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Was man von einigen Leuten nicht behaupten kann

Lorrie Moore ist eine junge amerikanische Schriftstellerin, die bisher zwei Romane und zwei Erzählungsbände veröffentlicht hat. Sie lehrt Anglistik an der University of Wisconsin in Madison. Mit dem Band "Was man von einigen Leuten nicht behaupten kann" legt sie eine Sammlung von Erzählungen vor, die in Amerika großen Anklang unter den Kritikern fand und es schließlich zum Bestseller gebracht hat.

Julia Franck | 10.12.2000
    Im Mittelpunkt ihrer Geschichten stehen fast ausschließlich Frauen, die einsam sind und sich trotz einer Familie oder einem Ehemann im Hintergrund in dieser Einsamkeit einrichten, als handele es sich dabei um ein endlich erzieltes postfeministisches Lebensgefühl. Oder, wie die Mutter einer jungen Frau in einer Geschichte zu ihrer Tochter sagt: "Die Frauen deiner Generation hoffen immer auf eine andere Romanze, als sie gerade haben."

    Doch vielleicht hat diese angestrebte Einsamkeit, in der ihre Protagonistinnen vorhersehbar zerbrechlich und zugleich stark erscheinen, weniger mit den Errungenschaften des Feminismus zu tun, als vielmehr mit den Liebeswehen einer amerikanischen Familienidylle, die es in der Literatur natürlich zu enttäuschen gilt. Zumindest zu entblättern. Wo sonst? Dieses amerikanische Familienidyll wird in seiner Zerstörung besonders deutlich. Nur das Verschwinden, die drohende Abwesenheit von Idyllen, Bräuchen oder Schönheit, läßt diese schmerzlich vermissen. In der Geschichte "Scharaden" heißt es gleich zu Anfang: "Die Familie wirkt auf Therese mittlerweile sowieso wie ein Pack Schmierenkomödianten; sie kommen an, spielen sich gegenseitig Theater vor und nehmen den frühestmöglichen Heimflug nach Boston oder Chicago"

    Und daher werden Gesellschaftsspiele veranstaltet, die sich offenbar gut eignen, denn: "Normalerweise zeigt ohnehin keiner in Thereses Familie echte Gefühle; stattdessen achtet jeder darauf – und zwar schneidig! -, wie er sich am besten darstellt".

    Besonders gut schafft es wohl die Mutter, die während des Spiels für eine richtige Antwort von Therese einen Kuß erhält und darauf ausgiebig strahlt: "Ihr Gesicht ist ein einziges Lächeln; sie liebt Zuneigung, ist hungrig danach und dankbar dafür. In jüngeren Jahren war sie eine frustrierte, böse Mutter, deshalb freut sie sich, wenn ihre Kinder so tun, als erinnerten sie sich nicht daran."

    Was hier unnötig ausgesprochen klingt, vielleicht etwas überdeutlich erklärt scheint, vermag Lorrie Moore in anderen Geschichten mit umso feinerer Akzentuierung zu erzählen. Häufig spielen in ihren Geschichten die Beziehungen von Mutter und Tochter eine wichtige Rolle. Und selbst wenn Moore diese nur am Rande schildert, ergibt sich aus der jeweiligen Mutter-Tochter-Beziehung soetwas wie die archetypische Beziehungskonstellation der jeweiligen Protagonistin.

    "Ihre Mutter hatte ihr den Namen Agnes gegeben, in dem Glauben, daß eine gutaussehende Frau noch viel mehr Furore machen würde, wenn sie einen reizlosen Namen hätte. Ihre Mutter hieß Cyrena und war in passendem Maße hübsch, hatte sich ihr Leben aber immer interessanter vorgestellt und gelaubt, als Enid oder Hagar oder Maude hätte sie bestimmt eine dramatischere, fasselndere Wirkung auf die Welt gehabt und wäre nicht in Cassell, Iowa gestrandet. Deshalb nannte sie ihre erste Tochter Agnes, und als sich herausstellte, daß Agnes ganz und gar nicht attraktiv war, sondern verquollen, häufig von Ausschlag zwischen den Augen geplagt und mit Haaren, deren stumpfe Farbe wie Galle aussah, ruderte ihre Mutter zurück und nannte ihre zweite Tochter Linnea Elise (die sich als ein wunderbares schläfriges Kind mit hervorragendem Knochenbau, einem goldigen, vollen Mund und einem gummiartigen Leberfleck über der Oberlippe entpuppte, den man später bestimmt problemlos entfernen konnte, da waren sich alle sicher.)"

