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Wasurenagusa von Aki Shimazaki

Der Morgen des ersten Sonntags im Mai in Tokio. Ein frischer Windhauch im Zimmer. Das Lesezeichen nimmt Kenjis Aufmerksamkeit weit mehr gefangen als das Buch, in dem er liest. Es ist ein Geschenk seiner ehemaligen Kinderfrau Sono, aus getrockneten blauen Blumen, Wasurenagusa, Vergissmeinnicht, und es zieht Kenji geradewegs in die Vergangenheit. Er ist der einzige Sohn einer Familie, die einem alten japanischen Adelsgeschlecht entstammt. Der Vater verbringt kaum Zeit zu Hause, die Mutter ist an dem Jungen nur insoweit interessiert als sie sich mit ihm in der Öffentlichkeit schmücken kann. So fließt Kenjis ganze Sehnsucht zu Sono, die aber nach kurzer Zeit von seiner Mutter entlassen wird, weil sie angeblich "zweifelhafter Herkunft" ist. Jahrelang hält Kenji heimlich den Kontakt. Doch dann reist Sono in die Mandschurei, um einen Mann zu treffen, der ihr wichtig ist.

Von Mechthild Müser | 03.06.2005
    "Ich beneide sie um ihr Leben. Sie macht, was sie will. Ich nicht. Ich bin der Erbe einer namhaften Familie. ..Solange ich denken kann, haben meine Eltern unentwegt zu mir gesagt: "Kenji, vergiss nicht, dass du der Erbe der Familie Takahashi bist. Du musst dich so verhalten, dass du deiner Vorfahren würdig bist. "

    Wieder hat die japanische Autorin Aki Shimazaki, die seit mehr als 20 Jahren in Kanada lebt, einen sehr kurzen Roman vorgelegt, einen, der dennoch die Essenz eines ganzen Lebens enthält. Und die Tragik, die aus gesellschaftlicher Starre und arroganter Verlogenheit erwachsen kann.

    Kenji, der Erzähler, ist im ersten Teil des Romans ein junger Mann. Er lebt allein, in der Nähe des chemischen Labors, wo er seine Tage in Arbeit ertränkt, seit seine Ehefrau Satoko ihn verlassen hat. Die Ehe war kinderlos geblieben. Eine Schmach in den Augen seiner Eltern, die ihm sogar nahe legen, sich zum Zwecke der Zeugung eine Geliebte anzuschaffen. Kenji lehnt das ab, doch er tut nichts, um seine Ehefrau vor den Beleidigungen seiner Mutter zu schützen. Daraufhin ist Satoko gegangen.
    Aki Shimazaki schlägt einen nüchternen Ton an, zeigt in knappen Dialogen die Unausweichlichkeit dieser Trennung.

    Ein Jahr später ist Satoko von einem anderen Mann schwanger. An dem Tag, an dem Kenji erkennt, dass nicht sie unfruchtbar ist, sondern er selbst, tritt Japan offiziell aus dem Völkerbund aus, weil der die japanische Besetzung der chinesischen Mandschurei nicht anerkennt. Es ist das Jahr 1933.

    "Alle sorgten sich um die Zukunft des Landes. Von meiner persönlichen Situation deprimiert, beteiligte ich mich nicht an den Diskussionen. … Ich irrte durch das Stadtzentrum, um die Zeit totzuschlagen. ..Ich wechselte die Frauen fast im Wochenrhythmus. … Doch mit je mehr Unbekannten ich schlief, desto leerer fühlte ich mich. "

    Wie schon in vorherigen Romanen schildert Aki Shimazaki private Traumata vor der Folie politischer Ereignisse. Die Gleichzeitigkeit der Vorkommnisse dient als Schnittstelle, verzahnt das große Geschehen mit dem kleinen.
    Ein um Hilfe bittender katholischer Priester, seine Mitarbeiter und eine Gruppe Waisenkinder tragen dazu bei, dass Kenji langsam erwachsen wird und ein Gefühl dafür bekommt, was in seinem Leben wichtig ist.

    "Ich würde gern der Frau begegnen, die mich braucht und die ich brauche. Beim Schlafen würde ich sie gern in meinen Armen halten, ihre zarte und warme Haut spüren, …. Ich fühle mich immer noch niedergeschlagen. Aber ich möchte gern etwas tun, um das zu ändern."

