wirksamen Medien.
Die These des Autors: In der Echtzeit-Rezeption sind audiovisuelle Medien und das Internet durch ihre oberflächliche Kürze einerseits attraktiver als alles aus Büchern zu Erschließende, laden andererseits zum lustvollen, doch geistlosen Schlagabtausch ein. Dieser Essay macht Vorschläge, das Problem zu lösen.

Am 27. April 1945, in Berlin wird noch gekämpft, visitiert der 25-jährige, jüdisch‑amerikanische Soldat Melvin Lasky im kurz zuvor befreiten Darmstadt eine Schulbibliothek.
Lasky – im Zivilleben Journalist – bewundert die deutsche Kultur, zumindest jenes Stadium vor deren Entgleisung. So geht er die Bestände dieser, wie er meint, typischen Nazi-Institution durch. Natürlich: Von Mein Kampf bis zum Mythus des 20. Jahrhunderts ist alles vorhanden! Zu seiner Verblüffung entdeckt er aber auch ganz andere Sachen: einen Text von Thomas Mann, verpönte Freiheitspamphlete klassischer Autoren und – besonders unerklärlich – ein eigentlich im Kernbereich der Indoktrination angesiedeltes Politisches Handwörterbuch, das jedoch aus den Anfangsjahren der Weimarer Republik stammt. Es enthält einen Eintrag zu Rosa Luxemburg, und die Demokratie wird darin sachlich definiert, nicht niedergemacht. Lasky resümiert:
"Selbst die düstere Effizienz der Reichskulturkammer brachte es nicht fertig, eine vollkommene und reine Gestapokultur zu formen! Das hat wohl mit der Trägheit eines Buches im Regal zu tun, die den Machenschaften selbst der mächtigsten Barbarei widerstehen kann."
Ein Panzer der 11. Division der 3. US-Armee bei der Einfahrt in die umkämpfte Stadt Kronach, Foto vom 12.4.1945
Melvin J. Laskys "Deutsches Tagebuch 1945"
Als Militärhistoriker folgte der 25-jährige Oberleutnant Melvin Lasky den Truppen der 7. US-Armee bei ihrem Vormarsch durch Frankreich und Deutschland. Was er in den letzten Kriegsmonaten hinter der Front sah, notierte er akribisch in seinem Tagebuch.
Die Trägheit eines Buches im Regal: Das ist ein Grundakkord der Mediengeschichte.
Bücher haben Zeit
1928, ebenfalls in der Weimarer Republik, druckte die Edition Schott in Mainz 300 Mal die Noten eines vierminütigen Klavierstücks. 300 Kopien. Jazz-Etüde von Kurt Herbst, einem Musikwissenschaftler und Kritiker, der in seinem Leben sonst nichts komponiert hat. Eine Kopie fand 90 Jahre später den Weg auf einen Flohmarkt und von dort zur Einspielung in ein Aufnahmestudio.
Die Trägheit einer Notation auf Papier.
Auch das ist ein Grundakkord der Mediengeschichte.
Aufmerksamkeit für Medien und deren Wirkzeit klaffen auseinander. Ein im hektischen Alltag meist unbeachtet bleibendes Trägheitsgesetz sorgt dafür, dass kein ideologischer Umschwung alle gedruckten Artefakte früherer, nun verbotener Ansichten zu beseitigen vermag: das Darmstädter Schulbibliotheksbeispiel. Es sorgt auch dafür, dass eine Jazz-Etüde überdauert, selbst wenn sie jahrzehntelang von niemandem gespielt wird. Ein Medium kann sich sogar auf seine pure Materialität zurückziehen; etwa indem Notenblätter nur noch als Einwickelpapier verwendet werden. Erst kurz vor ihrer endgültigen Beseitigung kehren sie zur Funktion des Mediums zurück: Jemand entknüllt das Einwickelpapier, streicht es glatt … und setzt sich ans Klavier.

Erste Annäherung: Vermessung einer Irrtumsspanne

Stellen Sie sich vor Ihr Regal mit den ungelesenen Büchern.
Das bleibt allerdings Lesesüchtigen oder Rezensenten vorbehalten, also Menschen, die mehr Neuerscheinungen horten, als sie unmittelbar bewältigen können.
