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"Was wirklich erforderlich ist, ist Druck"

Die deutsche Sektion von Amnesty International hat gefordert, den moralischen und politischen Druck zur Einhaltung der Menschenrechte in China aufrecht zu erhalten. Die Vergabe des Friedensnobelpreises an den Dissidenten Liu Xiaobo gebe hierfür ein klares Signal, sagte ai-Generalsekretärin Monika Lüke.

Monika Lüke im Gespräch mit Christoph Heinemann | 10.12.2010
    Christoph Heinemann: Liu Xiaobo hat heute einen Termin in Oslo, er ist aber verhindert. Seine Gefängniswärter lassen ihn nicht in die norwegische Hauptstadt reisen, wo er heute mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden sollte. Dieses Verbot gilt gleich auch für seine Familie und die Schwestern und Brüder im Geiste, das heißt andere Kritiker des kommunistischen Regimes. Früher nannte man so etwas Sippenhaft. Apropos, der erste Ausgezeichnete, dem der Friedensnobelpreis während der Haft zuerkannt wurde, war 1936 der deutsche Publizist Karl von Ossietzky, Herausgeber der "Weltbühne", der damals im Konzentrationslager Papenburg-Esterwegen saß. - Wir haben vor dieser Sendung mit Monika Lüke, der Generalsekretärin der Menschenrechts- und Gefangenen-Hilfsorganisation Amnesty International, das folgende Gespräch aufgenommen. Frau Lüke, wie geht es Liu Xiaobo?

    Monika Lüke: Wie es ihm genau geht, wissen wir leider nicht. Amnesty International kann nicht nach China ins Land. Dennoch hatten wir lange Zeit Kontakt zu seiner Frau. Das ist aber nicht mehr möglich, seit die unter strengem Hausarrest steht. Auch die hat ihn im Oktober das letzte Mal gesehen. Liu Xiaobo sitzt im Nordosten Chinas in einem Gefängnis, in einer Zelle gemeinsam mit fünf anderen Männern. Sie haben zweimal am Tag Ausgang, eine Stunde morgens, eine Stunde abends. Das ist die einzige Zeit, zu der sie Licht sehen. Liu Xiaobo hat sich aber ja jetzt geäußert zum Friedensnobelpreis und hat eben noch einmal uns allen Mut gemacht, weiter ihn zu unterstützen.

    Heinemann: Gibt es irgendwelche Informationen darüber, ob der Preis seine Lage verbessert oder verschlechtert hat?

    Lüke: Wir hoffen sehr, dass sich die Lage langfristig verbessert. Wir wissen es natürlich nicht. Aber unsere Hoffnung gründet dadurch, dass sich derzeit die Charta 08, das Dokument, für dessen Verbreitung er ja in Haft sitzt, rasend in China verbreitet. Es gibt mehrere Tausend Unterzeichner. Amnesty weiß von Menschen, die für die Charta auf die Straße gehen, trotz Drangsalierungen. Und es gibt natürlich andere Beispielsfälle, die immer wieder zeigen, dass sich Engagement lohnt und dass sich auch unser Druck auf die Regierungen lohnt. Zuletzt Suu Kyi, die nach über 20-jährigem Hausarrest letztlich in Myanmar freikam, auch ein Amnesty-Fall, auch eine Gefangene, für die wir alle Unterschriften gesammelt haben.

    Heinemann: Aung San Suu Kyi meinen Sie, genau in Birma.

    Lüke: Ja.

    Heinemann: Was muss man in China eigentlich genau sagen, um als Regimekritiker verfolgt zu werden? Ab wann beginnt das?

    Lüke: Das ist gerade das Problem. Es gibt überhaupt keine rote Linie, was erlaubt ist und was nicht. Es herrscht pure Willkür. Einerseits haben wir Ai Weiwei, einen anderen Künstler, der in der Vergangenheit häufig regelmäßig reisen durfte ins westliche Ausland, auch nach Deutschland erst vor einigen Wochen. Auch diesem Künstler haben die chinesischen Behörden jetzt plötzlich die Ausreise verboten. Er wollte gar nicht nach Oslo, er wollte in ein Nachbarland. Es gibt also überhaupt keine klare Linie.

    Heinemann: Frau Lüke, wir reden über ein Land, das bereits über eine Hochkultur verfügte, als unsere Vorfahren zivilisationsgeschichtlich noch auf den Bäumen hockten, oder im Ötzi-Kostüm durch die Gegend liefen. Mit welchem Recht schreibt der Westen China seine Wertvorstellungen vor?

    Lüke: Das ist ein Missverständnis. Der Westen schreibt China nicht seine Wertvorstellungen vor, denn was viele nicht wissen: Die Meinungsfreiheit ist gar auch in der chinesischen Verfassung formal garantiert. Das Problem ist die Umsetzung. Und Amnesty International steht eben dafür, dass die Chinesen endlich das machen, wozu sie sich selbst verpflichtet haben, nämlich ihren Menschen die Meinungsfreiheit zu garantieren. Es geht doch einfach nicht, dass ein Land ein Global Player ist, wirtschaftlich ein Riese, und bei den Menschenrechten ein Zwerg bleibt. Das kann so nicht sein, und das wird auch die chinesische Regierung auf Dauer erkennen. Da bin ich ganz optimistisch.

    Heinemann: Gleichwohl: die unveräußerlichen Menschenrechte und die staatliche Verpflichtung, diese zu achten, das ist eigentlich eine europäisch-amerikanische Erfindung.

    Lüke: In unserer Wahrnehmung ja, weil wir natürlich diese europäische Perspektive haben. Aber letztlich stehen die Menschenrechte doch für einen Kampf für Freiheit, und der hat ganz unterschiedliche Wurzeln, ob hier die Aufklärung, in Afrika der Dekolonialismus oder aber in Asien wirklich das Bild vom goldenen Spiegel. Ich glaube, es ist unserem, auch natürlicherweise eingeschränkten Weltbild geschuldet, dass wir die Menschenrechte als was typisch Westliches ansehen. Tatsächlich haben sie in allen Gesellschaften ihre Verankerung. Das zeigt sich auch daran, dass letztlich alle Regionen, zuletzt eben Asien, regionale Menschenrechtsdokumente haben.

    Heinemann: Das mediale Getöse ist der kommunistischen Partei vermutlich peinlich, sie reagiert jedenfalls so, passt aber auch nicht zum Beispiel zu den konfuzianischen Werten: der Ordnung, der Harmonie, der Mitte, des Gleichgewichts. Könnte man im Stillen nicht viel mehr erreichen für Liu Xiaobo und seine Leidensgenossinnen und -Genossen?

    Lüke: Das glaube ich nicht. Ich glaube, was wirklich erforderlich ist, ist Druck, moralischer, politischer Druck auch der anderen Staaten, der anderen Regierungen, dass China endlich die Menschenrechte einhält. Hierzu gibt der Friedensnobelpreis noch mal ein ganz klares Signal, eine ganz klare Aufforderung an die Staatengemeinschaft, auch an die Bundesregierung und eben auch an uns alle, dass wir tatsächlich unser Augenmerk nach China richten und Briefe schreiben, E-Mails, SMS versenden an die chinesische Regierung, mit denen wir sie auffordern, endlich die Menschenrechte ernst zu nehmen.