Donnerstag, 18. April 2024

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'Was Israel da macht ist Besatzung'

Farhat-Naser: Wir leben in vier voneinander getrennten Gefängnissen, dem Gazastreifen, der Stadt Jerusalem und ihrer Umgebung, dem Westjordanland nördlich von Jerusalem und dem südlich von Jerusalem gelegenen Teil des Westjordanlandes. In jedem dieser Gefängnisse gibt es kleinere Gefängnisse und darin sind Käfige und in den Käfigen kleinere Käfige. Von einem Gefängnis zum anderen zu gelangen ist sehr schwierig. Die israelischen Militärbehörden bestimmen über die Mobilität der Bevölkerung, über wirtschaftliche Entwicklung und Bildung. Das ist Besatzung.

18.04.2002
    Engels: Das war eine Passage aus dem Buch "Verwurzelt im Land der Olivenbäume". Es ist das neue Buch der Schriftstellerin Sumaya Farhat-Naser und sie hat selbst daraus gelesen. Sie ist jetzt zu uns ins Studio gekommen. Ich begrüße sie herzlich. Frau Farhat-Naser, es geht in ihrem Buch um das Misstrauen und die Missverständnisse zwischen Israelis und Palästinensern. Sie haben gerade angedeutet: Da ging es vor allen Dingen um die Schwierigkeiten der Bewegungsfreiheit. Wie sieht denn sonst derzeit Ihr Alltag aus?

    Farhat-Naser: Der Alltag ist alles andere als normal und diese Eingrenzungen der Lebensräume sind nicht neu, sondern haben begonnen, sich mit dem Friedensprozess zu manifestieren, so dass wir heute zwei Straßennetzsysteme haben, eins nur für Israelis, eins nur für Palästinenser, und überall sind die Checkpoints. Also, es kann keine wirtschaftliche Entwicklung stattfinden. Die Menschen können nicht zur Arbeit gehen. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 70 Prozent. Die Schulen funktionieren nicht, die Universitäten auch nicht, und vor allem ist die Angst da, ständig da, verhaftet zu werden. Tausende von jungen Menschen sind schon in Gefängnissen, und wir wissen nicht, wo sie sind und was mit ihnen geschieht. Und es sind Tausende, die schon verletzt sind und keine medizinische Hilfe haben. Und viele sind tot unter den Trümmern und können nicht geborgen werden. Es ist ein Kriegszustand, der sonderlich ist, weil die Gesetzte des Krieges nicht dort für den Schutz von der zivilen Bevölkerung gelten.

    Engels: Frau Farhat-Naser, das ist zum einen der Alltag, den sie beschreiben. Sie waren neben Ihrer Professorentätigkeit auch sehr stark lange Zeit politisch tätig. Sie waren Leiterin eines Frauenzentrums in Jerusalem, eine Funktion, in der sie Kontakt zu Israellinnen, zu Palästinenserinnen geknüpft haben, um zu versuchen, zwischen beiden Gruppen zu vermitteln. Diese Funktion haben Sie im vergangenen Jahr aufgegeben. Warum?

    Farhat-Naser: Weil es schwer geworden war, zu meiner Arbeitsstelle zu gelangen. Der Weg von einer halben Stunde ist zu drei bis vier Stunden geworden, und überall die Checkpoints und sogenannten Pufferzonen, wo ich immer aussteigen und zu Fuß laufen musste und immer der Gefahr der Gasbomben ausgesetzt war. Ich hatte wirklich jetzt mit der Zeit Asthmaanfälle aufgrund dieser Sache, und, vor allem ist mir die Arbeit nicht mehr möglich geworden, denn ich habe nicht nur Kontakte aufgesucht, sondern ich habe Trainingskurse gemacht: Vier palästinensische und israelische Frauen, wie sie Dialog führen, wie sie miteinander politisch arbeiten. Wir haben gemeinsame Treffen organisiert und all das ist unmöglich, einfach aufgrund der Sperren, aber auch weil die Menschen zunehmend das Gefühl haben: Das was hier gemacht wird ist alles andere als Frieden und das hat alles keinen Sinn. Und deshalb war es zunehmend schwer, Menschen zu finden, die mitmachen würden, und die palästinensische Bevölkerung war der Ansicht: Was hilft alles? Es ist alles umsonst. Sie sprechen vom Frieden, aber am Boden wird alles getan, damit die unterschriebenen Verträge nie umgesetzt werden können.

    Engels: Haben Sie denn jetzt noch die Möglichkeit, Kontakt zu den israelischen Frauen zu halten und was hört man von dieser Seite?

    Farhat-Naser: Die einzige Möglichkeit ist nur per Internet und per Telefon, und selbstverständlich habe ich sie liebgewonnen und die Freundschaft ist mir sehr, sehr wichtig, und vor allem sehe ich die Notwendigkeit, dass wir miteinander zum Wohle beider Seiten arbeiten, und deshalb beschränkt sich unsere Arbeit zur Zeit nur auf Koordinieren von Protestaktionen. Und die israelischen Friedensleute sind zur Zeit sehr aktiv in ihrer Gesellschaft, ermutigen Reservisten, dass sie nicht Militärdienst machen und leisten erste Hilfe und Unterstützung für die Bevölkerung und schreien laut gegen diese Ungerechtigkeit und gegen Unterdrückung und rufen nach Menschlichkeit und Menschenrechte. Allerdings sind das nur einige Hunderte. Ich wünschte, sie wären Tausende. Aber sie sind wunderbar und sie brauchen auch meine Stärkung und deshalb halte ich die Kontakte zu ihnen wach.

    Engels: Sie haben die Notwendigkeit des politischen Drucks angesprochen. Nun ist gerade aus der Region US-Außenminister Powell wieder abgereist, ohne greifbaren Erfolg. Ist die Enttäuschung groß?