    Die Geschichte "Willig" handelt von Sidra, einem kleinen Filmstar, den niemand kennt, auch Walter nicht. Lorrie Moore versteht es, gleich zu Beginn einer Geschichte das Spannungsverhältnis von Erwartung und Enttäuschung zu eröffnen: "In ihrem letzten Film hatte die Kamera auf der Hüfte verweilt, der nackten Hüfte, und obgleich es nicht ihre eigene Hüfte war, erwarb sie den Ruf, willig zu sein. "Du hast den Körper dafür", erklärten ihr die Studioleiter beim Mittagessen im Chasen’s."

    In der Glitzerwelt Hollywoods sind die meisten Helden kleine Würstchen, es wird viel über wichtige Projekte gesprochen und früher oder später gesellt sich zu dem Glamour der anderen eine hartnäckige Armseligkeit. Für die falsche Hüfte erhält Sidra obzsöne Anrufe und schlechte Drehbücher. Erschöpft trottet Sidra in ihr kleines, graues Leben zurück: "Und so verließ sie Hollywood. Rief ihren Agenten an und entschuldigte sich. Ging heim nach Chicago, mietete wochenweise ein Zimmer im Days Inn, trank Sherry und wurde ein bisschen mollig. Sie ließ ihr Leben öde werden – öde, aber mit Schokotörtchen."

    Und zwischen den Schokotörtchen taucht eines Tages Walter auf. Walter macht "irgendwas mit Autos". Und obwohl Sidras schwuler Telefonfreund klischeegerecht mit ihr psychologisiert und ihr rät, lieber mal eine Zeitlang allein zu bleiben, läßt sich Sidra ohne Umschweife und Romantik von Walter abschleppen. Am Anfang dieser Affaire fühlt sich Sidra taub und so, als sei irgendetwas in ihr in Warteposition. Weder Verliebtheit noch Leidenschaft will sich so recht einstellen. Walter kommt jede Nacht zu ihr, und als er einmal nicht kommt, weil er eine andere Frau kennengelernt hat und die Nacht mit ihr verbringt, fühlt sich Sidra den ganzen Tag zitternd und traurig. Doch während es zur Aussprache zwischen den beiden nicht Verliebten kommt, sieht er in ihren Augen nur noch aufgewühlt und verlogen drein, hat ein "schlecht aufgesetztes Gesicht". Betrogen fühlt sich Sidra um die einfachen Dinge, um "die radikale Ruhe der Belanglosigkeit, des Alltags, des tri-tra-trauten Heims". Trotz aller Selbstironie gab es auch in dieser Geschichte zu Anfang eine Begegnung zwischen Mutter und Tochter, die noch eine Ahnung von Nähe und Zärtlichkeit in sich trägt: "Umarmen, umarmen, umarmen, umarmen, umarmen. Ihre Mutter glaubte daran. Sie drückte so lang und fest zu, dass Sidra, wie ein Kleinkind oder eine Geliebte, darin versank, wie sie sich anfühlte und roch – ihre süßliche, trockene Haut, der graue Pfirsichflaum in ihrem Nacken".

    Die Geschichten von Lorrie Moore beginnen mit einer kleinen Veränderung im Alltag und werden von der Sehnsucht nach Nähe getragen. Diese Sehnsucht erfüllt sich nur in flüchtigen Augenblicken. Erlöst werden die Heldinnen von ihrer Einsamkeit nicht; die Einsamkeit ist es, die sie vielleicht sogar suchen, an der sie festhalten und in die sie nach kurzen Ausflügen zurückkehren, vielleicht, weil Sehnsucht sich nur in diesem hungrigen Zustand, nur in der Uneingelöstheit, so tief und süß und schmerzhaft spüren läßt. Was jenes Taumeln zwischen Belanglosigkeit und Einsamkeit vor Larmoyanz schützt und es erträglich macht, ist, daß die Protagonistinnen von Lorrie Moore über ihr Selbstmitleid lachen können – In der Geschichte "Immobilien" erinnert sich die krebskranke Ruth der ungezählten Liebchen ihres Ehemannes mittels der Silbe "Ha". Ha! Ha! Ha! heißt es dann über 1 ½ Seiten, und allein der Anblick dieser ausgeschrieben so unlustigen Silbe, die Monotonie dieser Liebchen und Lacher, läßt das Lachen des Lesers verstummen, es ist ein Lachen, das wir sehen, aber nicht hören, ein Lachen, das sich Ruth künstlich zugelegt hat, aber keines, das frei im Leser erzeugt wird. Der Zwang, den Moore in dieser Abfolge von Ha! Ha! Ha! sichtbar macht, hat etwas bitteres, aber auch tapferes. Im Halse bleibt das Lachen in Moores Geschichten meistens stecken. Hahaha, und verstummt, im Vakuum der Tragik noch bevor es herausbrechen kann. Durch die konsequente Abfolge der Geliebten gelangt Ruth zu der Einsicht, "die Sache einfach nicht allzu persönlich zu nehmen": Ja, das Leben war eine endlose Plage. Sie forschte Terences Aktivitäten einfach nicht mehr nach. Dampfte keine Kreditkartenabrechnungen mehr auf, hob nicht mehr "zufällig" den Hörer vom Nebenanschluss ab. Wie der Arzt, der die volle Remission ihres Tumors feststellte, einmal zu ihr gesagt hatt: "Es gibt nur einen Weg, absolut alles im Leben zu erfahren - die Autopsie."

