Freitag, 29. März 2024

Archiv

Wattenmeerbucht Jadebusen
Freiheit im schwimmenden Land

Von Jule Reiner | 11.01.2015
    Ein Schiff
    Ein Krabbenkutter in Fedderwardersiel. (Jürgen Lecher)
    Ein heimatliches Bild: Das von Gräben durchzogene Marschland, die weidenden Kühe, manche nur schwarzweiße Hügel im Gras, und wie träumend beieinander stehende Pferde. Einsame Höfe - mit viel Klinker-Rot und von alten Bäumen eingefasst, die wie Wachsoldaten dem Wind widerstehen. Die offene Landschaft, die hohen Himmel im Sommer, das tiefe Schwarz des früh hereinbrechenden Abends im Winter sind ein seltsam beruhigender Stoff wie die bedächtig in sich verharrenden Menschen darin. Der Deichanwohner Jacobs vielleicht, den man von Weitem an seinem schlohweißen Haar erkennt, wie er zuverlässig wie immer am Grundstück einen weiteren Pflock einschlägt.
    Wenn es das ist, was die Menschen hier anstreben, einfach die Zeit anzuhalten und etwas wie Unglück schlicht in diesen Abendnebeln, schwarzen Nächten und dem zuverlässigen Regen wegzutränken wie sie auch das Land mit den Gräben drainieren - dann sind sie sehr erfolgreich damit. Nur wissen wir aus Theodor Storms Novellen, dass dieses Landleben zu keiner Zeit ein Idyll war und die Nordsee ein sehr gefährliches Meer.
    Wir befinden uns zwar nicht ganz in Theodor Storms Landschaft, sondern ein ganzes Stück weiter südöstlich, dort wo der tiefe Meereseinschnitt des Jadebusens über die Jahrtausende von den Sturmfluten ins Land geschwemmt wurde. An seinem untersten Saum liegt die Gemeinde Jade in die Wesermarsch gestreut, die ebenso gut eine jener Dorfwelten sein könnte, in der die Figur des Deichgrafen Hauke Haien aus der Novelle vom Schimmelreiter mit den Elementen kämpft. Durch den kleinen Ort Jade - Klinkerrot, stramm aufgeräumte Vorgärten, ein alter Wasserturm und das durch die Wiesen schlängelnde Flüsschen Jade - sind wir ins noch kleinere Jade-Schweiburg gerollt. Eine ferne stille Welt mit 750 Einwohnern. Im alten Dorfkern prunkt die klinkerrote Trinitatiskirche aus dem 16. Jahrhundert, Schweiburgs größte Sehenswürdigkeit, die vom Wohlstand der Marschbauern in früheren Zeiten zeugt. Dann gibt es in Schweiburg noch den Einkaufsladen nah & gut von Udo Gollenstede, in der Kirchstraße ein kleines Touristenbüro und an der Ecke zur Bundesstraße eine Landbäckerei mit den freundlichsten klönschnackenden Verkäuferinnen hinterm Deich. Und am Ortsausgangsschild geht es rechts über den Graben auf den Louisenhof. Hier wohnen wir in einer friesisch eingerichteten Ferienwohnung mit Blick auf den windgeeichten Garten und die Stallungen.
    Unsere Gastgeber Anette und Fritz-Harald Strodthoff-Schneider führen einen der großen Milchbauernhöfe in der Wesermarsch wie es schon ihre Eltern und Großeltern getan haben. Und uns ist die Chance gegeben, das wirkliche Landgefühl auf einem modernen Familienhof umgeben von 250 Rindviechern, Kälbern und Pferden von innen zu erleben. Schauen und hören wir aber zuvor in die Natur und die große Stille vor dem Deich, die in ihrem Zusammenspiel das Land so beruhigend machen.
    "Wir laufen jetzt hinein in das weltweit einmalige schwimmende Moor von Seehestedt.
    Schwimmendes Moor ist ein etwas irritierender Begriff, weil - tatsächlich schwimmt dieses Moor nur bei hohen Sturmfluten. Das Meerwasser kann dann unter das Moor eindringen und hebt das Moor an und wir würden uns dann hier auf einer schwimmenden Insel befinden."
