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"Wasserstand und Tauchtiefe"
Porträt eines Antihelden Ost

In seinem neuen Roman "Wasserstand und Tauchtiefe" führt Karsten Krampitz seine Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit fort. Als "modernen Heimatroman" bezeichnet der Verlag das Buch. Auf Idylle und heile Welt darf man dabei aber nicht hoffen.

Von Ralph Gerstenberg | 02.04.2015
    Karsten Krampitz
    Der Autor Karsten Krampitz (Foto: Nane Diehl)
    In Karsten Krampitz' Roman "Wasserstand und Tauchtiefe" wird der Protagonist Mark Labitzke mit seiner eigenen Herkunft konfrontiert. Der Mittvierziger pflegt übergangsweise seinen Vater, der sich weder rühren noch sprechen kann. Denn der einstige Bürgermeister von Schehrsdorf, einem fiktiven Ort im brandenburgischen Speckgürtel Berlins, hat bereits drei Schlaganfälle hinter sich. Nun kann er sich den Ausführungen seines Sohnes nicht mehr wie früher entziehen. Und Mark Labitzke hat keineswegs vor, den schwerkranken Ex-Funktionär, der nach der Wende noch Karriere als Landtagsabgeordneter gemacht hat, zu schonen. Tag für Tag redet er über all das, worüber er nie mit seinem Vater reden konnte: über die Zeit vor 1989 und das ideologische Konstrukt, das als das einzig Gute und Wahre unablässig propagiert wurde.
    "Hast du gemerkt? Der Pastor redet wie früher der Genosse Bürgermeister. Der Mann hat nicht nur Charisma, er besitzt auch noch einen exklusiven Zugang zur Wahrheit. Wie du früher! Euch beide kann man nur beneiden. Ich habe nichts mehr, woran ich glauben kann. Muss ein gutes Gefühl sein zu wissen, dass man auf der richtigen Seite steht, die richtigen Dinge zur rechten Zeit schafft und dass einem nichts passieren kann, nichts wirklich Schlimmes. Und man hat die ganze Zukunft noch vor sich."
    Dazu Karsten Krampitz:
    "Irgendwie muss das immer sein zwischen den Generationen, dass die Generation davor nicht wirklich sagen kann, was da passiert ist. Jetzt ist er auch schon sehr alt, ich kann ihm diese Fragen nicht mehr stellen. In meinem Roman wirft mein Erzähler dem Vater auch vor, dass er eigentlich auch so eine Predigerausbildung hatte für die Partei. In Schehrsdorf gibt es jetzt so eine Freikirche, und dieser Pastor da tut so, als ob er einen ganz exklusiven Zugang zur Wahrheit hat, die anderen verschlossen bleibt. Und so war das auch bei meinem Vater, bei allen SED-Genossen, also bei den höheren, die im Apparat waren. Mit denen konnte man nicht kritisch diskutieren."
    Republikflucht in den Alkohol
    In der einstigen DDR-Vorzeigestadt Schehrsdorf, die an Eisenhüttenstadt erinnert, gibt es 25 Jahre nach dem Mauerfall nicht mehr viel vorzuzeigen. Sie wird bevölkert von Arbeitslosen, Trinkern und Rentnern. Mark Labitzke ist hier aufgewachsen. Als übergewichtiges Bonzenkind hatte er es nicht leicht. Doch er gab sich redlich Mühe, bei Gleichaltrigen Anerkennung zu finden. Als Jugendlicher spielte er Schlagzeug in einer Rockband, ging zu Blueskonzerten, traf sich mit seinen Kumpels im Eisenbahner, einer Kneipe, in der - zumindest in den Augen seines Vaters - nur der Abschaum verkehrte. Hier fand die allgemein übliche "Republikflucht in den Alkohol" statt.
    "Kennst du noch den Eisenbahner? In der Tankstelle an der A10 erinnern sich manche noch gern an die Kneipe hinterm Güterbahnhof. Daneben stand lange Zeit eine riesige Schautafel, aufgestellt von der örtlichen Reichsbahnleitung: "Den Sozialismus stärken, heißt den Frieden stärken!" - genau deshalb haben die Leute gesoffen. Dass die NATO den Weltfrieden bedroht (und das hat sie wirklich!), hat man irgendwann nicht mehr hören können, nicht mehr lesen und nicht mehr ertragen. Ein ordentlicher Vollrausch wirkte da wie eine Grundreinigung im Gehirn, der ganze Propagandamüll war weggespült."