    Das Vakuum der Tragik erzeugt ein schwarzes Lachen, ein dunkles, eines, das von keiner Autopsie ans Licht zu bringen wäre. So wenig wie die Angst, die Ruth kaum ausspricht, von der aber Lorrie Moore anhand von stellvertretenden Szenen zu erzählen weiß. So erscheint die Szene, in der Ruth auf der Suche nach einem neuen Haus mit ihrer Maklerin im Kino landet, in einer merkwürdigen Schwebe zwischen Witz und Komik, deren Trägerstoff die Angst ist: "Es war eine Nachmittagsvorstellung von Forrest Gump, und sie wurde tränenselig vor Schwäche, Schmerz und knochenzermürbender Langeweile. "Das war ja wohl das Ende der Karriere für den armen Tom Hanks. Jede Wette", flüstert Ruth noch ihrer Maklerin ins Ohr und freut sich, daß sie wenigstens Toffees gekauft hatten. Darüber läßt sich mit einem Auge frei lachen, denn jeder weiß, welcher Erfolg dieser Film mit seinen Witzen hatte, das andere Auge aber kann sich auch hier zwischen Lachen und Weinen schwer entscheiden, weil das prognostizierte Ende von Hanks Filmkarriere vom tatsächlichen Ende einer Ruth überholt werden dürfte, und Ruth in ihrer Gewißheit darüber einen solchen Witzfilm nur noch unter den Qualen "knochenzermürbender Langeweile" ertragen kann.

    Lustig wird diese Geschichte, als Ruth in dem neuen Haus versucht, ihre Ruhe zu finden und sich auf den seit fünf Jahren stets bevorstehenden Tod einzustellen und ein Mädchen an ihrer Tür klingelt: "Wir haben gehört, hier wäre eine Party", und als Ruth nicht reagiert, bekräftig das Mädchen mit dem milden und verlorenen Gesichtsausdruck ihre Überzeugung: "Ich und Arianna, wir haben unten auf der State Street gehört, dass hier eine Party wäre, genau hier in diesem Haus."

    Ruth drückt den Mädchen die Tür vor der Nase zu, aber ein vorsichtiger Blick aus dem Fenster zeigt, daß sich binnen kurzer Zeit ein ganzer Schwarm Teenager auf ihrem Rasen versammelt. Als Ruth auf ihre Veranda tritt, um die aufsässigen Jugendlichen fortzutreiben, hört sie plötzlich in ihrem Rücken die Stimme eines Jungen, der sich tatsächlich als der vermeintliche Gastgeber der Party ausgibt. Er gesteht, schon seit einiger Zeit einen Schlüssel zu Ruths Haus zu besitzen, er wohne auf dem Dachboden und heiße Tod. Ruth hat ihre liebe Müh, den Eindringling und seine Freunde loszuwerden. Sie droht mit der Polizei, bis die unwilligen Jugendlichen, die um ihren Spaß gebracht wurden, von dannen ziehen. Zurück bleibt nicht etwa der Eindruck, Lorrie Moore habe sich hier an einer Metapher erprobt und sich dabei kräftig überhoben, sondern die Idee vom Zufall. Das Aufeinandertreffen so grundverschiedener Lebenssituationen – der Wunsch nach Ruhe und Besinnung auf der einen Seite und das Verlangen nach Spaß und Zerstreuung auf der anderen, sie schaffen eine Absurdität, die wiederum Moores Versuch, über das Sterben zu schreiben, vor naheliegender Larmoyanz bewahrt.