Ziehen Sie nun willkürlich ein Buch heraus. Schätzen Sie, wie lange es bei Ihnen schon herumsteht. Sagen Sie es sich laut vor:
Ein Jahr. Zwei Jahre! Das ist lang her … fünf Jahre!
Schlagen Sie jetzt im Impressum das tatsächliche Erscheinungsjahr nach.
Staunen Sie.
Acht Jahre. Fünfzehn Jahre! Zehn Jahre.
Beim Autor dieses Essays beträgt die Irrtumsspanne im Mittel fünf bis sieben Jahre; es sind aber auch schon 20 vorgekommen. Damit ist ein solches Buch gleichermaßen Opfer einer Vernachlässigung wie Träger einer Hoffnung – letzteres zumindest in der Betrachtungsweise Arthur Schopenhauers:
"Die Wirksamkeit eines Geistes hängt davon ab, daß er den Ruf erlangt, man müsse ihn lesen. Aber diesen Ruf erlangen, durch Künste und Zufall hundert Unwürdige schnell; während ein Würdiger ihn meistens langsam und spät erlangt. Der Unterschied ist, daß Jene ihn bald verlieren, dieser ihn behält."
Schopenhauer geht von einem quasi gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen Qualität und Dauer aus, der selbstredend seine Werke begünstigt.
Vermessung einer Irrtumsspanne – Perspektivwechsel
1819: Mit 31 Jahren veröffentlicht Arthur Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung, eine, wie er vollmundig ankündigt, "im höchsten Grad zusammenhangende Gedankenreihe, die bisher noch nie in irgend eines Menschen Kopf gekommen". Davon verspricht er sich grundstürzende Wirkung auf die Intellektuellen seiner Zeit. Es passiert allerdings … nichts. Nach knapp einem Jahrzehnt erkundigt er sich bei seinem Verleger nach dem Stand der Dinge. Heinrich Brockhaus antwortet brieflich:
"Wie viel verkauft worden, kann ich Ihnen nicht sagen, da ich vor mehren Jahren eine bedeutende Anzahl Exemplare zu Maculatur gemacht habe. Ich weiß nur soviel, daß der Absatz wie jetzt so auch früher sehr unbedeutend gewesen ist."
Nun verstreichen mehr als zwei Jahrzehnte, bis Schopenhauer es 1843 wieder versucht und Brockhaus auffordert, den verramschten Erstling neu herauszubringen, damit man ihm den inzwischen erarbeiteten zweiten Teil seiner Philosophie angliedern könne. Der Verleger lehnt ab. Dann aber lenkt er überraschenderweise doch ein; die Gründe sind nicht dokumentiert. 1844 erscheint Schopenhauers Erstling, um den Fortsetzungsband erweitert, zum zweiten Mal. Das ökonomische Ergebnis erweist sich als desaströs: In den folgenden neun Jahren werden insgesamt nur 61 Exemplare verkauft, nicht mal sieben Stück jährlich.
Arthur Schopenhauer ist damit König der Worstseller im 19. Jahrhundert. Erst mit seinem Alterswerk stößt er bei seinen Zeitgenossen auf Interesse.
Zeitgenossenschaft über die Zeiten
Diese Leser freilich gehören nicht mehr seiner Generation an. Es sind nachgewachsene Jüngere aus dem unsichtbaren Resonanzreservoir für jene Intellektuellen, deren Arbeit in der Gegenwart unbehaust bleibt. Denn Schopenhauer schreibt in seinen jungen Jahren etwas, das erst eine Jugend nach ihm goutiert. Dies ließe sich als Zeitgenossenschaft zweiter Ordnung begreifen und mit den Worten des Philosophen Giorgio Agamben so beschreiben:
"Zeitgenossenschaft ist ein spezielles Verhältnis zur Gegenwart: Man gehört ihr an, hält jedoch gleichzeitig Abstand zu ihr; genauer gesagt ist sie jenes Verhältnis zur Zeit, in dem man ihr durch eine Phasenverschiebung, durch einen Anachronismus angehört. Diejenigen, die restlos in ihrer Epoche aufgehen, die in jedem Punkt völlig mit ihr übereinstimmen, sind nicht zeitgenössisch, weil sie sie gerade deshalb nicht sehen, nicht beobachten können."