    Karsten Krampitz:
    "Wenn man sich die 80er-Jahre anguckt, also ich bin der festen Überzeugung, dass da eine ganz kleine Minderheit in der DDR-Gesellschaft wirklich Marxisten waren und wirklich überzeugt. Sozialismus war für das Gros der DDR-Bevölkerung ein Versorgungsversprechen. Man hat die Zusage vom Staat gehabt, dass es einem mit jedem Jahr so ein kleines bisschen besser gehen wird. Und als Gegenleistung hat man mit politischem Wohlverhalten gedient. Aber der Staat hat nie Überzeugung verlangt. Dem haben Lippenbekenntnisse gereicht. Aber irgendwann hat der DDR-Staat seinen Teil der Abmachung nicht mehr geliefert. Die Bedürfnisse sind viel schneller gewachsen als die DDR-Wirtschaft materiell da hinterhergekommen ist. Aber Überzeugung gab es da nicht mehr."
    "Sozialismus war ein Versorgungsversprechen"
    Der 1969 geborene Karsten Krampitz zeichnet in seinem Buch "Wasserstand und Tauchtiefe" das Porträt eines Antihelden der mittleren Generation Ost. Zu DDR-Zeiten konnte Mark Labitzke die Überzeugungen seines Vaters nicht teilen, nun teilt er sich mit seinem schwerstbehinderten Erzeuger dessen Rente. "Zwei Männer - ein Konto!", heißt es lakonisch im Text. Nach einem abgebrochenen Geschichtsstudium und einer Ausbildung zum Programmierer hat Labitzke im vereinten Deutschland keinen Fuß in die Tür gekriegt. Inzwischen ist er gründlich desillusioniert. Sein täglicher Weg mit dem Vater im Rollstuhl führt ihn zur Autobahntankstelle, die dem Prekariat von Schehrsdorf als Kneipenersatz dient. Eine Karriere ins Abseits - nicht untypisch für einen Ostler seiner Generation, findet Karsten Krampitz:
    "Die wenigsten Ossis haben doch Karriere machen können. Man muss in die Politik gehen, da ist es möglich, aber jetzt in der Wirtschaft. Es gibt in keinem börsennotierten Unternehmen im Vorstand einen Ossi oder so. Wenn ich mich für einen Job bewerbe, das ist immer eine Katastrophe, obwohl ich eigentlich eine gute Ausbildung habe. Ich bin Betriebswirt, Statistiker, Buchhalter, gelernter, dann hab ich einen Magister in Geschichte, Politik und Literatur, demnächst noch einen Doktor in Geschichte, aber die fassen sich an den Kopf. Mich braucht doch keiner. Ich bin doch überflüssig."
    Aus dieser Position der Überflüssigkeit heraus lässt Karsten Krampitz seinen Erzähler monologisch reflektieren, analysieren, seine Sicht der Dinge offenbaren. Wut und Schmerz werden spürbar, auch eine große Distanz - zur Generation des Vaters, den Ideologen des sozialistischen Experiments, in dem er und seine Altersgenossen als Hoffnungsträger vorgesehen waren, als Versuchskaninchen. Distanz aber auch zu den falschen Göttern der Gegenwart, denen er nicht auf den Leim gehen will. Selbstironie bewahrt ihn vor Wehleidigkeit, Humor vor Resignation. "Wasserstand und Tauchtiefe" ist ein Roman, dem pauschale Verdammungen ebenso fremd sind wie nostalgisches Schwelgen, ein Blick zurück zur Selbstvergewisserung - oder wie Karsten Krampitz sagt:
    "Es gibt keine Zukunft ohne Herkunft. Du musst wissen, wo du herkommst, wenn du irgendwie noch mal vorankommen willst."
    Karsten Krampitz: "Wasserstand und Tauchtiefe"
    Verbrecher Verlag, 250 Seiten, 19,- Euro