    Farhat-Naser: Wir haben damit gerechnet, denn wir wussten was Powell macht. Er bringt keine politische Perspektive für die Menschen. Er kommt hin und sagt dasselbe wie Herr Scharon und die Israelis: Gewalt muss aufhören. Was die Israelis uns antun ist höchste Stufe der Gewalt. Und man kann nicht sagen: Kommt zur Vernunft. Es muss ein Prozess eingeleitet werden, dass sofort die Gewalt von beiden Seiten aufhört und dass den Palästinensern, die unter Besatzung leben das Gefühl gegeben wird, endlich geht die Besatzung zu Ende, und jetzt könnt ihr in Ruhe und Frieden leben. Und vor allem fordert er Sachen, die nicht realisierbar sind: Wenn Herr Arafat seit Monaten eingesperrt ist, wenn die Israelis das gesamte Sicherheitssystem zerstört haben, über hundert politische Führer hingerichtet haben, ein solches Chaos brachten, da kann kein Arafat und keine anderen 20 oder 50 Führer dann sagen: Stop. Selbst wenn sie diese Möglichkeiten hätten, gibt es immer Gruppen, die nicht hören wollen und sowieso gegen die Politik Arafats waren. Und deshalb muss man realistisch sein, zu sagen: Wir machen sofort einen Versuch. Wir zeigen, es gibt einen Weg. Gewalttaten werden noch weitergehen. Sie werden aber weniger und weniger und weniger parallel zu einem funktionierendem politischem Prozess. Wir können es nicht allein schaffen, dass diese Gelassenheit und Ruhe kommt. Deshalb brauchen wir internationale Einmischung, Involvierung, damit sie zwischen den Fronten da sind und den Palästinensern dieses Sicherheitsgefühl geben, dass sie nicht vom Staat, vom Militär angegriffen werden können. Das kann dazu führen, dass auch die palästinensische Bevölkerung sofort schreit und dahinter steht, gegen diejenigen, die in unserer Gesellschaft weiter Gewalt als Mittel ansehen. Ohne das zu vermitteln kann es nicht weitergehen.

    Engels: Sehen Sie da, wenn Sie zurückblicken, auch mögliche Fehler, die die palästinensische politische Führung gemacht hat? Die Fehler, die Israel gemacht hat, hatten Sie ja schon angesprochen.

    Farhat-Naser: Beide Seiten haben Fehler gemacht und auch falsch einkalkuliert was kommt. Ich glaube, dass wir sehr viel Selbstkritik zu üben haben und wir wissen ganz genau, wie es weitergehen sollte: Wir hoffen, dass wir vertrauenswürdige und auch verhandlungsfähige Gremien haben werden, die wirklich zum Frieden hinführen. Aber wir können das wiederum nur aufstellen, wenn der Kriegszustand zu Ende geht.

    Engels: ...wenn der Kriegszustand zu Ende geht. Sie haben angesprochen, man braucht dazu internationale Einmischung. Denken Sie, neben den USA können da die Europäer ein stärkere Rolle spielen als jetzt?

    Farhat-Naser: Ich glaube, die Europäer sind verpflichtet, jetzt hier ihre Verantwortung wahr zu nehmen, denn wir haben gesehen, dass es die USA alleine nicht geschafft hat, bzw. die USA steht hundertprozentig hinter Israel, und ohne das grüne Licht der USA hätten die Israelis diesen Wahnsinn und diese Zerstörung nicht machen können. Deshalb brauchen wir Europa zum mithelfen, dass die USA und die israelische Politik gemäßigt wird, und die Europäische Union weiß ganz genau, was los ist. Sie wissen, wie man es macht und deshalb haben wir großes Vertrauen zu den europäischen Staaten.

    Engels: Haben Sie die Hoffnung, dass Sie eines Tages die Arbeit in dem Jerusalem-Zentrum für Frauen wieder aufnehmen können?

    Farhat-Naser: Also, ich werde nicht mehr dorthin zurückkehren, denn ich möchte wieder zurück an die Universität, und ich habe erkannt durch meine Erfahrung der letzten Jahre, dass ich viel mehr erreichen kann, wenn ich mit Jugendlichen, Studenten und Schüler arbeite. Natürlich auch mit Frauen, aber nicht ausschließlich mit Frauen, und deshalb ist es für mich eine neue Aufgabe. Aber ich glaube, das Zentrum ist noch da und macht Kurse was Frauenangelegenheiten angeht. Die werden es auch weitermachen und sie warten auf die Zeit, dass sie noch einmal solche Arbeit mit den Israelis machen. Das wird irgendwann kommen, aber ich glaube, es wird Jahre dauern, weil das Misstrauen und die Ängste noch da sind und vor allem die tiefe Verbitterung und diese tiefe Trauer, von der fast jede Familie betroffen ist. Aber ich glaube, es wird erst einmal eine Zeit geben, wo wir Palästinenser zu uns finden müssen, an unseren Menschen arbeiten werden und unsere Kontakte mit den Israelis aufrecht erhalten werden für diese Stunde X, wenn es möglich wird, dass wir dann mit voller Kraft noch einmal unsere Friedensarbeit beginnen können.

    Engels: Vielen Dank. Wir sprachen mit Sumaya Farhat-Naser. Sie ist derzeit auf Lesereise in Deutschland, palästinensische Professorin, Friedensaktivistin und Schriftstellerin. Noch einmal kurz der Buchtitel. Der lautet: Verwurzelt im Land der Olivenbäume, und ist im Lenos Verlag erschienen. Er kostet 19,80 Euro.

    Link: Interview als RealAudio