    Ausflug ins Moor
    Ausflug mit Jan von Lemm vor den Deich. Er ist studierter Biologe und bietet Moor- und Wattenmeerführungen an. Über einen gewundenen Holzbohlenweg gelangen wir durch ein urnatürliches Geflecht aus knorrigen, geradezu sturen Bäumen in moosigen Heidegründen bis zu einer Aussichtshütte. Und vor uns liegt ein Herbstmeer der Ruhe. Morgenglast fließt goldgelb übers Röhricht und kleine Priele. Im Fernglas lassen sich ein paar Lachmöwen, Eiderenten und eine Pfuhlschnepfe einfangen. Die großen Vogelflugkolonien, die bald von der Arktis kommend an der Küste rasten werden, bis sie wie nach geheimen Signalen fast alle auf einmal in den Süden aufbrechen, sind noch nicht da.
    "Das Moor ist der kleine Rest einer Moorfläche, die ursprünglich den gesamten Jadebusen bedeckt hat. Noch vor tausend Jahren existierte der Jadebusen gar nicht und es war eine große zusammenhängende, undurchdringliche Moorfläche. Und es gab dann im Mittelalter so ab 1300 eine Reihe von sehr starken Sturmfluten, die dazu geführt haben, dass dieses Moor allmählich abgetragen wurde. Immer mehr Stücke abbrachen, verlorengingen und so zwischen 1500 und 1700 hatte der Jadebusen noch eine viel größere Ausdehnung als heute. Und dieses verloren gegangene Gebiet wurde dann erst mit vielen Deichlinien allmählich dem Meer wieder abgerungen, sodass wir dann ab 1720 erst die geschlossene Deichlinie um den Jadebusen hatten wie sie bis heute existiert."
    Jan ist in seinem Element, das ist ihm anzumerken. Mit Bedacht zupft er hier mal einen Gagelstrauch ab, gut fürs Bierbrauen, geht in die Hocke, öffnet mit zarter Hand Moospolster und legt Moorglöckchen und Moorbeeren frei, kleine Naturwunder, die man ohne seinen geübten Blick nur als eine Art Binsen- und Strauchdurcheinander in einem idyllischen Meeresgarten wahrnehmen würde.
    "Ja, im sommerlichen Idyll kann man sich immer nicht recht vorstellen, dass dies eine auch sehr raue Landschaft sein kann. Dass plötzlich, wenn starke Stürme aus Nordwest zusammentreffen, die ohnehin ein höheres Auflaufen der Fluten bedeuten, dann ist hier immer Gefahr im Verzuge, weil man eben immer wissen muss, dass das Land auf der anderen Seite des Deichs sehr viel tiefer liegt, als der Meeresspiegel."
    Und dann ist hier beim schwimmenden Moor das ganz besondere Phänomen, dass das Moor dann angehoben wird und wenn man von der anderen Deichseite kuckt, man eben sehen kann wie plötzlich die Bäume sozusagen in rasender Geschwindigkeit wachsen, weil das ganze Moor angehoben wird und die Bäume plötzlich höher über den Deich kucken als normal."
    Im Jahre 77 n. Chr. beschrieb der römische Chronist Plinius in dieser Gegend ein germanisches Volk, das auf künstlich aufgeworfenen Erdhügeln, den Wurten oder Warften lebte:
    "Gesehen haben wir im Norden die Völkerschaften der Chauken, die die größeren und die kleineren heißen. In großartiger Bewegung ergießt sich dort zweimal im Zeitraum eines jeden Tages und einer jeden Nacht das Meer über eine unendliche Fläche und offenbart einen ewigen Streit der Natur. Dort bewohnt ein beklagenswertes Volk hohe Erdhügel, die mit den Händen nach dem Maß der höchsten Flut errichtet sind. In ihren erbauten Hütten gleichen sie Seefahrern, wenn das Wasser das sie umgebende Land bedeckt, und Schiffbrüchigen, wenn es zurückgewichen ist und ihre Hütten gleich gestrandeten Schiffen allein dort liegen."
