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Warum aus Buchstaben Bilder werden

Warum nimmt man beim Lesen Texte als Bilder, Stimmen, Personen, Gefühle wahr? Für Martin Andree hängt dieser Effekt eng mit der kulturellen Geschichte zusammen, vor der die Menschen stehen. Der Literaturwissenschaftler hat zehn Jahre an seiner "Archäologie der Medienwirkung" gearbeitet.

Von Thorsten Lorenz | 02.09.2005
    Ich gehe einmal von einem ganz einfachen Sachverhalt aus: Sie lesen einen Roman, eine Erzählung, ein Gedicht. Und auf einmal entsteht eine Bilder- und Gefühlswelt in Ihnen. Niemand kann diesem Effekt widerstehen, keiner will ihm auch widerstehen.

    Aber warum nehmen wir Texte plötzlich nicht mehr als Texte wahr, sondern als Bilder, als Stimmen, als Personen, als Gefühle? Warum vergessen wir, dass wir Buchstaben lesen? Mit einem Wort: Wir sind gerade dann intensive, emphatische Leser, wenn wir das Medium Buch vergessen. Etwas akademischer gesagt: Das Medium Buch überschreitet seine eigene Medialität. Warum also können wir der Suggestion, der Halluzination nicht entgehen?

    Die Antwort gibt eine der eigenwilligsten Veröffentlichungen, die vor wenigen Wochen erschienen ist. Sie heißt "Archäologie der Medienwirkung" und der Autor ist der Literaturwissenschaftler Martin Andree. 600 Seiten dick, und 2,5 Pfund schwer ist diese Literaturgeschichte. Ganze zehn Jahre hat Andree daran gearbeitet.

    "Warum wirken Medien? Egal was man macht. Man macht es ja eigentlich nur um sich faszinieren zu lassen, um sich bezaubern zu lassen. Und das ist eine Frage die so drängend ist, dass man sie wirklich in aller Tiefe erkennen muss und auch beantworten muss.

    Ich glaube es gibt prinzipiell zwei Ansätze, die man verfolgen kann. Entweder man legt das Schwergewicht auf die menschliche Psyche - dann muss man eigentlich hingehen, psychologisch forschen, dann muss man Fragebögen entwerfen und Statistiken machen. Die andere Möglichkeit ist zu sagen, was die Menschen eigentlich steuert: das ist ihre Kultur, und das ist die kulturelle Geschichte, vor der sie stehen. Das heißt: Man begreift das heute vor dem Hintergrund einer jahrtausende langen Tradition. Und ich bin den zweiten Weg eingeschlagen, das heißt, ich glaube, dass man unser Verhalten heute nur vor diesem Hintergrund der Tradition verstehen kann und daher auch dieser Titel: Archäologie der Medienwirkung."

    Also: Warum wirken Medien? Die Antwort von Martin Andree ist bestürzend direkt: Weil wir programmiert sind, programmiert durch raffinierte Texte, Geschichten, Anleitungen. Andree breitet eine rund zweieinhalbtausend Jahre alte Geschichte der Ästhetik, der Literatur- und Kunsttheorie aus. Könnte man eine Leitidee über alle Epochen hinweg formulieren, so wäre sie die paulinische Frage, warum tote Buchstaben oder allgemeiner tote Medien einen lebendigen Geist, eine lebendige Phantasie erzeugen.

    Das fängt an bei christlich-jüdischen Urtexten und deren Vorstellungen über die unmittelbare Erscheinung und Wirkung des Gotteswortes. Andree führt uns anschließend in philosophische Debatten der griechischen Antike, etwa ob und wie man mit Worten und Bildern täuschen dürfe. Ganz anders dann das mystische Mittelalter mit eigenen, sehr sonderbaren Wirkungen, etwa die, dass Mysteriker und Mystikerinnen Visionen bei der Lektüre des heiligen Textes hatten.

