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Was die Schrift verrät

In Stellenanzeigen wird zwar nur noch selten eine Handschriftenprobe oder ein handgeschriebener Lebenslauf verlangt, aber einige Unternehmen und Personalberater lassen Schriften von der Unterlänge bis zum I-Punkt begutachten, in der Hoffnung, mehr über Persönlichkeit und Charakter der Bewerber zu erfahren. Doch die Aussagekraft der Handschrift ist zweifelhaft.

Von Claudia Hennen | 14.05.2008
    "Ich habe Ihnen mal zwei Schriften mitgebracht aus meiner Praxis. Das eine ist ein Bewerber, der sich als Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft für internationale Aufgaben beworben hat, im Alter von fünfzig Jahren. Der zweite Bewerber ist fast gleich alt, als qualifizierter Sachbearbeiter hat er sich beworben. Wenn Sie die Schriften anschauen, sehen eigentlich schon selbst gravierende Unterschiede."

    Hannelore Holsträter legt die beiden Handschriftenproben vor sich auf den Schreibtisch. Die 59-jährige Kölnerin ist Mitglied im Berufsverband geprüfter Graphologen. Seit zwanzig Jahren unterstützt sie mittelständische Unternehmen bei der Personalauswahl.

    "Die eine Schrift, die des Geschäftsführers, eher eckig und kantig, die des Sachbearbeiters eher gefällig, relativ diszipliniert, stringent, vielleicht auch ein bisschen einfach in der Formung. Der andere hat sehr viel mehr eigenständige Formung, auf jeden Fall ein Mann mit Ecken und Kanten. Bei dem anderen sieht man, dass er sehr viel anpassungsbereiter ist, von daher auch als Sachbearbeiter ganz gut geeignet."

    Rund dreißig übergeordnete Merkmale untersucht Hannelore Holsträter bei einer Schrift - Ober- und Unterlänge, Tempo und Größe, Rechts oder Linkslage und vieles mehr. Jedes Merkmal steht für mehrere Charaktereigenschaften. So kann eine enge Schrift sowohl Selbstbeherrschung als auch Ängstlichkeit bedeuten. Letztlich geht es immer um den Gesamteindruck:

    "Wenn Sie das hier sehen, da stimmt die Unterschrift im Wesentlichen mit der Schrift überein, was die Ausweitung, die Größe und die Formung anbelangt. Das heißt, dieser Mensch gibt sich so, wie er tatsächlich ist. Denn man sagt, die Unterschrift ist dasjenige, wo jeder Mensch versucht sich darzustellen. Wenn jemand eine überhöhte oder sehr verschnörkelte Unterschrift macht, dann gibt er sich anders, als er tatsächlich ist."

    Am Ende der Analyse steht ein rund zwei Seiten langes Gutachten. Darin heißt es dann zum Beispiel:

    Der Schreiber fasst rasch auf, kombiniert auf seinem Spezialgebiet routiniert und zweckmäßig. Er hat gelegentlich Stimmungsschwankungen zu bewältigen, wobei er seine innere Lässigkeit nie verleugnen kann. Insgesamt ein strebsamer, in seiner Persönlichkeit aber wenig festgelegter Mensch, der Regeln und Normen freizügig auslegt.

    Jens Brandenburg von der Düsseldorfer Unternehmensberatung "Brandenburg Consultants" vertraut auf solche Gutachten. Er vermittelt Führungskräfte mit einem Jahresgehalt ab 80.000 Euro. Wenn Assessment Verfahren und psychologische Tests nicht ausreichen, bittet er um eine Handschriftenprobe.

    "Oft sind wir uns im Klaren, welchen Kandidaten wir wollen, aber wenn das nicht so ist und wir uns nicht entscheiden können, dann wollen wir einen Dritten, und der unsichtbare Dritte ist der Graphologe."

    Ein Gutachten kann die Entscheidung für oder gegen einen Bewerber also wesentlich beeinflussen. Bianca Lutz von der Düsseldorfer Karriereberatung "LeadersPoint" sieht das mit Skepsis.

    "Das ist nie ein Alleinstellungskriterium. In den meisten Auswahlverfahren ist es so, dass der Teilnehmer erstmal kennengelernt wird. Es ist immer etwas, das dazu genommen wird, ein Baustein in dem ganzen Mosaik."

    Die Graphologie basiert auf Erfahrungswissen, eine wissenschaftliche Theorie oder ein standardisiertes Kontrollverfahren existieren nicht. Sicherlich ein Grund, weshalb nur wenige Firmen in Deutschland den Rat der Graphologen suchen. Fünf bis zehn Prozent, schätzt Hannelore Holsträter - genaue Zahlen fehlen. In der Schweiz und in Frankreich hingegen sind es zwischen 38 und 93 Prozent, je nach Befragung. Kritiker meinen, die Handschriftendeutung unterscheide sich nicht von Kaffeesatzleserei. Hannelore Holsträter räumt ein:

    "Sie ist wissenschaftlich nicht nachweisbar, aber sie hat entsprechende Erfolge. Wenn sie immer wieder Firmen haben, die darauf zurückgreifen als Baustein bei der Bewerberauslese und damit gute Erfahrungen machen - dann ist das für mich ein Beweis, dass Graphologie funktionieren kann."

    Übrigens: Wer eine Handschriftenprobe abgibt, zeigt sich mit deren Analyse einverstanden. So die Rechtslage. Letztlich entscheidet der Bewerber, ob er für ein Unternehmen arbeiten will, das der umstrittenen Methode vertraut.