Um einen solchen Schatz gesellschaftlich zu heben, bedarf es einer Medienkultur, die entschwundene Botschaften immer wieder aus ihren Speichern zurückholen kann, also Präsenz aus Dauerhaftigkeit gewinnt. Eine solche Medienkultur muss sich beider Seiten der Irrtumsspanne gewahr sein: Jener positiven Seite des Rezipienten vor seinem Regal, der Bücher fälschlicherweise als aktuell taxiert und damit vorm Untergang bewahrt – und jener negativen Irrtumsspanne, die benötigte Einwirkzeiten geistiger Produkte auf die Gesellschaft notorisch unterschätzt.
DER WÜSTENPLANET- Der junge Paul Atreides, lang erwarteter Erlöser des Wüstenplaneten, kämpft gegen den finsteren galaktischen Herrscher Shaddam IV, um den Schlüssel zur Macht - um Spice , eine geheimnisvolle Substanz, die ganz besondere mentale Fähigkeiten verleiht... Szene aus dem Fim "Der Wüstenplanet", Regie: David Lynch USA 1984 
Über das menschliche Zeitverständnis und seine Überwindung
Das menschliche Zeitverständnis ist begrenzt. Wer kann sich Zeiträume von 10.000 Jahren und mehr vorstellen? Frank Herbert ließ in seinen "Wüstenplanet"-Romanen die Menschheit den nächsten Schritt tun. Er erfindet den Menschen, der die Erinnerungen von tausend Generationen in sich trägt.
Indem Schopenhauer zu lange Zeit die Gegenwart der Gleichgültigkeit seines Verlegers überließ, ging ihm beinahe die Zukunft verloren. Doch was, hätte er sich auf den Marktplatz begeben? Hätte er mehr mit dem Pöbel als mit seinem Pudel kommuniziert?
Machen wir die Probe aufs Exempel.

Zweite Annäherung: Schopenhauer twittert

"Nur die eigenen Gedanken haben Wahrheit und Leben; denn nur die eigenen Gedanken versteht man ganz. Fremde, gelesene Gedanken sind geschissene Scheiße."
151 von 280 erlaubten Zeichen. Die Kurzform liegt dem User Schopenhauer. Er ist on fire, pausenlos. Ein Tweet jagt den anderen: boshaft, hämisch, niederträchtig, aggressiv.
"Schopenhauers abgrundtiefes Misstrauen gegen die Welt (…) ist eine jederzeit und schnellstens aktivierbare Konfliktressource", bemerkt sein Herausgeber Ludger Lütkehaus und entdeckt in den Briefen des Philosophen: "Ein überwältigendes Talent zur Eskalation."
Keine Frage: Im 21. Jahrhundert würde Schopenhauer zu den Twitterati zählen. Seine Daumen blieben fortwährend in Aktion, die Zahl seiner Follower ließe ihn schwindeln. Doch wo fände er seine Anhängerschaft? In jenen geistigen Höhen, die er zeitlebens für sich beanspruchte? Oder bei den unterleibsgesteuerten Menschen, die – wie er selbst! – fremde Gedanken als "geschissene Scheiße" betrachten? Kathrin Passig, profilierte Aufklärerin des Digitalzeitalters, erklärte schon 2012, gewissermaßen im Kindergartenalter des neuen Mediums:
"Twitter ist von allen erfolgreichen Neuerungen im Web wahrscheinlich die, die den schlechtesten ersten Eindruck hinterlässt."
Ein Grund dafür:
"Die erzwungene Kürze entlastet den Verfasser: Man ist nicht mehr selbst schuld, wenn man zu einem Thema nur einen einzigen Satz sagt."
Was prinzipiell nicht falsch sein müsste, führte es dazu, diesen einen Satz mit kondensierter Doppeldeutigkeit aufzuladen oder als sprachliche Kippfigur anzulegen.
"Die Zahl seiner Follower lässt ihn schwindeln."
Reflexion und Überwältigung
Aber dafür benötigt man eine Reflexionsspanne. In dieser Zeit ist der Auslösetweet schon aus dem schmalen Smartphone-Sichtfeld gerutscht und von anderen Tweets verdrängt worden. Lieber rasch mit Empörung auf eine Empörung reagieren, die auf eine Empörung reagiert. Schuss! Gegenschuss!
Medien und ihre Wirkzeit fallen ineinander. Ein im Alltag unaufhörlich praktiziertes Reiz-Reaktions-Gesetz hält uns unentrinnbar in der Gegenwart eines Lidschlagmoments fest.
