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Was passiert, wenn Turin auf Brecht trifft

Auf italienische Theaterbühnen kann man in diesen Wochen Werke deutscher Autoren entdecken: In Turin veranstaltet das Goethe-Institut gerade eine Bertolt-Brecht-Woche. Zu sehen: Inszenierungen des Fatzer - Fragments. Das sind Bruchstücke über Kriegsdeserteure. Sie sind aus einem gemeinsamen Projekt der Volksbühne Berlin und dem Teatro Stabile Turin entstanden.

Von Henning Klüver | 08.02.2012
    Fatzer geht über die Alpen. In den vergangenen Tagen wurde zum Auftakt der Turiner Brecht-Woche vom Teatro Stabile die Inszenierung von Fabrizio Arcuri gezeigt. Ihr folgt jetzt in der zweiten Wochenhälfte eine Arbeit der Volksbühne Berlin, für die René Pollesch das Fatzer-Fragment unter dem Titel "Kill your Darlings!" eingerichtet hat. Das Turiner Goethe-Institut hat die beiden Theater zu diesem Projekt zusammen geführt und sie dabei über eine längere Zeit begleitet. Denn es geht hier um mehr, als nur um einen Austausch von Gastspielen, wie die Institutsleiterin Jessica Kraatz Magri erzählt:

    "Insofern ist das ein Austauschprojekt auf ganz verschiedenen Ebenen. Einerseits mündet es jetzt in diese zwei Theaterproduktionen. Und wir hatten vor gut anderthalb Jahren einen vorbereitenden Workshop, wo einige Dramaturgen der Volksbühne Berlin nach Turin gekommen sind, um dann hier mit Schauspielern der italienischen Produktion und mit jungen Theatermachern der Turiner Szene sich einzelne Teile anzugucken und zu schauen, was da passiert, wenn Turin auf 'Fatzer' trifft."

    Im Fatzer geht es um eine Gruppe von Kriegsdeserteuren. Einer von ihnen soll von seinen Genossen hingerichtet werden, weil er mit undisziplinierten Handlungen die Gruppe in Gefahr bringt. Brecht selber hielt nach langer Beschäftigung Ende der 20er Jahre des vergangenen Jahrhunderts das Stück für unspielbar und brach die Arbeit daran ab. In Turin brennen Autos auf der Bühne und explodieren Bomben. Fabrizio Arcuri hat das Fragment wie einen Spielfilm mit viel Action und dramatischer Musik inszeniert. Denn für den italienischen Regisseur führt der Fatzer geradewegs in die Gegenwart.

    "Das ist zweifellos ein prophetischer Text. Er zeigt den Versuch, sich gewaltsam gegen Staatsmacht zu wehren, wie das auch viele Jahre später im Terrorismus der 'bleiernen Zeit‘ passiert ist, wobei Deutschland und Italien gleichermaßen betroffen waren, also mit der Gruppe Baader-Meinhof und den Roten Brigaden."

    Ein neues Interesse an Brecht zeichnet sich ab. In Turin wie in Mailand. In der lombardischen Metropole wird Luca Ronconi Ende Februar am Piccolo Teatro "Die Heilige Johanna der Schlachthöfe" inszenieren. Im März kommt eine Aufführung des "Arturo Ui" ins Teatro Elfo Puccini. Das scheint mehr als eine zufällige Häufung. In Krisenzeiten bekommen Brechts Stücke eine neue Aktualität. Davon ist jedenfalls der Germanist Marco Castellari überzeugt, der an der Universität Mailand unterrichtet:

    "Ich würde schon sagen, dass eine politische Brisanz auch mitspielt. Also es war in den letzten Jahrzehnten so, dass Brecht eher als Klassiker aufgeführt wurde. Und es ist sicher kein Zufall, dass jetzt vor allem die Stücke der 20er- und 30er-Jahre im Mittelpunkt stehen, also nicht mehr Galilei oder Mutter Courage, die Parabelstücke, sondern diese Stücke aus den 20er-Jahren vor allem."

    Außerdem war in Mailand gerade eine Bühnenfassung der Erzählung "Kassandra" von Christa Wolf zu sehen. Deutsche Autoren rücken in diesen Monaten stärker ins Blickfeld der italienischen Theater. Das hat vielleicht damit zu tun, dass die Bundesrepublik in den vergangenen Jahren politisch in Europa eine immer wichtigere Rolle übernommen hat. Dennoch bleibt die Wahrnehmung gesellschaftlicher und kultureller Themen aus Deutschland in Italien begrenzt. Marco Castellari:

    "Also die deutschen Themen, die hier zurzeit das Publikum interessieren, sind immer noch: deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Teilung und dann die Wiedervereinigung, aber was jetzt, also in dieser Zeit, in Deutschland passiert, ist nicht so sehr im Blick des italienischen Publikums."

    Das Turiner Goethe-Institut hat vorgemacht, wie man eine kulturelle Begegnung von Theater unterschiedlicher Sprachen über die Form reiner Gastspiele hinaus organisieren kann. Für die Italiener bleibt jenseits von Bertolt Brecht und Christa Wolf noch viel deutsche Gegenwart zu entdecken.