    Rückfahrt vom Deich durchs Rönnelmoor, eine der Bauerschaften genannten Ländereien von Jade, die einst die Chauken bewohnt haben könnten. Wir kennen es bisher nur verwunschen, eingehüllt in wattedicke Nebel, die im Herbst oft den ganzen Tag stehen bleiben. Dann scheinen die Bäume aus dem weißen Harnisch mit ihren Astgabeln nach den Menschen zu greifen und die Weidetiere schnauben unsichtbar. Alle 500 Meter stehen schützende Bushaltestellenhütten für die Schulkinder auf Pflöcken an den Gräben. Die Gehöfte liegen weit gestreut und vereinzelt. Schöne alte Höfe mit Reetdächern, deren dicke Wölbungen sich wie Mützen über Bogenfenster und den runden Eulenschlag unterm Giebel stülpen. Jetzt im Sonnenschein in schaukelnder Fahrt über den gewellten Asphalt der schmalen Ferkelstraße, wie wir sie nennen, strecken Eichen und Buchen ihre Kronen über der Fahrrinne ineinander und bilden ein unendliches Dach in die Fluchtpunktferne. Am Wegrand in einem Pferch liegt eine unwahrscheinlich große Muttersau und hat sechs Ferkel. Die schubbern sich im Gras, strecken ihre rosa Bäuchlein in die Luft und lassen sich die Eicheln einfach vom Baum in den Rüssel fallen. Schwein gehabt!
    Landwirtschaft
    Zurück auf dem Louisenhof setze ich mich mit unserer Gastgeberin Anette an den Ort im Garten, den sie am meisten liebt. Das ist einer ihrer beiden Bauwagen unter alten Apfelbäumen, die sie in kleine Wohnungen verwandelt hat. Mit dabei ihre Hofhunde; die mollige Paula, Theo der Katzenhasser und Dackelwelpe Tine.
    "Ich bin ja vor 20 Jahren mit den Ferienwohnungen angefangen. Da wurde oben in unserem Haus eine Wohnung frei. Die hatte ein älteres Ehepaar bewohnt, das verstorben war. Und da war die Überlegung fest vermieten oder mit Feriengästen. Da war so meine Idee: Ach, da hätte ich einfach einmal Lust dazu, das einmal auszuprobieren."
    Anette ist eine offenherzige, aparte und feingliedrige Person, der man aber anmerkt, dass sie anpacken kann. Eigentlich hatte sie Architektur studieren wollen, blieb aber doch bei der Landwirtschaft. Nur hat sie eines Tages die beiden Bauwagen auf den Grund gezogen. Sie wollte einen Platz für sich alleine haben und ihre gestalterischen Talente eben darin verwirklichen.
    "Das hatte für mich auch so den Grund, einfach einmal so ein bisschen Geld verdienen. Eigenes Geld, weil als Frau auf dem Hof mitzuarbeiten, man hat kein eigenes Einkommen. Gut: Ich werde hier versorgt oder ich versorge mich selbst hiermit. Aber durch diese Ferienwohnungvermietung. Ja, eigenes Geld, wo ich selbst drüber entscheiden konnte. Und zum andern auch: Man hat Gäste empfangen und ich konnte den Gästen den Bauernhof zeigen und ich hab immer gesagt, ich mache Aufklärungsarbeit und zeige der Stadtbevölkerung wie heute Landwirtschaft funktioniert."