Das ist die Gegenbeobachtung zur eingangs gestellten Trägheitsdiagnose. Der eingefrorene Melvin-Lasky-Moment im Buchregal und der nie abreißende Info-Strom auf dem Smartphone sind allerdings gleich wahr; sie gehören bloß Parallelwelten an, die zunehmend weiter auseinanderdriften.
Noch ein Schopenhauer-Tweet:
"Weil die Leute, statt des Besten aller Zeiten, immer nur das Neuste lesen, bleiben die Schriftsteller im engen Kreis der cirkulirenden Ideen, und das Zeitalter verschlammt immer tiefer in seinem eigenen Dreck."
210 Zeichen. Beenden wir das Duell alte gegen neue Medien, denn dabei gibt es immer nur Sieger, ganz wie auf Twitter. Weil niemand anerkennen würde, dass er der Verlierer ist – ganz wie auf Twitter. Erkenntnisfördernder wäre eine Betrachtung, die uns zeigt, mit welcher Polarität wir es zu tun haben: der von Reflexion und Überwältigung.
10.10.2018, Berlin: Naika Foroutan, Direktorin des Berliner Instituts für Migrationsforschung, berichtet bei einem Pressegespräch, weshalb sie die geplante Demonstration unter dem Motto "Für eine offene und freie Gesellschaft - Solidarität statt Ausgrenzung" für notwendig hält. 40 000 Teilnehmer sind bei der Polizei für die Demo am 13. Okober in Berlin angemeldet. Das Bündnis "Unteilbar" hat dazu aufgerufen. Foto: Paul Zinken/dpa
Sozialwissenschaftlerin Foroutan: Auch digitale Formen des Lesens fördern
Viele Kinder und Jugendliche können nicht richtig lesen. Dagegen muss etwas passieren, findet Naika Foroutan, Sozialwissenschaftlerin und Unterstützerin des neu gegründeten Nationalen Lesepakts. Entwicklungschancen sehe sie allerdings eher im Digitalen, nicht im Medium Buch, sagte sie im Dlf.

Dritte Annäherung: Überwältigt werden. Warum keiner widersteht.

"Eine neue Technologie fügt nichts hinzu und zieht nichts ab. Sie verändert vielmehr alles."
Kulturpessimistische Bemerkung des Medienwissenschaftlers Neil Postman, Anfang der 1990er-Jahre.
Selbstredend stimmt der Satz – und stimmt zugleich nicht. Medientechnik entwickelt sich zwar entlang einer historischen Zeitachse, stößt aber keinen Ablöseprozess an, sondern bildet ein Schichtmodell von Überlagerung und Gleichzeitigkeit. Obwohl mechanische, strombasierte und digitale Medien nacheinander entstanden, existieren sie bis heute über- und nebeneinander.
Um aus der Vogelperspektive reden zu können, fassen wir die mechanischen Medien im Sammelbegriff "Codex" zusammen, alle analog-elektronischen im "Großen Rauschen" und die digitalen im "Instatoc".
Twitter ist demnach nur ein Spross – allerdings ein stachliger – des amorphen, ständig seine Gestalt wandelnden Geflechtes Instatoc, dessen Kernmerkmal aus totaler Vernetzung besteht. Nicht die Vernetzung an sich stellt indes das Problem dar; ihr Tempo ist es. 1809 entfuhr dem Hamburger Jahrhundertchronisten Ferdinand Beneke in seinem Tagebuch ein Stoßseufzer der Beglückung:
"Herrliche Erfindung des BuchDrucks! wie isolirt standen die Geister, ehe Du sie einigtest."
In der Tat wäre die moderne Menschheitsentwicklung ohne den Buchdruck unvorstellbar gewesen: Ich muss mich nicht mehr mit anderen Denkenden an einem Ort versammeln, ich kann mit ihnen über Räume und Zeiten hinweg zusammen denken. Diese Vernetzung durch Druckwerke ist reflexionsfreundlich. Mag man sich auch noch so über ein gegnerisches Statement ärgern, der langsame Reaktionsweg schleift diesen Ärger ab.