    "Auch alte Texte wirken, und zwar auch heute noch. Aber wichtig ist eben doch, dass diese alten Texte durch die Jahrhunderte hindurch wiederum eine Rezeptionsgeschichte durchlaufen. Das heißt dass Texte in ihrem jeweiligen Kontext wieder ganz anders verstanden werden und vielleicht aus ganz anderen Gründen faszinieren. Und deswegen auch der Grund, warum auch Hollywood uns immer wieder Remakes vorstellt von sehr alten Geschichten, die diese Stoffe wieder auf die jeweilige aktuelle Situation hin neu aufbereiten.

    Der Grund, warum das Buch quasi zunächst einmal bis 1850 vorgeht, ist der, dass eigentlich die Medienwirkungsforschung bisher überhaupt nur den zeitlichen Horizont zurück bis 1850 beobachtet hat. Und meine These war jetzt, dass eigentlich die letzte große Epochenzäsur um 1800 liegt, die uns bis heute prägt - in unserem ganzen diskursiven Umfeld, unserem ganzen Leben, all das, woran wir heute so glauben: an die große Liebe, an die Selbstverwirklichung, an die Freiheit usw. usf. Alle diese diskursiven Werte, die sind in dieser Form um 1800 entstanden."

    Und bestimmen uns bis heute. Wäre der Autor nur historisch, epochenweise vorgegangen, dann wäre diese erste "Archäologie der Medienwirkung" zwar akademisch interessant - aber langweilig. Der Witz an dem Buch liegt aber darin, dass Andree nicht nur historisch, sondern auch systematisch vorgeht. Und damit sind wir beim Kern dieser Arbeit. Martin Andree hat eine Reihe von Wirkungskräften, Wirkungsmächten entdeckt, denen wir bis heute unterliegen. Es sind fünf an der Zahl. Sie heißen der Reiz des Echten, der Simulation, der Reiz des Mysteriösen, des Erlebens und schließlich der Reiz des Archaischen.

    Greifen wir uns einmal ein faszinierendes Beispiel heraus, den Reiz des Echten. Warum lassen wir uns faszinieren von der Echtheit, dem Original eines Kunstwerks, aber nicht von seiner Kopie? Wir gehen doch in keine Ausstellung mit Picasso-Kopien? Worin liegt der Reiz des Echten? Andree entfaltet diese Wirkungsmacht, indem er fragt, wie frühere Epochen damit umgegangen sind.

    Das Mittelalter z.B. bot neue Varianten zu der damals wie heute wichtigen Frage, wie man die Echtheit von Reliquien feststellt. Reliquien wurden durch Texte, durch so genannte Authentiken authorisiert. Und heute? Verehren wir nicht ein Picasso-Gemälde, das von Kunsthistorikern als Original, ratifiziert wurde, ganz ähnlich wie eine Reliquie? Für Andree sind das alles nur Inszenierungen um einen Echtheitskult. Kann das denn auch für Literatur gelten? Wenn Bücher tausendfach vervielfältigt werden, wo finden wir dann das Echte? Nicht im Material selbst, sondern in einer neuen Vision. Im Dichter selbst, in seiner Seele, in seinen Gefühle, die auch unsere sein sollen.

    Die unmittelbare Wirkung durch das Wort Gottes wird in der Literatur ersetzt durch die unmittelbare Wirkung, das Mitfühlen, die Empathie mit dem Genie, mit dem modernen Autor. Ganze Programme der Empathie werden entworfen, wie aus unmittelbarer Berührung - Rührung wird. Die Leser werden förmlich geschult.

    Aber es gibt auch ganz andere Beispiele, die mit dem Mythos der Echtheit spielen und klassische Wirkungsmuster einsetzen. Z. B. der Fälscher Konrad Kujau.

    "Also ein wunderschönes Beispiel sind wirklich die Hitler-Tagebücher - weil man sie für authentisch hielt. Aber interessant ist sich anzugucken, was hat der eigentlich für Regeln befolgt, die diese Texte als besonders authentisch gelten lassen. Das heißt: Es ist wirklich sehr lustig, alle Möglichkeiten der Verbürgung sind da genommen worden. Also da sind Siegel, das sind authentische alte Einbände gewählt worden, da sind natürlich die Sachverständigen vom Stern hinzugezogen worden, die dann auch gesagt haben: Das ist eindeutig echt, das kann überhaupt nicht falsch sein. Es gibt eine ganz lange Geschichte, wie diese Manuskripte auf verschlungenen Wegen dann in die Hände von dem Stern-Reporter Heidemann dann gelangt sein sollen.