    Dass die Bauwagen ein Teil dieser Aufklärungsarbeit werden könnten, hatte niemand auf dem Hof wirklich geglaubt. Sie wurden zunächst zu Anettes schmucken Stuben mit holzgetäfelten Wänden und friesischen Kastenfenstern, mit breitem Schlafplatz, einer Miniküche, Korbsesseln und einer Flügeltür auf die Veranda hinaus. Aber Anettes Plan, sie irgendwann zu vermieten, ging doch auf. Inzwischen kommen mehr und mehr Städter auf Kurzurlaub; Jungmanager, die das Smartphone abschalten wollen, Familien mit Kindern, junge Verliebte und lassen manch rührendes Gedicht über das Träumen unterm Apfelbaum im Gästebuch zurück. Die Sehnsucht nach Naturverbundenheit und einem langsameren Lebensfluss ist groß. Und so war jüngst auch die Anfrage von der Redaktion eines der florierenden Land- und Lustmagazine gar nicht so überraschend, ob Anette als Bäuerin zu einer Geschichte über das pure Landleben beitragen wolle. Erstaunt war sie allerdings darüber, was sie darstellen sollte:
    "Die hatten also die Vorstellung, drei bis vier Generationen unter einem Dach, ob wir denn eine Oma hätten, die jeden Morgen die Kartoffeln schält, ja, und die Kinder hütet. Und da musste ich also eben sagen, dass das bei uns nicht so ist. Dass unsere Großeltern früher schon getrennt wohnten. Wir haben nicht unter einem Dach gewohnt, was sehr toll war, weil das eben nicht zu den täglichen Reibereien und Streitereien kam, wie man sie sonst vielleicht hatte. Und sie wollten dann auch gar nicht so unbedingt etwas über den Hof wissen, hatten so ein Bild der herkömmlichen Landfrau: Ob ich denn auch einmachen würde, einen Gemüsegarten bewirtschafte. Und da hab ich gesagt: Nee, ich hab keinen Gemüsegarten und ich koch auch nichts ein. Ich gehe morgens mit in den Betrieb, ich melke mit und mach die Kälberaufzucht und koche, klar ich koche, weil wir etliche Leute am Tisch sitzen haben. Ja, und da passten unsere Vorstellungen so gar nicht zusammen. Und ich sagte, ich glaube wir verzichten dann lieber auf so einen Beitrag."
    Bald ist Melkzeit und der ganze Kindergarten von Kälbchen, zwei davon erst in der Nacht geboren, rufen nach Anette mit dem Milchwagen. Und ein Trupp Halbstarker, acht bis zehn Wochen alt, beschwert sich laut, weil sie heute zum ersten Mal keine Milch mehr, sondern Kälbermüsli und Heu bekommen haben. Unterhalb unserer Wohnung liegt der alte Boxenkuhstall, aus dem abends nach dem Melken das Malmen und Schnaufen und letzte Muhlaute heraufdringen.
    Es ist schön, nachts noch einmal durch den Stall zu gehen und die gemütlich in ihren Betten aus Sägespänen liegenden Kuhdamen mit ihren großen samtigen Augen zu besuchen. Und auch die Pferde, die uns aus den Boxen fast huldvoll ansehen und die Nüstern sachte blähen. Vor dem Weidegrund hinten leuchtet der hochmoderne Hallenstall auf. Von ihm geht dann ein fast fremder zweiter Herzrhythmusschlag des Hofes aus, ein dauerhaftes metallisches Klacken.
    Der Sachwalter dieser Modernität ist Fritz-Harald, ein agiler und zugleich stiller Mann, den man nie ruhen sieht. Nur einmal in der Mittagspause setzen wir uns für eine kleine halbe Stunde an den Gartentisch und reden über alte und moderne Zeiten auf den Bauernhöfen der Marsch.
    "Als wir auf diesem Betrieb hier angefangen sind, ich habe das ja von meinem Großvater geerbt, hatten wir hier 30 Kuhplätze und man hat dann mit der ganzen Familie von 30 Kühen gelebt, da war's eigentlich schon ein relativ großer Betrieb hier. Aber die Entwicklung ist dann auch weitergegangen die nächsten Jahre, wir haben dann nach und nach modernere Ställe gebaut. Ab 1987 sind die Kühe dann in einen Boxenlaufstall gekommen, wo sie nicht mehr angebunden waren und sich auch jederzeit bewegen konnten und auch soziale Kontakte untereinander hatten dadurch, dass sie hinlaufen konnten wo sie wollten."
    Fritz-Harald erzählt auch vom Druck des Strukturwandels, der es unvermeidlich machte, die Anzahl der Kühe zu erhöhen, damit zwei Familien vom Hof leben konnten. Auch wollte man einige Mitarbeiter einstellen, damit man nicht 365 Tage im Betrieb sein musste und sich auch mal eine Woche Urlaub gönnen konnte.
    So sind es heute 250 Milchkühe, die Harald managt, wie er sagt. Sie sind für die verschiedenen Stadien ihres Arbeitslebens eingeteilt in die Altmelkergruppe und die hochleistende Gruppe. Und das metallische Geräusch, dieser andere Herzrhythmus, geht vom Hochleistungsstall aus, wo sich computergesteuerte Futtertanks zusätzlich für die Gruppe der Schwerarbeiterinnen öffnen.