"Es gibt Medien, in denen der Geist darstellbar ist, und Medien, in denen er nicht dargestellt werden kann", heißt es bei Uwe Jochum, als Bibliothekar Kronzeuge des Codex. Geist ist für ihn an Abgrenzung, Reifezeit und Materialität gebunden.
Entthronung des Buchs
Als er dies 2014 notiert, stehen beim Umbruch vom physischen Codex zum immateriellen Instatoc noch überall Verlustängste im Raum; inzwischen haben sie sich durch Gewöhnungseffekte gelegt. Dass geistige Zivilisationserträge nur im Codex sicher aufbewahrt sind, spielt keine große Rolle mehr, weil die soziale Praxis längst andere Prioritäten setzt. Wo alles immer schneller fließt, strömt, pulsiert, herausschießt, bietet Dauerhaftigkeit weder einen sinnvollen Handlungsrahmen, noch eine Rückzugsutopie. Es regiert der Reflex anstelle der Reflexion.
Damit wäre der Codex ad acta gelegt. Kurz nach Jochum untermauerte ein anderer Hüter der Bücher diese Diagnose unbarmherzig:
"Das Informationsmonopol der Bibliothek ist gekippt. Wer heute einen Internetanschluss hat, aber keinen Zugang zu einer Bibliothek, ist potenziell gebildeter als jemand mit einem Bibliothekszugang, aber ohne Internetanschluss. Ich weiß von einem Chef eines deutschen Forschungszentrums, der sagt, er habe in seiner Karriere kein einziges Mal eine Bibliothek betreten."
Rafael Ball, Direktor der ETH-Bibliothek Zürich. Bezeichnenderweise ein Interview, kein geschriebener Text. Gesprochenes, fluides Wort. Dennoch … lassen wir an dieser Stelle die Melvin-Lasky-Etüde ausklingen.
Materielle Speicherformen im Regal haben ihren gesellschaftlichen Resonanzraum verloren. Codex existiert zwar unbeirrt parallel weiter, ist aber entthront geworden.

Einschub: Mit den Wölfen der Kulturkritik heulen

Kulturkritik war niemals anders als rückwärtsgewandt: Das Frühere gilt ihr immer dem Heutigen oder gar Kommenden überlegen. Deshalb wird Kulturkritik ihrerseits zum Ziel von Kulturkritik-Kritik. Diese besitzt durchaus Argumente:
Etwa, dass unter Intellektuellen Twitter den Horizont erweitert.
Doch die Verteidiger des Fortschritts begehen einen Denkfehler: Sie schließen vom eigenen disziplinierten und reflektierten Mediengebrauch auf das Medium an sich. Kluge Menschen aber verstehen jedes Medium klug zu benutzen, nämlich kontextsensitiv und skeptisch. Indes funktionieren Medien auch dann – und oft wirkungsmächtiger! –, wenn sie von weniger klugen Menschen gebraucht werden. Das Wesen eines Mediums offenbart sich erst, wenn es massenhaft, voraussetzungslos und von unreflektierten Menschen genutzt wird. Dann kommt es ganz zu sich selbst.
Ende des Einschubs.
Überwältigung und selbstbestimmtes Tempo
Das Problem liegt in der Überwältigung. Wo Überwältigung stattfindet, zieht sich die Reflexion zurück. Überwältigung gibt es selbstredend schon im Codex; ein Ritterroman von Walter Scott überwältigte seine Leser wie ein Hollywoodfilm – oder noch totaler: eine Netflix-Serie – die Zuschauer. Doch das Tempo ist anders: Ein Buchleser bestimmt es selbst. Zuhörer und Zuschauer im Großen Rauschen sind in ein Korsett gezwängt; sie haben keine Chance, dem vorgeschriebenen Zeitdiktat zu entkommen.
Möchten Sie diesen Text langsamer hören? Der Autor hat nur 30 Minuten. Er will sie maximal ausnutzen. Denken Sie bitte in seinem Tempo mit!
Niemand kann den Ablaufstrukturen im Großen Rauschen entrinnen. Hinzu tritt jene sensorische Überwältigung, die symbolische Medien von Wirklichkeitsmedien trennt. Wirklichkeitsmedien wirken physikalisch unmittelbar: Bild und Klang sind da und müssen nicht dekodiert werden. Symbolische Medien benötigen dagegen geistige Anstrengungen; unmittelbare Wirkung erzeugen sie nur bei geübtem Publikum. Eine Musiknotation auf Papier überwältigt vielleicht einen Profimusiker, der Notensymbole in Gedankenmusik umzuwandeln versteht. Normale Menschen brauchen dafür den realen Klang.
