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Was ein Kind zum Leben braucht

Fast zwei Millionen von insgesamt elfeinhalb Millionen Kindern in Deutschland leben am Existenzminimum. Die Kinder selbst werden, je nach Lebensalter, mit 60, 70 oder 80 Prozent des Hartz-IV-Satzes für einen Erwachsenen bedacht. Das Bundesverfassungsgericht muss nun entscheiden, ob diese Sätze zu niedrig sind.

Von Sandra Pfister | 19.10.2009
    "Einen Horror kriegen wir halt regelmäßig vor Weihnachten, weil kurz vorher hat noch die Tochter Geburtstag, und dann kommt ja noch Weihnachten, und man möchte den Kindern ja dann auch nen Tannenbaum hinstellen, es gab also Zeiten, wo wir sagen mussten, jetzt gehen wir in den Wald und gucken mal, ob wir ein paar Zweige finden. Da muss ich halt sagen, es war halt doch schon knapp. Das ist dann schon ne Sache, wo man schon mal schlucken muss. Wo man sagt, so, wir gehen jetzt nicht in die Stadt, weil da könnte man ja ein Eis essen wollen, wir haben zuhause ein Wassereis, ist entsprechend günstiger, und naja."

    Hilden bei Düsseldorf, ein abgewohnter Altbau an einer viel befahrenen Durchgangsstraße in unmittelbarer Nähe des Gewerbegebietes. Im dritten Stock wohnt Familie Beer, Achim, Susanne, die Kinder Lisa und Sebastian. Und die fünf Meerschweinchen, deren Käfige in Lisas tipptopp aufgeräumtem Zimmer stehen. Lisa ist nicht da, Onkel und Tante haben sie für ein paar Tage mitgenommen an die Nordsee. Denn die 12-Jährige soll mal rauskommen, auch wenn sie und ihre Eltern nach der landläufigen Definition "arm" sind, das heißt, von Hartz IV leben.

    "Wir sind jetzt schon gut vier Jahre nicht mehr in Urlaub gewesen zusammen, die Kinder waren jetzt letztes Jahr mit meinem Mann zusammen zur Vater-Kind-Kur, ich bin dann dieses Jahr zur Mutter-Kur gefahren, um auch mal rauszukommen, das hat dann alles die Caritas mit unterstützt, und da waren wir auch sehr froh, aber es war eben kein Familienurlaub."

    Susanne Beer ist 38. Die kleine, etwas untersetzte Frau mit den blonden, schulterlangen Haaren lässt sich auf einen blauen Stoffsessel fallen. Den hat sie schon zum x-ten Mal wieder neu bezogen – für neue Möbel fehlt seit Jahren das Geld. 711 Euro 60 Arbeitslosengeld I für Susanne Beer, 160 Euro aus einem Nebenjob, dessen größter Batzen mit dem Arbeitslosengeld verrechnet wird. Für den Mann und die Kinder kommen noch 644 Euro von Arbeitsamt und Kindergeldkasse hinzu – denn das Kindergeld wird mit den Hartz-VI-Sätzen für Kinder verrechnet. Insgesamt haben die Beers derzeit knapp 1600 Euro zur Verfügung im Monat für Essen, Miete, Strom, Kleidung, Schulbedarf, Versicherungen und Medikamente. Wenn alle laufenden Kosten bezahlt seien, rechnet Susanne Beer vor, bleibe der Familie pro Woche 100 Euro zum Leben. In Europa gilt – nach dem Maßstab der OECD - eine Familie mit zwei Kindern als armutsgefährdet, wenn sie weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens ihres Haushaltstyps zur Verfügung hat. Bei Familien mit zwei Kindern unter 14 Jahren betragen diese 60 Prozent 1.640 Euro.

    251 Euro pro Kind unter 14 Jahren – das sind 70 Prozent dessen, was ein erwachsener Hartz-IV-Empfänger zum Leben erhält. Kinder brauchen weniger als Erwachsene – diese Sichtweise machte sich die damalige Bundesregierung zu eigen, als sie den Sozialstaat reformierte und das neue Arbeitslosengeld I und II einführte, besser bekannt als Hartz IV.

    Doch dass bedürftige Kinder vom Gesetz wie kleine Erwachsene behandelt werden, die einfach weniger Geld benötigen, dass wollte dem Bundessozialgericht Anfang des Jahres nicht einleuchten. Deshalb hat es die Frage dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt. Dort wird nun morgen darüber verhandelt, ob die Hartz-IV-Sätze für Kinder zu niedrig sind.