    Die Chance bietet sich, als er Mariko, eine junge Frau, und ihren Sohn Yukio trifft. Kenji weiß, dass seine Eltern die beiden niemals in die Familie aufnehmen würden. Aber dass er sie lieben kann, rettet ihn vor der Verzweiflung.
    Aki Shimazaki zeichnet die Protagonisten des Romans mit wenigen Strichen, skizzenhaft. Ihre jeweilige Vergangenheit schimmert nur angedeutet in die Gegenwart hinein. Das reicht aus. Indem die Autorin sich auf wesentliches beschränkt, gelingt ihr eine Verdichtung, die dem Leser viel Raum für eigene Gedanken lässt.

    Kenji bricht mit seinen Eltern, heiratet Mariko, adoptiert ihren Sohn und zieht mit beiden ins weit entfernte Nagasaki.
    Hier würde die Geschichte enden, wenn Wasurenagusa ein Märchen wäre: Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Doch die 50jährige Autorin fügt ihrem Roman einen zweiten Teil hinzu.

    Zeitsprung: Ein Nachmittag im Mai. Kenji und Mariko sind alt geworden, die drei Enkel gehen bereits zur Schule. Das gemeinsame Leben fließt jetzt ruhig dahin, Erinnerungen aus jungen Jahren setzen den Tagen Glanzlichter auf. Die Jahre dazwischen lässt Shimazaki wie im Zeitraffer vorüber fliegen: so hat der Zweite Weltkrieg Kenji in die Mandschurei verschlagen und dann für zwei Jahre in ein sibirisches Arbeitslager. Mariko und Yukio sind verschont geblieben, als die Atombombe auf Nagasaki fiel. Kenjis lieblose Eltern starben in einem Altenheim, ohne sich mit ihm zu versöhnen.

    "Ich habe mich nach Tokio begeben, wo ich das Geld ausgehändigt bekam, das sie auf der Bank hatten. … Dann bin ich zum Rathaus gefahren, um mich über alle Waisenhäuser der Stadt zu erkundigen. Ich habe sie alle besucht und das Geld meiner Eltern verteilt. "

    Trotz dieser eindeutigen Geste fühlt Kenji sich bis ins hohe Alter schuldig, weil er den Stammbaum seiner Familie nicht hat fortsetzen können. Die Scham fällt erst von ihm ab, als er am Grab seiner Kinderfrau Sono das Geheimnis seiner eigenen Geburt erfährt. Denn auch er ist von ‚zweifelhafter Herkunft’. Diese Erkenntnis schreckt ihn nur im ersten Moment, hat sich sein Leben doch - wie von unsichtbaren Fäden gezogen – mit diesem Geheimnis verknüpft.

    Den Vergissmeinnicht, die im Mai blühen, kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Die Blume mit den kleinen blauen Blütenblättern taucht an den Wendepunkten in Kenjis Leben und selbst in seinen Träumen auf. Sie signalisiert die Verbundenheit mit seinen Wurzeln und steht als Methapher für den Mut, den er braucht, um das Risiko eines eigenen, unabhängigen Weges und frische Gedanken zu wagen.

    "Wenn man dem Fortbestand des väterlichen oder mütterlichen Familienzweigs Bedeutung beimisst, muss man alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, um Kinder zu zeugen. So müsste beispielsweise die Frau, deren Mann unfruchtbar ist, Liebhaber haben dürfen. Liebhaber für Frauen. Warum nicht? "

    Unwillkürlich drängt sich dem Leser das Drama im heutigen japanischen Kaiserhaus auf, wo eine junge Frau unter großen Druck gesetzt wird, weil sie einen männlichen Thronerben gebären soll. Man möchte ihr raten, sich doch ein Vorbild an Kenji zu nehmen. Aki Shimazaki hat ihren Roman nicht in japanisch, sondern wie schon die letzten in französisch geschrieben. Beim Lesen fühlt man den Schmerz, mit dem sie die harten Traditionen ihrer einstigen Heimat betrachtet.

    "Wasurenagusa"
    Von Aki Shimazaki
    (Kunstmann Verlag)