    "Der Körper war ein süßer, dämlicher Hund, der lahm aufs Tor zutrottete, während man langsam wegzufahren versuchte, die lange Einfahrt hinunter. Nimm mich, nimm mich mit, bellte der Hund. Geh nicht, geh nicht, sagte er, rannte am Zaun entlang, fast Schritt haltend, aber nicht ganz, sein Spiegelbild ein schrumpfender Talisman in den Wagenspiegeln." Da hilft auch keine Autopsie. Denn: was bellt, ist noch nicht tot. Ist der Hund aber erst gestorben, wird auch keine Autopsie mehr seine Stimme zu Gehör bringen. Oder sollte Lorrie Moore die Tätigkeit des Pathologen im eigenen literarischen Unterfangen widergespiegelt sehen? Dann wäre Moore eine Pathologin des Scheiterns von Beziehungen, insbesondere solcher zwischen Müttern und Töchtern.

    "Was man von einigen Leuten nicht behaupten kann". Die Titelgeschichte des Erzählbandes von Lorrie Moore rückt wiederum die Beziehung zwischen Mutter und Tochter ins Zentrum. Abby wird von ihren Arbeitgebern auf einen anderen Posten versetzt – und damit es wie eine Beförderung aussieht, erhält sie einen Scheck. Eine schöne Reise soll sie machen, das wünscht man ihr. Abby macht diese Reise nicht etwa mit dem Ehemann, der sie seit Jahren zuhause langweilt, sondern mit ihrer Mutter. Zwei Amerikanerinnen, die Mutter zu einem Sechzehntel Irin, durchkreuzen gemeinsam Irland und geraten auf der Suche nach altertümlichen Wurzeln an die alten Grenzen zwischen Müttern und Töchtern: "Vielleicht hatte ihre Mutter ihr niemals Zuneigung gezeigt, nicht richtig, aber sie hatte ihr ein Händchen fürs Alleinsein mitgegeben, das Alleinsein mit seinen furchtbaren Sprüngen nach draußen und seinem weichen Zurückgleiten in Ruhe und Frieden. Deshalb wollte Abby einen Trinkspruch auf sie ausbringen. Eigentlich war doch die Welt unsere brutale Mutter, die einen aufzog und vernachlässigte, und die eigene Mutter stellte in dieser Welt nicht mehr als ein Geschwisterchen dar." SPR1: Noch immer läßt sich schwer entscheiden, wieviel Ironie und wieviel Ernsthaftigkeit in Moores ausgesprochener Psychologisierung ihrer Figuren steckt. Hin und wieder fühlt man sich etwas bevormundet, wenn sie auf so deutliche Weise ihre Protagonistinnen den Blick auf die Mutter verraten läßt – ein Blick, der mitsamt seiner Enttäuschung doch ein Klischee von Wahrnehmung und Aufarbeitung bedient. Zugunsten der Autorin mag man entscheiden, daß auch diese plumpe Zuweisung von Rollen zwischen Mutter und Tochter ein erzählerisches Mittel ist, das die Hilflosigkeit der sich längst emanzipiert glaubenden Tochter veranschaulicht. Eine Hilflosigkeit gegenüber den eigenen Ansprüchen, Möglichkeiten und unzulänglichen Fähigkeiten. Und sei es nur die Fähigkeit, der banalen Tatsache ins Auge zu blicken, daß es weniger das Leben an sich ist, als die archetypische Konstellation zwischen Mutter und Kind, die das Alleinsein früher und später erfordert – weil der Mutter nichts anderes bleibt, als sich von ihrem Kind zu trennen – anders wäre Leben wohl kaum möglich. Daher erscheint es wohl weniger eine Gabe des Lebens zu sein als eine Bedingung.

    Das ist weder tragisch noch lustig, wird aber interessant, wenn sich so eine Tochter wider besseren Wissens mit der Mutter auf eine Reise macht, der offenbar die Sehnsucht nach Bindung, nach Nähe und überhaupt dem Zustand zugrundeliegt, der mit der Geburt unwiderruflich aufgelöst wird.

    Die Reise von Mutter und Tochter ist entsprechend spannungsgeladen. Beide ringen um ihre Souveränität und positionieren sich zueinander. Während Abbys Mutter ihrer Tochter Ängstlichkeit in den alltäglichen Dingen unterstellt, rät sie ihr beständig dazu, an der vernachlässigten Ehe festzuhalten. Abby ist mit Bob verheiratet, doch was sie an ihrer Ehe schätzt, ist eine "Mischung aus Einsamkeit und Lust und Gewohnheit, die sie immer mit Bob empfand, diese Mischung, die bestimmt Liebe war".