    Achim Beer, ein großer, bärtiger Mann, war mal Zimmermann, er kann vieles selbst reparieren und aufpolieren. Ein Unfall, Allergien und Krankheiten kosteten ihn vor zehn Jahren seinen Job, seither hat er mehrfach umgeschult und kurz irgendwo gearbeitet, aber die Ernährerin der Familie, das war seine Frau. Eine gelernte Justizfachangestellte, die nach der Geburt der Kinder beruflich nur noch schwer Tritt fasste und immer mal wieder befristete Beschäftigungen fand.

    Seit zwei Jahren hat ihr Mann einen Magenbypass, seitdem ist er wieder arbeitsfähig. Aber es ist nicht gerade einfach für einen 45-Jährigen, der schwerbehindert ist und außerdem seit zehn Jahren keinen festen Job mehr hatte, einen Arbeitgeber zu finden. Seit Achim Beer wieder fit ist, hilft er fast täglich bei der Hildener "Tafel", einer katholischen Initiative, bei der sich Bedürftige mit Lebensmitteln versorgen können, die in den Supermärkten vergammeln würden. Mittlerweile nutzen 800.000 Menschen in Deutschland mehr oder weniger regelmäßig die Hilfe solcher Lebensmitteltafeln. Ohne das Obst und Gemüse, das er selbst dabei mitnehmen darf, würde es für die Familie manchmal richtig eng, sagt Achim Beer.

    So eng, dass Beers regelrecht erleichtert waren, dass ihre beiden Kinder jetzt keine Lust mehr haben auf Sport im Verein – obwohl sie wissen, dass ihnen das guttut. Ständig neue Schuhe und Sportkleider, lange Fahrten zu Auswärtsspielen – das ging der Familie finanziell an die Substanz.

    "Irgendwie, wenn vom Verein jetzt was gewesen ist, als die Kinder noch im Verein waren, wenn dann irgendwelche Fahrten anstanden, das mussten wir dann eben im Familienkreis – ja betteln möchte ich nicht sagen, aber den Hut rumgehen lassen -, dass man dann fragt, habt Ihr mal was übrig, dass der Junge dann auch mal mitfahren kann, er wird ja ausgegrenzt sonst auch."

    Keines der Kinder beschwert sich, auch wenn der dreizehneinhalbjährige Sebastian die Pullover so lange trägt, bis die Ärmel längst nicht mehr bis zu den Handgelenken reichen. Kleider holt die Familie fast immer aus der Kleiderkammer der Caritas.

    Die Beers sind kein Einzelfall. In Deutschland gilt jedes sechste Kind als arm. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD.

    "Natürlich ist Armut in München oder Magdeburg nicht dasselbe wie Armut in Mombasa oder in Mumbai. Da so zu tun, als sei das nicht vergleichbar oder als sei das keine wirkliche Armut, scheint mir, wenn man genauer hinsieht jedenfalls, falsch zu sein."

    "Woran wir die Armut sehr, sehr merken, ist beispielsweise, dass am Beginn der Woche, also montags in unseren Ganztagseinrichtungen, also in unseren Kindergärten, mehr gekocht werden muss, weil die Kinder ausgehungert aus dem Wochenende kommen."

    Kinderarmut in einem so reichen Land – wie kann das sein? Für den Kölner Armutsforscher Christoph Butterwegge ist das kein Widerspruch:

    "Es bekommen zwar die Familien viele Millionen und Milliarden Euro an Förderung, aber sie werden entweder mit der Gießkanne verteilt, davon profitieren dann die Armen wenig, oder aber sie werden so verteilt, dass die Wohlhabenden davon profitieren, und dann haben die Armen gar nichts davon."

    Nicht mal von der viel gepriesenen Familienpolitik der vergangenen Jahre? Nein, sagt Frank Hensel, Diözesan-Caritasdirektor im Erzbistum Köln. Von Elterngeld, Kita-Plätzen und Kindergelderhöhungen habe in erster Linie die Mittelschicht profitiert.

    "In der Weise, in der dort die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gestärkt worden ist, hat sie natürlich Familien was gebracht, aber eher nicht den armen Familien, wo oft ja keiner Berufstätigkeit nachgegangen werden kann. Das war also eher was, was nicht bei den Armen ankam. Ne Kindergelderhöhung kommt auch nicht bei den Armen an, sondern wird sofort am Sozialhilfesatz beziehungsweise am Arbeitslosengeld II wieder abgezogen. Das kam alles nicht an bei den armen Kindern."