    Also ich habe da zwei Parallelbeispiele, ebn eins aus der Antike, wo jemand, von dem wir heute nicht mehr wissen, wie er heißt, eigentlich exakt dasselbe gemacht hat. Er hat nämlich die größte Story genommen, die es damals gab: die Story über den Trojanischen Krieg. Und da hat also einer jetzt sich hingesetzt und ein Buch geschrieben und hat gesagt: Also Homer hat überhaupt nicht die wahre Geschichte erzählt, sondern es ist alles falsch. Ich habe die wirkliche Geschichte hier. Denn vor euch liegt ein Manuskript, das man in einer Kiste gefunden hat - übrigens auch die Hitler-Tagebücher sollen in einer Kiste gefunden worden sein - die man in Kreta in einem Grab gefunden hat."

    Eine der sinnfälligsten Wirkungsmächte ist zweifellos, was Andree mit dem "Reiz des Erlebens" bezeichnet. Andree fragt: Warum vergessen wir im Lesen von Literatur, im Sehen eines Filmes, im Hören von Musik, dass wir es tun und erleben stattdessen Spannung, wir erleben Liebesdramen, wir empfinden Gefühlsaufwallungen? Warum wird aus dem Medium ein Erlebnis?

    Die Propheten der jüdisch-christlichen Tradition hatten hierfür ein klares Konzept. Sie behaupteten, in unmittelbarem Kontakt zu Gott zu stehen. Aber dieses Phänomen des unmittelbaren Gotteswortes, das gibt es heute auch noch. Denken Sie nur an die Kommunion, in der der Leib Christi - und keineswegs ein Symbol für ihn - eingenommen wird, so wie einst Johannes das himmlische Buch verspeiste. Andree hat das zum Anlass genommen, den Rezensenten neben Informationen zum Buch auch eine Oblate beizulegen.

    Andree ist Literaturwissenschaftler. Er analysiert Texte und ihre Wirkungen. Man nennt das Diskursanalyse, obwohl Andree das inflationär eingesetzte Theorie-Wort Diskurs tunlichst vermeidet. Die Geschichte, die er uns erzählt, zeigt, wie sehr wir Kinder vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts und ihrer Vorgeschichte sind, einer Zeit, in der kräftig an Theorie und Praxis der Illusion gearbeitet wurde.

    Darin liegt die Leistung dieser wunderbaren Arbeit: Die Programme unserer Halluzinationen durch historische Analogien ihrer Wirkungsmacht zu entkleiden. Am Ende jeder einzelnen Wirkungsgeschichte will Andree den Zusammenhang zum heute, zu den modernen Kulturtechniken zeigen: Die Simulationstheorie von Platon führt so nach 2500 Jahren zur Virtualität einer Play Station von Sony; der Reiz des Erlebens und der Erlebnisvisionen im Mittelalter endet beim Erlebniskult des Ecstasy-Rauschs; der Kult des Echten führt zum Starprinzip eines Michael Jackson.

    Nicht immer sind diese Beispiele genial gewählt, manchmal wirken sie etwas aufgesetzt. Aber: Sie geben der Arbeit das Tempo, eine Vision, wie man sonst trockene Literatur- und Ästhetikgeschichte zu einem Krimi werden lassen kann. Das eigentliche Geheimnis des Buches liegt darin, uns daran zu erinnern, dass die wahre Deutungsmacht von Medien in der Literaturwissenschaft und Literaturgeschichte liegt. Aus ihr entstand einst Medienwissenschaft. Aber die kann, im Gegensatz zur Literaturgeschichte, nicht erklären, warum in Zeiten der technischen Reproduzierbarkeit der Mensch zählebig an seinen Illusionen, seinen Träumen, seinen Visionen festhält. Diese Traum-Bilder sind special effects von Buchstaben. Deshalb bitte Ich Sie, trotz aller Aufklärung: Lesen Sie weiter. Unbedingt. Damit Sie nicht aufhören zu träumen.

    Martin Andree: Archäologie der Medienwirkung.
    Wilhelm Fink Verlag