    Sicher sind sich Moores Charaktere ihrer Beziehungen selten. Doch ist es genau die Unsicherheit im Zusammentreffen mit der Sehnsucht nach "soetwas wie Liebe und Geborgenheit", die ihre Begegnungen so spannend macht. Da liest man auch gern mal über so zähe Bilder hinweg, wie: "Das Reden über Abbys Ehe und ihre mögliche Abdankung trottete auf der Straße vor ihnen her wie eine Herde Schafe, Schafe der Schlaflosigkeit, und bald war Abby so weit, dass sie sich eine Waffe wünschte."

    Vielleicht läßt sich die Qualtität von Moores Schreiben an eben dem Spagat zwischen Tragik und Komik, zwischen Larmoyanz und Lakonie und schließlich zwischen Einfalt und Ironie messen. In der Geschichte "Tanz in Amerika" gelingt ihr dieser Spagat auf verunsichernde Weise. Eine Tanzlehrerin besucht nach vielen Jahren ihren alten Freund Cal, der zurückgezogen mit Frau und Kind lebt. Bei einem trauten Abendessen erklärt sie ihren Gastgebern, daß Tanz entsteht, wenn sich ein Moment des Schmerzes mit einem Moment der Langeweile verbindet. Sie erklärt allerhand Kluges, bis sie endlich mit dem Tanzen beginnt. Cal und seine Frau Simone tanzen mit ihr, und auch der Sohn tanzt, solange, bis er sich mitten im Lied auf das Sofa setzt. Erschöpft schaut er den Erwachsenen zu: "Cals Sohn Eugene ist sieben und hat Mukoviszidose", heißt es lapidar, und die Tanzlehrerin erfährt bei diesem Tanz, daß es um mehr geht, als das "Greifen des Körpers nach der Luft, die er sich zuführen möchte". Es geht um einen Augenblick Leben, und nicht zuletzt wieder um Nähe und Berührung. Eugenes Leben ist ein einziges Rennen mit der medizinischen Forschung. "Es ist ja nicht so, daß ich nicht für die Kunst wäre, sagt Cal. "Du bist hier; Kunstsubventionen haben dich hierher gebracht. Das ist wunderbar. Es ist wunderbar, dich nach all den Jahren wiederzusehen. Es ist wunderbar, Kunst zu subventionieren. Es ist wirklich wunderbar. du bist wunderbar. Kunst ist so schön und wunderbar. Aber im Ernst: Ich sage, gebt alles Geld, jeden letzen verdammten Cent, der Wissenschaft."

    Das Bild der im Unglück vereinten Familie verdichtet sich, liebevoll und harmonisch, so daß die Tanzlehrerin auch mal wie ein Fremdkörper in der von ihr geschilderten Idylle erscheint. Eine Idylle, der nicht einmal der Bruch fehlt – jener notwendige Moment von Schmerz und Langeweile, der das Tanzen erst beginnen läßt und der Mission ihren Inhalt geben wird: This is it, singt Kenny Loggins zu diesem "Tanz in Amerika": "Wir bilden eine Phalanx und marschieren, stolzieren, schreiten zu der Musik. Wir gehen in die Hocke, bewegen uns rückwärts und stürmen wieder voran. Wir wollen den schimmligen, harzigen, süßen Geruch des Tanzes hervorbringen, die zerlegte, wiederholte Bewegung. Cal und Simone sind voll dabei. Sie hüpfen und haken sich unter. "This is it!" Mitten im Lied muss sich Eugene plötzlich ausruhen und aufs Sofa setzen und schaut den Erwachsenen zu. Wie die besten Tänzer und Zuschauer der Welt ist er fest entschlossen, erst am Schluß zu husten. So bieten wir uns dar, betreten den Himmel, sprechend; wir sagen mit, mit Bewegungen im Raum: So weit ist das Leben hier unten bislang gekommen; das ist alles, all das, was es hingekriegt hat - diesen Körper, diese Körper, den Körper da - also, was hältst du davon, Himmel? Was, zum Teufel, hältst du davon?"

    Moores Helden sind nicht nur einsame Menschen, Verlierer und Außenseiter. Was sie auszeichnet sind Mut und Beharrlichkeit – stets hoffen sie bei aller Einsamkeit auf Liebe, manchmal suchen sie die Berührung und selten scheuen sie Fehler. So mißrät ihnen mancher Lebensversuch, was sie auf ganz peinliche und berückende Weise menschlich erscheinen läßt. Daß Moore auf diese Peinlichkeit zusteuert, läßt nicht nur ihre Helden, sondern auch sie selbst als Autorin mutig erscheinen. Nur manchmal mutwillig.