    "Um noch einmal zum Thema Tierwohl zu kommen: Man hatte sicher bei 30 Kühen früher die Tiere einfacher im Überblick - als Mensch. Bei 250 Kühen wird das schwieriger, dafür gibt es das sogenannte Herdenprogramm, die Tiere sind alle im Computer. Und wenn eine Kuh weniger Milch gibt als sonst, oder sie nicht die Futtermenge frisst wie sonst, gibt es eine Alarmliste und wir kucken uns die Kühe dann an. Alleine jeden Tag zu diesem Vieh zu kucken, damit ist man drei Stunden beschäftigt. Und wir müssen sie oftmals umtreiben. Dann brauchen wir auch drei, vier Leute, die mithelfen. Wer die Kühe oder auch das Jungvieh im Stall hat, kann da mit dem Futterwagen vor langfahren, der hat einfach weniger Arbeit. Das muss man ganz klar sagen. Diese Weidehaltung, die wir noch zum Großteil betreiben, ist sehr arbeitsaufwendig. Und es ist eigentlich schade, dass das nicht irgendwie durch eine Weideprämie honoriert wird."
    Ob denn der Strukturwandel auch diesen Hochleistungszwang für Kühe mit sich gebracht hat, die in einem zehnjährigen Leben rund 100.000 Liter Milch geben, möchte ich denn doch von Fritz-Harald wissen. Ich gebe zu, dass ich mir trotz allem Kostendruck, dem die Bauern unterliegen mögen, eine tiergerechtere Viehwirtschaft wünschen würde und frage ob die Verhältnisse sie nicht im Grunde auch zulassen.
    "Die Betriebe, die jetzt übergeblieben sind, das sind eben Spezialisten, die auch Lust haben, Kühe zu melken. Es gibt hier auch Betriebe, die haben die guten Voraussetzungen von der Struktur der Fläche, dass sie auch noch ganz die Kühe draußen haben. Die Meisten allerdings nur noch tagsüber. Die machen das etwas extensiver, haben auch nicht ganz die Leistung, aber machen das oft im Kreis der Familie und das läuft auch gut. Man kann also diese Strukturen nicht über einen Kamm scheren. Es gibt Betriebe mit 100 Kühen, die haben ein sehr gutes Einkommen, und wir haben hier Betriebe mit 300 und 400 Kühen, die machen das auch gut. Es gibt so einen schönen Spruch: Wie viel Kühe braucht man, um glücklich zu sein. Das ist ganz unterschiedlich."
    "Und was braucht die Kuh, um glücklich zu sein?"
    "Die glückliche Kuh braucht eigentlich einen guten Betriebsleiter, der auch sofort erkennt, wenn sie irgendwelche Probleme hat. Das ist das A und O. Unsere Kühe, die sind hochproduktiv, genau wie wir Menschen auch heute hochproduktiv im Beruf sein müssen. Also man kann nicht sagen, die Kühe auf der Weide sind glücklicher oder im Stall sind glücklicher. Entscheidend ist wie diese Kuh, praktisch auf neudeutsch, gemanagt wird."
    Am frühen Morgen leuchtend grüne Sonnenflecken im Landschaftsgarten, wie Fährten von Kleintieren ins nasse Gras gedrückt. Und der Wasserklee auf dem Hofteich ist wie von tausenden Funken zum Glimmen gebracht. Ein herrlicher Tag für die Bauerschaft Stadland, jenem dem Meer abgedeichten grünen Gestade, wo man bereits glauben könnte, fern gehisste Segel würden über die Marschen davonziehen. Wegkreuzungen mit Holunderbüschen, Wassergräben, in denen sich die Wolken spiegeln und Gehöfte aus alter Zeit mit großen Scheunen wie Hof Butendiek. Vielleicht vor einer Stunde hat eine Kuh auf der Wiese vor dem Hof gekalbt. Jetzt beleckt sie das im Gras kauernde Kleine unermüdlich. Und mit seinen staksigen Beinen versucht es, wie hingerissen in seiner neuen Welt aufzustehen.