Alle audiovisuellen Medien basieren auf sensorischer Überwältigung. Ihre Wirkzeit fällt in eine kurze Gegenwartsspanne. Gewiss, ein Film mag noch ein wenig nachhallen, aber er sprengt ohnehin den Rahmen dieser Betrachtung, zielt er im Regelfall doch auf Emotion, nicht auf Reflexion. Gleichwohl – oder genau deswegen – macht der Film dem Codex heftige Konkurrenz. Dies ließ sich schon früh beobachten, und es brachte Ende der 1930er-Jahre den Schweizer Schriftsteller Ludwig Hohl auf eine ungeheure Idee:
"Wichtig, um eine Kultur zu schaffen, wäre vor allem dies: Die Bücher sollten nicht lange dauern, sondern, wie die Blumen, nach einiger Zeit verwelken, verlöschen; (…) dann sollte die Schrift verschwinden oder das Papier sich auflösen. Denn (…) was ist der Grund dieses schandbaren (…) Missverhältnisses zwischen Geldausgaben für Kino etc. und für Bücher? (…) Dies: Kinovorführung ist vergänglich, 'nur jetzt ist sie da! rennet alle!', das Buch aber 'kann warten'. (…) Und so kommt es denn, dass man die Filme zwar sieht, die Bücher aber nicht sieht; und, was ärger ist, nicht kauft."
Heinrich Riethmüller
"Es gibt eine Rückbesinnung auf das gedruckte Buch"
Nach all den Krisen der Buchbranche in den letzten Jahren habe sich der Literaturbetrieb wieder stabilisiert, sagte Heinrich Riethmüller, Börsenverein des Deutschen Buchhandels, im Dlf. Zum Ende seiner Amtszeit als Börsenvereins-Vorsteher, sieht er optimistisch in die Zukunft der Branche.

Vierte und letzte Annäherung: schandbare Missverhältnisse

Ludwig Hohl war visionär. 80 Jahre später ist der verwelkende Text da, im Instatoc. Die Wucht seiner Überwältigungskraft bezieht er aus dem paradoxen Vermögen, im Sekundentakt zu welken und sich sofort wieder zu regenerieren: Man kommt an kein Ende. Man muss immer kontern. Man verlagert das Denken in die Vernetzung und vernutzt es dabei. Echte Gedankenreifung braucht Abgeschiedenheit, Langsamkeit – ja Äußerungsdemut im Sinne eines Botho Strauß:
"Das Aussenden beherrscht überbordend die Welt, die Leistungen des Empfangens lassen eher nach."
Wie also müsste die Maxime zeitgemäßer Medienvernunft lauten?
Entnehmen, nicht reagieren.
Denn wer reagiert, hat schon verloren. Oder ist das zu kurz gegriffen?
Entnehmen – nicht reagieren – wirken lassen – Schlüsse ziehen.
So wird daraus eine praktikable Regel. Wenn dann am Ende doch noch ein Medienprodukt entsteht, sollte dieses so gelassen ausfallen, dass es die erneute Aussendung erlaubt. Leider hapert es dafür schon an der Grundvoraussetzung: Wer will Medien überhaupt noch etwas entnehmen? Obwohl nur wenige Jahre alt, wirkt ein Appell in diese Richtung – hier des Wirtschaftsphilosophen Birger Priddat in einem Studienratgeber – wie aus der Zeit gefallen:
"Jeder Studierende sollte am Ende des Studiums eine Jagdstrecke von mindestens 1,5 Meter Bücher im Regal haben. Das ist European minimum!"
"European minimum" – was für eine charmante Formulierung! Zugleich steht damit wieder das Regal im Raum, und zwar genau in seiner Melvin-Lasky-Variante als Hoffnungsträger: 1,5 Meter Bücher in jedem Haushalt der EU und naturgemäß ganz unterschiedlich bestückt – das wäre ein geistiges Reservoir, mit dem sich jede Krise überstehen ließe: Nichts ist so überholt, als dass man nicht noch etwas daraus lernen könnte, und sei es auch nur aus vergangenen Irrtümern.