    Deren Zahl in Deutschland seit rund 20 Jahren beständig wächst. Schuld daran sei aber nicht nur die Massenarbeitslosigkeit, ein sich verbreiternder Niedriglohnsektor und zunehmend prekäre Beschäftigungsverhältnisse, argumentiert Christoph Butterwegge. Auch die Familienformen selbst haben sich verändert. Immer mehr ziehen ihre Kinder allein oder in Patchwork-Familien auf, und die seien instabiler und stärker anfällig für Armut. Das führt er auch darauf zurück, dass sie in unserem Steuer- und Sozialsystem generell nicht so gut gestellt würden wie Normalfamilien.

    Nicht zuletzt aber schreibt Butterwegge dem Umbau des Sozialstaates ein gerüttelt Maß an Schuld daran zu, dass auch immer mehr Kinder in relativer Armut aufwachsen. Die Chiffre dafür ist Hartz IV. Kinder werden arm, wenn die Eltern arm sind – und seit dem ersten Januar 2005 ist die Arbeitslosenhilfe II genauso hoch oder niedrig wie die Sozialhilfe.

    "Wenn man vergleicht, wie hoch die Kinderarmut war bis zum 31. Dezember 2004, als sie, wenn sie arm waren oder in benachteiligten Familien, Sozialhilfe bezogen, und wie viele jetzt betroffen sind von Hartz IV, da stellt man fest, da hat sich die Zahl eigentlich verdoppelt. Auf dem Höhepunkt des letzten Wirtschaftsaufschwungs, im März 2007, wurde die traurige Rekordzahl erreicht: Mehr als 1,928 Millionen Kinder unter 15 Jahren lebten im März 2007 in SGB-II-Bedarfsgemeinschaften, landläufig Hartz IV genannt."

    Fast zwei Millionen von insgesamt elfeinhalb Millionen Kindern in Deutschland leben demnach am Existenzminimum. Die Kinder selbst werden, je nach Lebensalter, mit 60, 70 oder 80 Prozent des Hartz IV-Satzes für einen Erwachsenen bedacht. Mehr Geld gibt es nicht. Auch dann nicht, wenn ein Kind beispielsweise viele nicht-verschreibungspflichtige Medikamente braucht. Für Kinder bis sieben Jahre liegt der Regelsatz bei 215 Euro, Kinder zwischen acht und 13 erhalten 251 Euro. Jugendliche ab 14 bekommen 287 Euro. Frank Hensel, Diözesan-Caritasdirektor im Erzbistum Köln, hält die Sätze insgesamt für viel zu niedrig.

    "Das sind%abschläge von dem, was ein Erwachsener braucht. Es wurde gar nicht geschaut, was braucht ein Kind. Dass ein Kind mehr Bleistifte, mehr Zeichenblöcke, mehr Schuhe braucht als ein Erwachsener, das wird Ihnen mühelos einleuchten, das hat aber gar niemand sich so vor Augen geführt, sondern man hat einfach gesagt, Kinder sind soundso viel Prozent von einem Erwachsenen, hat das festgesetzt, weil mehr Geld war einfach nicht im Topf, und das reicht nicht, das ist völlig fremd und lebensfern und eigentlich auch gemein, was da beschlossen worden ist."

    Deshalb hat eine Familie dagegen geklagt. Das Bundessozialgericht in Kassel gab ihr Recht: Kinder von Arbeitslosen würden vom Staat verfassungswidrig kurzgehalten, meinten die Richter. Sie überwiesen den Fall Anfang des Jahres an das Bundesverfassungsgericht. Die Richter am Bundessozialgericht bemängelten vor allem, dass der Gesetzgeber nicht eigens ermittelt habe, wie hoch das Existenzminimum von Kindern sei. So wurde der Berechnung ihrer Regelleistung zum Beispiel kein Warenkorb zugrunde gelegt, der ihren wirklichen Mindestbedarf beschreiben würde. Und die Richter kritisierten, dass der Betreuungs- und Erziehungsbedarf von Kindern und etwaige Bildungsausgaben überhaupt nicht in die Hartz-IV-Sätze eingeflossen seien.