    Hof Butendiek ist ein biodynamischer Betrieb mit eigener Käserei. Nicht weit entfernt tauchen die Windflügel der Seefelder Mühle auf, einer der letzten stattlichen Galerieholländerinnen aus dem Jahre 1876. Einmal im Monat hält dort der Verein der Landfrauen einen Markt ab und die Mühle ist Jades Kulturzentrum für Ausstellungen, Lesungen, Theater und Konzerte. Ja, das Stadland wirkt wie die Miniatur einer Ferienwelt.
    Deichschäfer
    Aber vergessen wir nicht, dass die einzige Koordinate, an der sie sich misst, der Deich ist. Die letzte gefährliche Sturmflut vom 6. Dezember 2013 ist allen hier noch im Gedächtnis. Und wir besuchen Fritz-Haralds Bruder, der Deichschäfer von Beruf ist. Ein moderner Deichgraf wie in Theodor Storms Novelle.
    "Ja, wir hatten am 6. Dezember die Nikolausflut und da waren bis zur Kappe zwei Meter, so hoch stand das Wasser. Also wenn Sie da in Schweiburg übern Deich kucken, bis auf zwei Meter war alles voller Wasser. Und dann haben wir auch viel Strandgut - Treibgut nennen wir das. Das kommt aus den Außendeichsländereien, aus dem Nationalpark zum Teil, wo nicht mehr gewirtschaftet wird, und durch die Flut werden diese Pflanzenreste abgebrochen und spülen an den Deich. Und wir hatten dieses Jahr, was ich mit meinem Bauhof und meinen Leuten wegfahren musste, 40.000 Kubikmeter nur Treibgut und 30, 40 Kilometer Zäune kaputt, die oben aufm Deich lagen, alle diese Schafzäune, alle weggespült."
    Als uns Hans-Gert Strodthoff auf seinem Hof begrüßte, fragten wir ihn nach einem für seine Arbeit typischen Ort, um ein paar Porträtfotos zu machen. Bescheiden sagte er, das sei hier alles irgendwie normal, nichts Besonderes. Aber jetzt in seinem Wohnzimmer sind alle Sitzplätze mit Schaffellen belegt. Erst nach der letzten verheerenden Sturmflut von 1962 ist der Beruf des Deichschäfers entstanden. Man hatte beschlossen, die Deiche weiter zu verbessern und sie mit Schafen zu beweiden, die dabei den Erdboden gut festtreten. Denn ein altes friesisches Sprichwort und auch Landgesetzt, das sogenannte Spatenrecht, sagt: "Wer nicht will deichen, der muss weichen."
    "Die oberste Priorität hat immer der Deich. Und dann kommen die Schafe für den Deichband. Ist ja verständlich. Der Küstenschutz ist Aufgabe des Deichbandes. Man hat nach und nach bis heute zehn Deichschäfereien gebaut, die einen Bestand von 500, 600 bis 1.000 Mutterschafen pro Schäferei haben. Also haben wir im Sommer mit Lämmern so 16.000, 17.000 Schafe am Deich. Auf ungefähr einer Deichfläche von 800 Hektar. Und ich bin Bauhofleiter auf dem Deichband, hab zwölf Mitarbeiter und bin zuständig für die 142 Kilometer. Ja, das ist Passion. Wir hatten damals in Schweiburg, auf unserem Bauernhof, bin ich mit zehn Jahren schon angefangen, hatte ich da schon ein kleines Stück Deich und man muss eine gewisse Passion haben, sonst kann man das nicht machen. Das ist mir praktisch so mit in die Wiege gelegt worden. Das Schaf liegt mir mehr wie die Kuh, von der Passion her."
    Wir klönschnacken noch ein wenig über Schafe. Über das Coburger Fuchsschaf zum Beispiel. Wir hatten es bei einem Landmarkt am historischen Bronzezeithaus bei Schweiburg gesehen, eine sehr schöne Rasse mit schwarzen Köpfen und fast fuchsrotem Vlies. Mindestens drei davon müsste man sich auf den Grund stellen, damit sie gemütlich die Wiese abweiden, unseren Grund und Boden, so träumten wir kühn. Er würde hier nicht viel Kosten für die Landflucht aus der Stadt. Das Coburger Fuchsschaf wäre ein Anfang. Oder?
