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Was Europa im Innersten zusammenhält

Europa ist sein großes Thema. Der österreichische Schriftsteller Karl-Markus Gauß hat den verschwindenden Kulturen ebenso nachgespürt wie den geheimen Verwandtschaften. In seinem neuen Essayband geht es ihm um das ideelle Europa und seine Gefährdung durch haltlose Gambler.

Von Gisa Funck | 12.07.2012
    Zuletzt war Karl-Markus Gauß den aussterbenden Volksgruppen Europas auf der Spur. Sein neues Buch "Ruhm am Nachmittag" ist nun weitgehend zuhause entstanden. Denn diesmal geht es dem österreichischen Schriftsteller nicht um ein Europa der verschwindenden Kulturen, sondern um Europa als verschwindende Idee des toleranten Zusammenlebens. Also, um jenes Europa, das sich noch seiner geistig-moralischen Wertetradition bewusst ist – und sich nicht nur über den Euro definiert. Spätestens seit der Finanzkrise, so warnt Gauß, drohe dieses ideelle Europa unterzugehen. Umso mehr, als heute nicht einmal mehr die Finanzexperten selbst erklären könnten, nach welchen Regeln der global entfesselte Kapitalismus funktioniert:

    Kein Finanzwissenschaftler weiß dem ratlosen Publikum aus betrogenen Betrügern zu sagen, wo die ungeheuren Summen von Geld, die in den vergangenen Wochen vernichtet wurden, vorher waren und wohin sie jetzt verschwunden sind. Dass es das Geld, das die einen reich und die anderen arm machte, gar nicht gab, änderte nichts daran, dass die einen damit reich, die anderen arm wurden. Die feste Basis des Finanzwesens ist also seine Fiktionalität. Kein Schriftsteller, der von Berufs wegen mit Phantasien, Erfindungen und Obsessionen, Träumen und Ideen zu tun hat, kann darin mit den Menschen aus der Bankwelt konkurrieren, von denen man annahm, sie wären kühle Rechner mit buchhalterischen Talenten. Dabei sind sie Händler mit Träumen, Spieler mit Vermutungen, haltlose Gambler, die Realitäten schaffen und zertrümmern und, während sie ihren Platz vor dem Bildschirm gar nicht verlassen, weltweit tätig sind.

    Mit "Ruhm am Nachmittag" knüpft Gauß an drei frühere Jahresbücher an, in denen er schon die Jahre 2000 bis 2004 zeitkritisch unter die Lupe nahm. Bereits darin zog er sarkastisch gegen die "neoliberale Religion" zu Felde, wie er es nannte. Dieser Schreibmission bleibt der bekennende Linksliberale nun auch in seinem neuen Journal treu. Diesmal steht das Jahr 2009 im Mittelpunkt, ohne dass es sich bei "Ruhm am Nachmittag" allerdings um ein chronologisch geführtes Tagebuch handeln würde. Es ist auch keineswegs ein "Roman", wie der Zsolnay Verlag allen Ernstes im Pressetext behauptet – offenbar in der branchenüblichen Annahme, dass man heute angeblich nur noch Romane verkaufen kann. Nein, das neue Gauß-Buch ist stattdessen eine genreübergreifende, grob in drei Großkapitel unterteilte Sammlung von Betrachtungen, die mal private Erinnerung, mal die aktuelle Tagespolitik, dann wieder Lese-Erlebnisse oder auch allgemeine Gesellschaftstrends reflektieren. Ähnlich wie sein Vorläufer Karl Kraus versteht sich Gauß, Jahrgang 1954, als Zeitdiagnostiker und Aufklärer. Und die Bankenkrise ist für ihn nur ein besonders markantes Symptom für eine am Turbo-Kapitalismus erkrankte Konsumgesellschaft, die immer stärker sozial verroht. Sei es die Bildungsmisere oder die in Österreich verbreitete Ausländerfeindlichkeit, sei es die Witzlosigkeit von Lach-Yoga oder der Amoklauf von Winnenden, sei es die Kandidaten-Beschämung in TV-Castingshows oder das öffentlich inszenierte Sterben von Christoph Schlingensief: Das Abendland ist bei Karl-Markus Gauß zwar noch nicht untergegangen, aber es steht kurz davor - vor allem wenn er den Fernseher einschaltet und sich beispielsweise die Beerdigungsfeier von Michael Jackson anschaut:

    Ich suche im Fernsehen nach einem Reisejournal, einem Serienkrimi, einem politischen Magazin, aber so lange ich auch zappe, das Fernsehen gewährt mir den Wunsch nicht, der Trauerfeier von Michael Jackson zu entkommen. Heute wird scharf geschossen, aus allen Rohren und auf allen Kanälen. Dass es gelingt, die Gefühle global aufzurüsten, ist umso rätselhafter, als die Trauer keinem Menschen gilt, sondern einer medialen Kunstfigur. Die Messe verbindet Rührseligkeit und Gemeinheit, Kitsch und Barbarei so, dass aus den Millionen Trauernden eine Rührmeute wird, die sich von nichts mehr rühren lässt außer von der Inszenierung ihrer Rührung. Hunderte Millionen schauen zu und weinen die Tränen, die sie um sich selbst aus Selbstverachtung und um ihresgleichen aus sozialer Verrohung nicht weinen können.

    Tja, so kann man das sehen, wenn man Michael Jackson unbedingt nur als mediale Kunstfigur wahrnehmen möchte. Doch mal ehrlich: Ist die Erkenntnis wirklich so neu, dass der Fernsehruhm heute meistens nicht allzu rühmlich - und die Fernsehrealität heute meistens nicht allzu nah dran an der Lebenswirklichkeit ist? Wohl kaum. Wenn Gauß in "Ruhm am Nachmittag" zur Fernbedienung greift, schaltet man als aufgeklärter Leser tatsächlich schon bald innerlich ab. Denn dass vom Fernsehgeflimmer nur selten Gutes ausgeht, geschweige denn Erhellendes, ist mit Verlaub eine Binsenweisheit - zumindest für jenes Publikum, das lieber Gauß liest anstatt sich von Gottschalk und Co. berieseln zu lassen. Und genau das kann man dem neuen Journal des spitzzüngigen Kulturkritikers aus Salzburg auch vorwerfen. Nahezu alles, was Gauß darin als Meinung präsentiert, ist so politisch korrekt, dass man ihm eigentlich immer nur zustimmen kann. Schließlich – wer wollte ihm schon widersprechen, wenn er mahnend feststellt, dass Bildung heute allzu oft mit Ausbildung für den Arbeitsmarkt verwechselt wird? Oder dass Leistungssportler heute allzu oft nur als Hochleistungsmaschinen betrachtet werden? Oder dass unsere Mediengesellschaft zunehmend schlechter zwischen Schein und Sein unterscheiden kann – und darum immer seltener Begabung und Leistung für den Berufserfolg zählen? Das alles sind richtige, kritische Befunde. Allein: Besonders überraschend oder originell klingen sie nicht. Das alles hat man nicht zuletzt auch schon von den Presse-Kommentatoren des Jahres 2009 gehört.

    Von daher lohnt die Lektüre des neuen Gauß-Buches eher wegen jener Passagen, in denen der Herausgeber von "Text und Kritik" der Idee Europa fernab der Tagesaktualität in der Literaturgeschichte nachspürt. Wenn Gauß sich seine Gedanken zu den Tagebüchern von Sandor Marai, André Gide oder Cioran macht oder an weitgehend vergessene Schriftsteller wie Richard Bermann, Gert Jonke, James Boswell, Gregor von Rezzori oder Boris Pahor erinnert, ahnt man nicht nur, wie reichhaltig das geistige Erbe Europas tatsächlich ist. Man erkennt an diesen oft tragischen Schriftstellerbiografien eben auch, wie bitter erkämpft die humanen Standards der heutigen EU-Staaten sind - und wie schnell solche Standards in die Barbarei kippen können, sobald sich diese Länder nicht mehr ihres humanistischen Erbes bewusst sind.

    Karl-Markus Gauß: Ruhm am Nachmittag
    Zsolnay Verlag 2012, 288 Seiten, 20,50 Euro