Verlage bekämpfen Bücher mit Büchern
Das Hauptproblem liegt allerdings in "schandbaren Missverhältnissen", um Ludwig Hohl abzuwandeln, die fatalerweise seit jeher der Buchökonomie innewohnen.
Das Verlagsgewerbe ist eine einzige Buchvernichtungsmaschine. Man braucht dazu nicht mal die Schopenhauer-Makulatur zu bemühen. Schon der flüchtige Blick auf die Zyklen von Neuerscheinung und Verramschung lässt erkennen: Verlage bekämpfen Bücher mit Büchern; naturgemäß auch ihre eigenen. Sie müssen das tun, weil die Wirkzeit dieses Mediums konträr zu seiner ökonomischen Verwertbarkeit verläuft. Wer verkaufen will, braucht Alterung, Wertverfall, Verlustempfinden bei den Konsumenten; auf keinen Fall aber einen bleibenden oder gar wachsenden Zugewinn.
"Das Buch hat ein Jahr auf sie gewartet. Nur ein Jahr? entgegnete ich." Joachim Hake. Als katholischer Theologe ein skrupulöser Leser, wie seine Anmerkungen zu Lektüren belegen:
"Sich vorschneller Kommentare enthalten. Lesen, besser lesen, zur Kenntnis nehmen, abschreiben, wirken lassen, und es zeigt sich nach und nach, was wahr an den Texten ist und was dem Vergessen überlassen werden kann."
Im Kampf der Buchvermarkter gegen das Wesen ihrer eigenen Erzeugnisse gilt es, einen archimedischen Punkt zu finden. Die Lesegemeinschaft tat dies bis dato durch den Erhalt von Bibliotheken, Speichern der langen Wirksamkeit, während sich die literarische Kritik hilfloserweise an den Entwertungszyklen der Buchindustrie beteiligte. Angesichts des Codex-Niedergangs und der Irreversibilität des Instatoc wäre es für sie angeraten, aus der Neuerscheinungs-Tretmühle auszusteigen und sich Texte unabhängig von deren Erscheinungstermin vorzunehmen.
"Ein Buch wird doch immer erst gefunden, wenn es verstanden wird." Goethe in einer Epistel an Schiller, 1797.
Die Zeichen sehen allerdings nicht danach aus, im Gegenteil: Allerorten stößt man auf behauptete Tagesaktualität von Büchern. Wie kann das sein? Wie können sie dieses Raster erfüllen? Bücher sind nie tagesaktuell – oder sie sind keine Bücher, sondern bloß das Altpapier von morgen. Wer einer Erscheinungsterminaktualität hinterherläuft, wird zunächst als Wurmfortsatz der Buchindustrie identifiziert und dann als Lobbyist abgewickelt – was seit Jahren passiert. Wären Literaturjournalisten dagegen Wirkungsagenten des Codex, wüchse ihre Bedeutung, statt zu schwinden.
"Zirkulationsagenten." So taufte Hans Magnus Enzensberger 1988 alle Rezensenten. Doch dieser Marx entlehnte Begriff verfehlte schon damals sein Objekt. Nie haben gegenwartsfixierte Kunstrichter etwas in Bewegung gebracht, sondern formulierten lediglich Kriterien für Abschuss oder Gnadenfrist. Älteres nach oben zu bringen, kam nur als Ermahnung vor, bestimmte "Klassiker" zu lesen. Literaturkritik fungierte und fungiert bis heute als Kaufanweisungsinstanz, nicht als Echoraum des geistigen Erbes. Ihr Untergang stimmt heiter.
Das vergessene Buch ist antitotalitär
Das alles ist mit Maß und Anstand … übertrieben. Sie hören gerade einen Essay. Was diese Gattung auszeichnet, erklärt Birger Priddat so:
"Essays (...) üben Anspielung als antidotum gegen Abspielungen."
um 90 Grad gedrehtes Cover der 177. Ausgabe der Zeitschrift "wespennest", im Hintergrund ein Wespenstachel, an der Seite die Aufschrift "wespennest" und quer "E5SAY", in der 5 klein geschrieben: 50 Jahre Wespennest
Essayistik: Eine Textgattung als Sanitäter
Die Coronapandemie hat sich zur weltweiten Krise entwickelt. Ausgehbeschränkungen zwingen uns zu häuslichen Aktivitäten wie Lesen. Der Essay scheint die Textform der Stunde: Kreativ, subjektiv, skeptisch oder abwägend gibt er sich gerne – oft vor dem Hintergrund unserer aller Sterblichkeit.