    "Wenn Sie das herunterrechnen und mal den Erwachsenenwarenkorb und den Abschlag für Kinder nehmen, dann kommen Sie bei unter vier Euro für Kinderschuhe raus im Monat. Überlegen Sie mal, wie lange Sie da auf neue Schuhe sparen müssen und wie oft ein Kind neue Schuhe braucht. Das geht überhaupt nicht, das muss kindgerecht berechnet werden, ich meine, das ist der wichtigste Schritt."

    Wie hoch diese Grundsicherung für Kinder sein soll, das will der Politologe Butterwegge vom Schreibtisch aus nicht entscheiden – dazu müssten Marktforschungsinstitute einen eigenen Warenkorb anlegen. Er bleibt aber dabei: Neben einer guten Ganztagsbetreuung und einer Gemeinschaftsschule, in der alle Kinder nach der vierten Klasse weitgehend gemeinsam unterrichtet werden sollen, sei eine höhere Grundsicherung Teil des Gesamtpaketes, das die Situation armer Kinder lindern könne. Doch wer so argumentiert, erntet nicht nur an deutschen Stammtischen häufig den Einwand: Wenn man das Kindergeld oder die Hartz-IV-Sätze erhöhe, dann investiere die sogenannte Unterschicht das ohnehin nur in Alkohol, Fast Food und Statussymbole – den Kindern komme das nicht zugute. Der Armutsforscher Butterwegge widerspricht vehement:

    "Also wenn man es mal genauer betrachtet, dann haben zum Beispiel die Untersuchungen, die wir gemacht haben in Bezug auf Kinderarmut, ergeben, dass es eher umgekehrt ist. Zwar gibt es Fälle, wo der Vater sich den Plasmabildschirm kauft, statt das Geld für die Kinder auszugeben. Aber die allermeisten Eltern, haben unsere Untersuchungen ergeben, verhalten sich genau umgekehrt wie dieser Vater. Die ziehen sich noch das letzte Hemd selber aus, bevor sie ihre Kinder spüren lassen, dass sie in einer armen Familie leben."

    Armut gilt in Deutschland noch immer als schuldbehaftet. Wer arm ist, hat sich einfach nicht genug angestrengt. Und obwohl sich alle politischen Parteien auf die Fahnen geschrieben haben, die Kinderarmut zu bekämpfen, herrscht weitgehende Gedankenarmut, was gezielte Maßnahmen angeht. Das könnte auch daran liegen, dass "arm sein" in Deutschland als relativ komfortabel gilt. Echte Armut, so das Vorurteil, herrsche anderswo auf der Welt, wo Kinder - im wahrsten Sinne des Wortes - nichts zu beißen hätten. Diese Relativierung lässt der Kölner Armutsforscher Butterwegge nicht gelten:

    "Ich würde sogar umgekehrt ganz prononciert die These vertreten: Armut in einem so reichen Land wie unserem ist insbesondere für Kinder und Jugendliche viel beschämender, bedrückender und deprimierender als arm zu sein in einem armen Land. Wenn ein Kind ausgelacht wird auf dem Schulhof oder von Cliquenmitgliedern, weil es im Winter Sandalen trägt und Sommerkleidung hat, ist es womöglich viel schlimmer, als wenn es abends ohne etwas zu essen ins Bett gehen muss."

    Armut ist mehr als ein Geldproblem. Denn gerade in wohlhabenden Gesellschaften zieht der materielle Mangel fast zwangsläufig geistige und soziale Verarmung nach sich. Caritas-Köln-Chef Hensel erzählt von den Sorgen einer Mutter, die sich regelmäßig an die Einrichtung wendet:

    "'Ich kann die Freunde meiner Kinder nicht zu uns nach Hause einladen, weil wir so wenig Platz haben. Darum werden auch meine Kinder nirgendwohin mehr eingeladen. So kommt es, dass sie auch noch ausgegrenzt werden. Wir sind gezwungen, ein Leben im Abseits zu führen.' Das trifft es sehr gut, es geht gar nicht mal so sehr nur um das Materielle, sondern um den Verlust dieses 'Wir schaffen das selber'. Das ist bei den Eltern der Fall, aber auch bei den Kindern. Dieses mangelnde Selbstvertrauen führt zu großen Lernschwierigkeiten, da fehlt einfach das Selbstwertgefühl, und dann türmen sich die Probleme sehr schnell auf."

    Mit Langzeitfolgen für die ganze Gesellschaft. Die Journalistin Huberta von Voss hat über Monate hinweg viele bedürftige Kinder begleitet, die in der Arche, einem christlichen Berliner Kinder- und Jugendwerk, Essen, Betreuung und vor allem Wertschätzung erfahren. Ihre Beobachtungen hat sie vor einem Jahr in einem aufrüttelnden Buch veröffentlicht.