    "Das Coburger Fuchsschaf, ja: Das ist aber ein reines Landschaf. Und wir haben die Suffolks, und das ist ein reines Fleischschaf. Also die Schlachtkörperqualität ist besser. Fuchsschaf, das ist mehr so vom Aussterben bedroht, ist mehr so ein Liebhaberschaf, so ein Hobbyschaf. In der Herdenhaltung gibt es die praktisch nicht, jedenfalls nicht in größeren Herden."
    Ein vom Aussterben bedrohtes Liebhaberschaf ist landwirtschaftlich betrachtet wohl wirklich etwas für Träumer. Denn wenn es das ist, was sie hier tun, den Blanken Hans mit Schafen, Schippe und Hacke aufhalten, auch mit 25 Meter tief in die Erde gerammten Spundwänden, dann muss die Leidenschaft für das Land immerzu mit seinem Nutzen verbunden sein. Und mit einer Form von Freiheitsliebe, die die Chauken mitgebracht haben müssen. 98 n. Chr. bezeichnete der Römer Tacitus in der Schrift Germania das Volk als östliche Nachbarn der Friesen, das ein großes Gebiet bewohne und bei den Nachbarn hoch angesehen sei.
    "Diese riesige Landfläche besitzen die Chauken nicht bloß, sondern füllen sie auch aus: das vornehmste Volk unter den Germanen, das seine Größe lieber durch Gerechtigkeit erhalten will. Ohne Habgier, ohne Herrschsucht, ruhig und abgeschieden fordern sie nicht zum Krieg heraus, schaden nicht durch Raub- und Plünderungszüge."
    Nach vier Tagen unterm Wolkenschauspiel des schwimmenden Landes zeigt der Tidenkalender an, dass die Flut jetzt zum Mittag aufläuft. Und im "Friesländer Boten" ist angekündigt, die fünf letzten Krabbenkutter der Region würden oben in Fedderwardersiel alle zugleich in den Hafen einlaufen, was sonst nur bei Hafenfesten mit Kutterkorso geschieht. Da müssen wir hin.
    Fedderwardersiel und die Krabbenkutter
    Fedderwardersiel ist ein beschaulicher Hafen, in dem der lauteste Ton die Schreie der Möwen sind. Es gibt einen Edeka-Laden, sogar ein Hotel und eine Pension und das hübsche Nationalparkmuseum und einige Fischbuden. Und da liegen sie nun nebeneinander, die letzten Holzkutter: die 33 Jahre alte Harmonie, die Seestern, die Oostwind, die Rubin - braun, rot, orange, grün gestrichen, gemütliche Schiffe wie große Walnussschalen. Links und rechts die ausklappbaren Quermasten, an denen die halbrunden bauchigen Netze hängen. Ein Bild so alt wie die See.
    Die blaue Christine, auf der gerade letzte Unterweisungen zum Krabbenkochen für die nächste Ausfahrt abgesprochen werden, ist ein Stahlschiff, das größte und neuste der Flotte. Dirk Schmidt, der 29 Jahre junge Kapitän kommt von Bord und erzählt uns über seine Welt.
    "Tidenabhängig sind wir eigentlich nur Sonntags und Freitags, wenn wir rein wollen. Wenn Sie jetzt da die kleinen Holzkutter nehmen, die sind jeden Tag tidenabhängig, die fahren mit Hochwasser raus und kommen mit Hochwasser wieder rein. Die sind also nur zwölf Stunden an der Arbeit, und wir haben alles an Bord, wir haben Toilette, haben eine Dusche, Kühlraum riesig groß. Wir fahren ja auch auf Fisch, bleiben zum Beispiel auch mal in der Ostsee für drei, vier Monate auf Fisch. Von daher anders als bei den andern."
    Und wie entscheidet man sich dafür, Krabbenfischer zu werden, frage ich Dirk. Der Beruf ist eher gefährdet. Die schönen Holzkutter, 1,5 Millionen Euro teuer, baut heute keine Werft mehr. Noch vor zehn Jahren gab es rund 160 von ihnen an der niedersächsischen Küste, heute nur noch knappe 100. Und ihr Fünfe seid mit die letzten Krabbenfischer am Jadebusen.