Essays sind Texte von geringer dogmatischer Relevanz. Während die herrschende Meinung den Refrain vorgibt, verliert sich der Essay im Obertonbereich. Die dauernde Abspielung eines Refrains schafft Stabilität, weil sie die Eigenresonanz des Bestehenden verstärkt. Wie schön! Die Anspielungen aus dem Obertonbereich durchkreuzen dieses harmonische Gebilde: wie nervig!
Seien wir ehrlich: Eine Welt nur aus Obertönen wäre nicht nur unerträglich, sie wäre auch unwahr. Ähnlich diesem Text, der vornehmlich aus einem Haufen Auslassungen besteht.
"Unvollständigkeit ist streng genommen kein Grund, nicht mit einem Autor übereinzustimmen", heißt es in Mortimer J. Adlers amerikanischen Bildungsbibel Wie man ein Buch liest von 1940. Ein Evergreen. Letzte deutsche Auflage 2018.
"Vom kritischen Standpunkt aus ist Unvollständigkeit nur insofern negativ, als sich darin die Beschränkungen des Autors zeigen. (…) Hat der Autor seine Aufgabe nicht vollständig gelöst, antwortet der Leser durch Zurückhaltung seines Urteils."
Tatsächlich wurde hier, wenn von Codex die Rede war, vornehmlich an jene Werke gedacht, die den Leser geistig voranbringen. Das ist zwar gattungsunabhängig, doch in Belletristik nicht regelmäßig der Fall. Für Belletristik gilt dagegen eine Überwältigungserlaubnis, die sich aus der freiwilligen Unterwerfung unter einen Schöpfer ergibt:
"Versuchen Sie nicht, sich den Wirkungen zu widersetzen, die ein belletristisches Werk auf Sie ausübt. (...) Kritisieren Sie einen Roman oder ein Drama erst dann, wenn Sie voll einschätzen können, welches Erlebnis der Schriftsteller Ihnen vermitteln wollte."
Vom Wert des Stolperns
Nehmen wir zum Schluss noch einmal das Buch zur Hand; es sei das letzte seiner Art. Gefunden irgendwo auf einem Speicher und in seiner Materialität nicht nur störrisch, sondern wenig praktikabel: Wo zum Teufel ist das nützliche Suchfeld? Wo die bequeme Copy-Paste-Funktion? Es dauert eine Weile, bis man begriffen hat, dass seine einzige Funktion darin liegt, darüber stolpern zu können.
Im Instatoc stolpert niemand mehr. Alles ist da – und zugleich damit nirgendwo. Man könnte sich – wohl wahr! – nun einen Mechanismus ausdenken, der im Instatoc Stolpersteine setzt. Warum nicht hin und wieder auf eBook-Readern andere, alte, vergangene Texte einspielen, die gar nicht bestellt worden sind, sondern per Zufall oder per Auswertungsalgorithmus der persönlichen Lesebiographie dirigistisch zugeteilt werden. Warum nicht? Weil es totalitär wäre. Das vergessene Buch im Regal ist antitotalitär. Es harrt der Entdeckung, ohne Wissen um die Welt, in der es eines Tages Wirkung entfalten wird. Ja, braucht es überhaupt eine Zielvorstellung? 1943 notierte Ernst Jünger in seinem Pariser Tagebuch:
"Mittags mit Heller und dem Mahler Kuhn. (…) Gespräch darüber, dass Bücher und Bilder auch wirken, wenn niemand sie sah. 'Doch im Innern ist’s getan.' Dieser Gedanke wird den Zeitgenossen im gleichen Maße unvollziehbar, in dem sie Kommunikation und Zirkulation erhöhen, das heißt, geistige Verbindung durch technische ablösen. (…) Wieland wusste das noch; er sagte zu Karamsin, dass er auf einer einsamen Insel seine Werke mit gleichem Eifer geschrieben hätte, in der Gewissheit, dass sie von den Musen gehört würden."
Eine Produktion des Deutschlandfunk 2021
Es sprachen: Claudia Mischke, Jean-Paul Baeck und Volker Risch
Technik: Hanna Steger
Regie: Claudia Kattanek