    "Diese Kinder sind von außen betrachtet oft nicht so, wie man Kinder gerne sieht, nämlich einigermaßen strahlend, fröhlich, freundlich, höflich etc. Die Kinder sind davon überfordert und entweder, sie ziehen sich sehr stark in sich zurück oder sie randalieren, vielleicht auch, weil ihnen sonst niemand zuhört."

    Mit einer guten Ganztagsbetreuung könnten die Kinder aufgefangen werden, da sind sich die Experten einig. Bedürftige Kinder könnten in einem anregenden Umfeld oft besser gefördert werden als zuhause, und ihre Eltern, viele von ihnen alleinerziehend, hätten bessere Chancen auf einen Vollzeit-Arbeitsplatz, um sich selbst aus der Armut zu befreien.

    Umstrittener und ideologisch hart umkämpft ist hingegen ein weiterer Baustein der Armutsbekämpfung, die Gemeinschaftsschule. Unter Armutsforschern steht sie hoch im Kurs, weil gerade in Deutschland der Schulerfolg stark von der Herkunft und damit auch dem Geldbeutel der Eltern abhängt. Fakt ist: Das Bürgertum bleibt auf dem Gymnasium weitgehend unter sich, Kinder von bedürftigen, arbeitslosen Eltern landen oft nur auf der Haupt- oder Realschule. Reinhard Wolff, Professor für Sozialarbeit an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin:

    "Sie sind bereits schon vorher rausgeflogen aus unserer Gesellschaft. Das heißt, in den schulischen Einrichtungen hat man aus bestimmten sozialen Lagen heraus überhaupt keine Chance mehr, weil die Schule eine andere soziale Klassenstruktur hat, wenn man aus einer Unterschicht oder einem ausgegrenzten Milieu kommt, ist man in bestimmten Bildungseinrichtungen in Deutschland verratzt, auf Deutsch."

    Doch während die Gemeinschaftsschule in Deutschland auf absehbare Zeit Utopie bleibt, könnte sich an der Höhe der Hartz-IV-Sätze für Kinder bald sehr konkret etwas ändern. Das hätten die bedürftigen Familien dann allerdings nicht der zukünftigen Regierungskoalition zu verdanken – die wird die Hartz-IV-Sätze voraussichtlich beim Alten lassen. Von höherem Schonvermögen für die Altersvorsorge, wie sie CDU und Grüne derzeit anpeilen, werden die wirklich Armen und ihre Kinder kaum profitieren; sie haben kaum Vermögen, das sie für die Altersvorsorge zurücklegen könnten. Alles hängt nun von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes ab. Die hat schon jetzt ein Positives: dass über arme Kinder in einem reichen Land überhaupt wieder geredet wird. Christoph Butterwegge:

    "Nicht nur spenden für Afrika, sondern auch hingucken hier im eigenen Land, dass auch hier Kinder arm sind und mehr für die getan werden muss, als das bisher passiert."

    Familie Beer jedenfalls wünscht sich nichts mehr, als ihren Kindern endlich mal einen "normalen" Alltag zu ermöglichen. Einen, in dem ihre Kinder sich nicht ständig selbst beschneiden müssen.

    "Die nehmen sich auf jeden Fall zurück, die kennen das gar nicht anders, seit sehr langen Jahren ist es eben so, dass wir eben krebsen, in Anführungsstrichen."

    Ein sieben Euro teurer Lippenstift für Tochter Lisa, vor Kurzem ihr sehnlichster Wunsch – so was ist einfach nicht drin bei einem Budget von 251 Euro Hartz-IV-Satz für Kinder. Sebastian, ein sehr schüchterner, sehr dünner Rothaariger, beteuert, dass ihm nichts, aber auch gar nichts fehle. Manchmal opferten die beiden sogar Teenager sogar ihr knapp bemessenes Taschengeld, um ihren Eltern aus der Klemme zu helfen.

    "Gerade dann tut's auch weh, wenn die Kinder sagen, komm, ich lade dich jetzt zum Essen ein, komm, wir gehen jetzt ein Eis essen. Oder wenn man dann die Kinder anpumpen muss, hör mal, haste mal zehn Euro, kriegste dann nach dem Kindergeld dann wieder, wir haben den Kühlschrank leer, natürlich machen die das, aber das ist dann doch schon blöd."