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Was Menschen einander antun

Der bereits kurz nach Ende des Falklandkrieges erschienene Roman erzählt die imaginäre Geschichte argentinischer Deserteuren, die sich tagsüber in bergwerkartigen Stollen versteckt halten und nachts mit den Briten Handel treiben.

Von Martin Grzimek | 10.06.2011
    Der Pichi ist ein Tier, das unter der Erde lebt. Es baut Höhlen. Es hat eine harte Schale - einen Panzer - und sieht nichts. Es ist nachts unterwegs. Packst du den Pichi und drehst ihn um, kommt er von sich selbst nicht wieder auf die Beine, er bleibt strampelnd auf dem Rücken liegen. Er schmeckt köstlich, besser als Visacha.

    Ein Pichi oder Pichiciego stammt aus der Familie der Gürteltiere und lebt hauptsächlich im Süden Lateinamerikas. Der argentinische Lyriker und Romancier Rodolfo Enrique Fogwill, der 69-jährig vor wenigen Monaten in Buenos Aires gestorben ist, hat ihm in seinem Roman "Die unterirdische Schlacht" ein Denkmal gesetzt.

    Erschienen ist der Roman bereits 1983 nach Beendigung des Falklandkrieges, jenes absurden Unternehmens Margret Thatchers, das viele hundert Soldaten das Leben kostete in einem sinnlosen Kampf um eine unwirtliche halb verlassene Insel vor der argentinischen Küste. Einzig den Umstand, dass dieser Krieg zugleich die Diktatur in dem südamerikanischen Land beendete, kann man ihm zugute halten.

    In Fogwills Roman erfahren wir darüber allerdings nichts. Er beschreibt das Leben von gut zwei Dutzend argentinischen Deserteuren, die sich in bergwerkartigen Stollen versteckt halten und zugleich einen blühenden Handel mit dem britischen Feind treiben. Wie die Pichis kommen sie nachts in kleinen Stoßtrupps aus ihrem Erdloch hervor, schleichen sich zu den Stellungsgräben der Briten, geben an sie Informationen weiter oder führen für sie Sabotageakte aus und erhalten dafür Zigaretten, Lebensmittel oder Kerosin, um in ihrem geheim gehaltenen Stollensystem zu überleben.

    Während ihrer Zeit im Untergrund entwickeln sie auch ein eigenes System von Befehlsgewalt und Abhängigkeiten. Vier sogenannte Könige sind die Anführer der Truppe, darunter auch Quiquito, der die Geschichte zu erzählen scheint. Zumindest macht er Notizen oder Tonbandaufnahmen, in denen er kleine Episoden festhält, die Situation der Eingeschlossenen beschreibt und deren Schwierigkeit, in den engen Stollen unter der Erde miteinander auszukommen. Eines der wichtigen Themen ist zum Beispiel die Notdurft. Denn während des Krieges gab es keine Lieferungen des Chemiepulvers mehr, mit dem der Kot in den Unterständen neutralisiert werden konnte.

    Wenn man dieses Chemiezeugs hat, dann können einer, zwei, sogar vier oder fünf auf den Boden scheißen, und die Scheiße trocknet, stinkt nicht, sie zieht sich zusammen, und derart komprimiert kann man sie am nächsten Tag mit den Händen entfernen, das ist nicht eklig, sondern so, als handle es sich um einen Stein oder um Vogelkacke. (...) Ohne Pulver muss man im Freien scheißen, in der Kälte, nachts, damit niemand den Eingang zur Rutsche entdeckt. (...) Wenn man bei Tag scheißt, läuft man Gefahr, mit einem Schuss erledigt zu werden. Da gibt es immer einen, der auch ohne Befehl, nur um seine Treffsicherheit zu beweisen, schießt, sobald er einen aus der Ferne alleine scheißen sieht. Aber nachts zu scheißen, bei acht Grad unter null, das ist die Hölle, nur andersrum.

    Solche kriegsrealistischen Szenen durchziehen den ganzen Roman. Fogwill, der weder in den Falklandkrieg involviert war noch beim Militär gedient hat, erweist hier eine erstaunliche Imaginationskraft und reduziert den Krieg auf seine wesentlichen Momente: Tod und Angst, Schmerzen und Entbehrungen, fehlende sexuelle Befriedigung und die öde Langeweile der Untätigkeit oder des Wartens. Dabei erhebt der Roman nirgendwo den Anspruch, über die Widrigkeiten des Krieges zu berichten, sondern er nimmt bis zu seinem Ende hin, wenn nach der Kapitulation der Argentinier ein Großteil der Pichis in ihrem Erdloch ersticken, immer mehr die Form eines Gleichnisses an.

    Der Autor hat einmal gesagt, ihn interessiere nicht so sehr das Erzählen selbst, ihm gehe es eher um das Wie des Erzählens. Nun kann man zwar beides nicht voneinander trennen, doch in dem Statement liegt eine deutliche Betonung, dass das Erzählen, indem es sich von der Faktizität des Erlebten entfernt, eine Eigenständigkeit erhält, durch die es erst möglich ist, sich der Realität zu nähern und sie im übertragenen Sinne "wirklich" werden zu lassen. An einer Stelle versucht Fogwill darzustellen, wie sehr es ihm um dieses "wirken" geht:

    Weder Filme noch Geschichten lassen sich behalten. Man hört sie sich an und hat seinen Spaß daran, aber dann, wenn um Mitternacht jemand neu dazukommt und man will ihm die Witze oder die Filme erzählen, dann weiß man kaum noch die Hälfte. (...) Man vergisst doch das meiste, was man erzählt bekommt. Geschichten, Filme, die vergessen sich leicht. Wie Träume.

    Als Fogwills Roman von seiner "Vision einer unterirdischen Schlacht", wie der Untertitel im Original heißt, kurz nach Kriegsende erschien, wurde er schnell zum Kultbuch. Dies erfolgte gewiss nicht deshalb, weil er die Gräuel des Krieges und in Andeutungen die Auswüchse der Diktatur anprangerte, sondern weil er gleichnishaft die Absurdität eines Systems aufdeckte, in dem das Leben zum Witz und zu einer der schnell vergessenen Geschichten wird. Die Verwunderung und das entsetzte Staunen darüber, was Menschen einander antun können, zieht sich als roter Faden durch diesen, von Dagmar Ploetz hervorragend übersetzten, sensiblen und nach wie vor aktuellen Roman, ein Staunen, das auf besondere Weise unheimlich ist:

    Auch wenn man die Geschichte, die einem erzählt wird, nicht unheimlich findet, auch wenn man sie nicht glaubt, ist es doch unheimlich zu spüren, wie unheimlich sie dem ist, der sie erzählt, wenn er sie erzählt.

    Rodolfo Enrique Fogwill: "Die unterirdische Schlacht". Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Rowohlt Verlag, Reinbek, 2010, 190 Seiten, 19,90 Euro.