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Was im Deutschen passiert

Der in Reinbek bei Hamburg geborene Autor und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt wird im Mai achtzig Jahre alt. Goldschmidt übersetzte Kafka, Nietzsche und Benjamin, Adalbert Stifter und fast das komplette Werk von Peter Handke. Der Zürcher Ammann Verlag brachte nun gerade ein neues Buch von Georges-Arthur Goldschmidt heraus. Es heißt "Die Faust im Mund".

Von Sigrid Brinkmann | 10.04.2008
    Immer wieder hat Georges-Arthur Goldschmidt in seinen autofiktionalen Prosawerken die in der Pubertät bestürzende Entdeckung des eigenen Körpers geschildert - zuletzt 2007 in dem Roman "Die Befreiung". Detailreich und obsessiv, nie jedoch ohne Scham, reflektiert er, wie die Züchtigungen seitens der katholischen Heimleitung zu einer Welt wurden, in der sein Erzähler - so Zitat - "sich endlich auskannte und zurechtfinden konnte". Indem er jeden Widerstand aufgab, triumphierte er über die Peiniger. Und die körperlichen Qualen vertrieben für eine gewisse Zeit das unstillbare Heimweh nach den in Deutschland gebliebenen Eltern.

    Die Selbsterforschung und schonungslose Offenheit, wie Jean-Jacques Rousseau sie in seinen "Bekenntnissen" pflegt, sind eine Richtschnur für Georges-Arthur Goldschmidts Literatur, die alles Erzählte stets mit dem nie vergehenden Schmerz über den erzwungenen Verlust von Familie, Sprache und Land verknüpft.

    In seinem neuen Buch "Die Faust im Mund" schildert der Autor, welche Texte ihn, den im Exil Lebenden, aus seiner Einsamkeit befreiten und - wie er es ausdrückt - "innere Trassen" freilegten. Er war fünfzehn Jahre alt, als er - immer in Angst, von der Gestapo aufgespürt zu werden - Pascals "Gedanken" las. An einem Tag im Oktober 1943 machte er die Entdeckung, nicht "gegen" die anderen zu existieren, sondern ihnen "zum Trotz". Das Staunen über das "Wunder der eigenen Existenz" hat ihn seither nicht mehr verlassen.

    " Ich stand da in einem kleinen Schlafsaal. Zu beiden Seiten gab es Fenster, und ich sah nur Himmel, so hoch lag das - man musste sich schon fast herauslehnen, um die Berge überhaupt zu sehen. Und urplötzlich wie ein Ramm fiel es in mich hinein: Aha, es gibt dich. Blitzartig stellte ich fest, dass ich da mit meinen Füßen senkrecht stand. Diese ungeheure Erfahrung der stummen, unpersönlichen Selbstheit. Seit 80 Jahren bin ich von mir begleitet, das finde ich so furchtbar ulkig. Und ich habe da entdeckt: Da ist einer, den du nicht loswirst, so würde ich das formulieren. "
    Die Anonymität des "Selbstseins" ist für Georges-Arthur Goldschmidt eine grundlegende menschliche Erfahrung. Sie bedeutet für ihn die "absolute Befreiung von jeglicher Zugehörigkeit" und macht alles Nachdenken und Reden über Identität hinfällig. Zu den folgenreichsten Entdeckungen seines Lebens gehörte die Lektüre von Franz Kafka. Der Buchtitel "Die Faust im Mund" ist einem Brief Kafkas entlehnt. Goldschmidts Schwager, der als letzter Assistent des Philosophen Edmund Husserl mit emigrierten Gelehrten in Verbindung stand, hatte 1946 zwei Exemplare des Romans "Der Prozess" erhalten - kurz nach dessen Veröffentlichung bei Schocken in New York.

    "Als ich das las, bekam ich einen Schlag auf den Kopf, den bin ich nie losgeworden. Ich habe gerade ein neues Buch, aber nur über Kafka veröffentlicht. Das heißt: "Der, den man sucht, wohnt gerade nebenan". Das ist ein Satz von Kafka. Das ist der Titel. Das sind 150 Seiten, nicht mal. Kafka ist für mich die absolute literarische Erfahrung mit Karl Philipp Moritz gewesen. Das ist das schönste Deutsch, das man sich vorstellen kann. Eine ungeheure Treffsicherheit, mit genau dem richtigen Wort. Der schießt immer in die Mitte
    der Scheibe, ohne diesen Wortgeschwulst, den man so gern mag. Sondern diese ganz genaue, wunderbare schlichte Sprache. Die Größe Kafkas kann man daran ermessen, dass es keine Übersetzungsprobleme gibt. Kafka lässt sich sehr leicht übersetzen. Das ist eine derart sprachliche Sprache."

    Kafka gehört für Georges-Arthur Goldschmidt "zum" - wie er schreibt - "kleinen Häuflein jener, die nie von Verachtung gestreift wurden". Seine Prosa schätzt er, weil sie jeden Leser auf den "ungreifbaren Teil" verweise, in dem jedes Sprechen gründe, "auf die namenlose Intimität, die ihn an der Gurgel packt, jedes Ding mittendurch schneidet und alles an seinem Platz lässt".