    "Ich hatte keine Lust mehr auf Schule. Ich wollte Bestatter werden, darfst du aber erst mit 18. Dann hab ich hier mit just 16 angefangen, habe meine Lehre gemacht, wollte eigentlich noch eine Lehre machen, aber hab mich dann entschieden hier zu bleiben, weil der Verdienst so schlecht auch nicht ist als Fischer, ist zwar Knochenarbeit aber guter Verdienst. Ja, und dann habe ich mein Patent vor zwei Jahren gemacht und jetzt darf ich das Schiff selber fahren. Und Krabben sind immer da, das wächst eigentlich wie Unkraut, wächst und wächst. Es gibt natürlich immer mal flaue Zeiten, so dieses Jahr Anfang Ende März ging das erst wieder los mit den Krabben, vorher war fast nix da. Und jetzt ist gerade wieder so ein Boom. Es gibt gerade wieder richtig viel Krabben, dass auch viele Tonnen gefangen werden. Was aber auch nicht so positiv ist, weil der Preis dann wieder in den Keller geht. Das heißt, man kann lieber Mittelmaß-Krabben fangen, dann ist der Preis schön hoch und dann ist das alles schön abgedeckt. Also viele Krabben, viel Arbeit, wenig Geld. Wenig Krabben, wenig Arbeit, mehr Geld. So muss man das sehen."
    Und was ist für ihn das schönste an diesem Beruf?
    "Morgens die Sonnenaufgänge. Das sieht halt immer anders aus, ist nie gleich, von daher: Gibt nix Schöneres! Dieser Unterschied, wie das dann halt brennt, so hochkommt. Das ist halt faszinierend jeden Morgen, wenn Du da am Steuer sitzt und dann geht die Sonne auf und die Möwen kommen. Das ist das Faszinierende an dem Job. Ich selber esse zum Beispiel gar keine Krabben und Fisch. Mag ich nicht, noch nie! Ich fang sie nur!"
    Als mein Aufnahmegerät wieder in der Tasche ist und Dirk sich aufmacht, um seine Frau mit seinem erstgeborenen Baby aus dem Krankenhaus abzuholen, kommt er noch kurz auf mich zu und setzt nach: Das wirklich schönste bei allem sei die Freiheit, da draußen, wo der Horizont nicht aufhört.
    Vielleicht haben wir mit alledem nun viel Lust auf Land und Kuhstall geweckt, vielleicht auch zu viel versprochen von diesem Meeresgewinn eines Landvolks, das so Freiheitsliebend ist wie der Himmel hoch. Doch hier gibt es keine Wellnesseinrichtungen mit Fußreflexzonenmassage außer dem Schlick des Watts, keine Luxushotels, außer man deicht mit und richtet sich sein Sternehaus selbst ein. Auf Höfen mit zur Wohnung umgebauten Schweinekoben, in Zimmern unterm Eulenschlag oder in roten Bauwagen, die man wegziehen kann, sollte der Blanke Hans doch mal übern Deich kucken. Und vielleicht gibt es irgendwann einmal unseren Piratensender Supernull-am-Deich, denn die Chauken galten auch als gute Piraten. Und einige der liebenswerten Mitspieler unseres Landtheaters würden dann vorm Kühemelken um Sechse früh immer mal erzählen, was ihnen das Liebste und Wichtigste an diesem Leben ist.
    "Also für mich auch einfach die Freiheit, klar habe ich meine Verpflichtungen und auch die Arbeit, die ich hier mache. Aber trotzdem - ich habe immer noch die Freiheit zu sagen, heute mache ich mal nicht so viel. Oder ich setz mich einfach mal in den Garten. Ich meine, das passiert nicht so häufig, aber ich hab die Freiheit. Das ist für mich also ein großes Glück. Und: Ja, die Tiere im Stall, im Frühjahr freue ich mich immer, wenn die Tiere rauskommen. Ich Winter freue ich mich immer, wenn sie wieder alle im Stall sind, wenn man abends so durch den Stall geht, wenn die Tiere versorgt sind, die Pferde eingestreut sind. Das ist ein schönes Gefühl!"