    Vom ersten Satz an las ich wie nie zuvor mit der unmittelbaren Gewissheit, nicht ausgeschlossen zu sein. Es gibt ein paar rare Bücher, die einen davon abhalten können, am Boden zu scharren, Gras auszureißen und die Jahre der Verzweiflung, unheilbare Trennungen, das verlorene Zuhause, die für immer entschwundene Mutter auf einmal zu beweinen. Sie spielen da, wo man selbst ist, in dem Zwischenraum, den die Worte durchstreifen, ohne ihn zuzudecken. Solche Bücher, wie "Der Prozess", spenden eine große Ruhe, eine eigenartige Linderung.
    Georges-Arthur Goldschmidt hat Kafkas "Prozess" und "Das Schloß" ins Französische übertragen. Die Übersetzertätigkeit, sagt er rückblickend, habe sein eigenes Schreiben völlig verändert. Während seine ersten Prosatexte "aufgebläht, wie von Louis-Ferdinand Céline beeinflusst, irgendwie boshaft und koloriert" gewesen seien, fand er in den 70er Jahren über die Treffen mit Peter Handke den Mut, sich selber mehr und mehr am Sehen zu orientieren. Privat hält er keinen Kontakt mehr zu Handke, den er in Frankreich durch Übersetzungen bekannt gemacht und dem er überdies eine Monographie gewidmet hat. Dessen rede am Grab des serbischen Diktators Milosevic dürften zu einer Entzweiung geführt haben. In seinem jüngsten Buch erwähnt Georges-Arthur Goldschmidt den Schriftsteller ein einziges Mal. Nur im Gespräch hebt er noch die Leidenschaft hervor, die beide als Autoren miteinander teilen.

    "Das neue Sehen der Alltäglichkeit. Wenn Sie den Bürgersteig wechseln, kommen Sie in eine andere Welt, nicht wahr, und er hat das wunderbar erfasst. Er ist wie der französische Philosoph Bergson, die sind sich sehr ähnlich. Was ich sehe, ist alles andere als evident. Eine Etagere ist keine Etagere. Ein Heft kann was anderes sein als ein Gebrauchsgegenstand. Wie sieht überhaupt alles Sichtbare aus, wenn es nicht zur Benutzung da ist. Diese elektrischen Birnen, die da liegen, diese wunderbaren silbernen Dinge, kann man auch anders als Elektrobirnen auffassen - also die Empfindung, deshalb habe ich mich so sehr mit ihm beschäftigt und 25 Bücher übersetzt."
    Wir erfahren in "Die Faust im Mund", was die Entdeckung des Dramatikers Antonin Artaud und die Poesie von Verlaine und Rimbaud für Georges-Arthur Goldschmidt bedeuteten. Flauberts Helden "Bouvard und Pécuchet" waren ihm Vertraute, weil sie der Lächerlichkeit trotzen und in ihrer Naivität niemandem Angst machen. Den Kapiteln der eigenen Bücher hat Goldschmidt häufig Zitate aus Karl Philipp Moritz Roman "Anton Reiser" vorangestellt. Er liebt diesen Roman aus dem 18. Jahrhundert, weil man durch Moritz' Beschreibung der "systematisch praktizierten Verrohung durch Erziehung" versteht, warum Pädagogen sich bis weit ins 20. Jahrhundert so gut auf Zucht und "Seelentötung" verstanden. Welchen Beitrag Philosophen im 20. Jahrhundert zur seelischen und sprachlichen Deformierung der Menschen geleistet haben, wird man im Herbst in Georges-Arthur Goldschmidts langem Essay "Heidegger und die deutsche Sprache" nachlesen können. Dass Martin Heidegger in Frankreich durch das Werben seines Übersetzers und Exegeten Jean Beaufret zu ungleich größeren und zweifelhaften Ehren kam als in Deutschland, ist für Georges-Arthur Goldschmidt ein Skandal. Die sprachliche Künstlichkeit Heideggers hält er für totalitär.

    " Ein Franzose kann keine Ahnung von der Deutschheit haben. Wenn er das hat, ist er kein Franzose. Das sind nicht mal Welten, das ist wie Sonne und Mond. Wie Hinterwelt und Vorwelt, die haben miteinander nichts gemein. Die armen Franzosen haben sich reinlegen lassen von ein paar jungen Leuten, die den Heidegger - als er verboten war - entdeckt haben, haben selber nichts verstanden, und das beruht alles auf unmöglichen Übersetzungen eines unmöglichen Textes. Ich habe selber Heidegger-Texte verfasst aus Jux! Mit "reichen". Das "Zugereichte" wird "vorgereicht". Das "Nachreichen" wird "hingereicht". Wie sollen diese armen Kerle wissen, was im Deutschen passiert, nicht wahr? Die wissen gar nicht mal, dass, wenn man der schutzlose Markt der Wechsler schreibt, da hört das deutsche Ohr sofort Wucher hinterher, das sind die Jidds. Das ist ein Verbrecher. Aber wie sollen die gutmütigen und naiven, snobistischen Franzosen etwas von Verbrechen überhaupt verstehen? Das deutsche Verbrechen ist anderen nicht zugänglich."

    Georges-Arthur Goldschmidt verschließt nicht die Augen vor der Kollaboration des Vichy-Staates, vor Denunziationen und Deportationen, die französische Behörden durchführten. Doch die Tatsache, dass er, und mit ihm zirka 230.000 Flüchtlinge versteckt und gerettet wurden, lässt für ihn persönlich keine Kritik an Franzosen zu. Vor allem Kafka hat er jungen Franzosen, die Deutsch lernen wollten, während seiner fast vierzigjährigen Lehrtätigkeit an Pariser Gymnasien nahe gebracht. Und gern zitiert er den Schriftsteller, der in einem Brief an einen Freund festhielt : "Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns". Es ist dieser Anspruch, dem sich Georges-Arthur Goldschmidt mit jeder neuen Publikation selber stellt. Mit dem Band "Die Faust im Mund" wird er ihm einmal mehr gerecht.

    Georges-Arthur Goldschmidt: "Die Faust im Mund".
    Aus dem Französischen von Brigitte Große
    Ammann Verlag, Zürich 2008