Freitag, 29. März 2024

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Weber zur Koalitionskrise
"Seehofers Worte sind ein Hilfeschrei"

"Alles ist möglich", sagte Horst Seehofer. Er erwägt angeblich, die Minister der CSU aus der Bundesregierung abzuziehen. Der CSU-Politiker Manfred Weber wertet das nicht als Drohung. "Das ist ein Hilfeschrei", sagte er im Deutschlandfunk mit Blick auf den Zustrom von Flüchtlingen nach Bayern.

Manfred Weber im Gespräch mit Jasper Barenberg | 29.10.2015
    Der Europaabgeordnete Manfred Weber (CSU)
    Der Europaabgeordnete Manfred Weber (CSU) (Imago/Sebastian Widmann)
    Auf die Frage, ob die CSU die Große Koalition mit CDU und SPD platzen lassen werde, sagte Weber: "Die Frage stellt sich jetzt nicht und das ist die Debatte zur Unzeit. Wir müssen jetzt Probleme lösen, ganz praktische Probleme." Und die sind seiner Ansicht nach groß. Den Zustrom an Flüchtlingen könne "weder Niederbayern, noch Bayern, noch Deutschland in der Form durchstehen". Die Europäische Union müsse ihre Außengrenzen besser sichern, und zwar in Zusammenarbeit mit der Türkei. Nur so könne man die Zahl der Flüchtlinge senken. "Unsere Kommunen ächzen." Wenn die Zahlen nicht zurückgehen sollten, dann werde es in Bayern häufiger Extremsituationen geben. "Wir brauchen Lösungen, und das ist der Druck, den die CSU aufrechterhält." Die CSU sei vermutlich die Partei, die das zur Zeit am deutlichsten formuliere. "Aber die Probleme sind in ganz Deutschland vorhanden."
    Weber fordert Kooperation mit der Türkei
    Als Erstes müsse die türkisch-griechische Grenze besser gesichert werden, sagte Weber. "Es kann nicht sein, dass jeder, der anklopft, auch aufgenommen wird. Das wird uns nur mit der Türkei gemeinsam gelingen." Weber forderte Finanzhilfen der EU für die Türkei. Er hoffe, dass eine neue Regierung nach der anstehenden Wahl bereit sein werde, das Angebot anzunehmen. Eine zentrale Forderung sei zudem eine gerechte Lastenverteilung in Europa. "Deutschland ist nicht grenzenlos leistungsfähig."
    Die Türkei bezeichnete Weber als "sicheren Herkunftsstaat". Dort lebten bereits zwei Millionen Syrer. "Den Leuten geht es dort besser als im Libanon." Auch Afghanistan ist Webers Ansicht nach "kein Bürgerkriegsgebiet". Es gebe "große Zonen, die nicht umkämpft sind." Die Flüchtlinge aus Afghanistan sollten daher an der griechisch-türkischen Grenze abgewiesen werden. "Europa muss in den kommenden Wochen Geld bereitstellen, um in den Herkunftsländern die Konditionen zu ermöglichen, dass die Leute dort bleiben."

    Jasper Barenberg: Ein Ultimatum bis zum Wochenende, eine angedrohte Verfassungsklage, Gedankenspiele über den Rückzug der eigenen Minister aus der Koalition - an ein Drehbuch aus Hollywood erinnert Beobachter inzwischen die Art, wie CSU-Chef Horst Seehofer gerade die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin angreift. Auf die Eskalation folgt im Film unweigerlich der Showdown. Analog will Bayerns Ministerpräsident nach dieser Lesart mit seinen Drohgebärden erzwingen, dass Angela Merkel einlenkt und bei den Spitzengesprächen am Wochenende zustimmt, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen. - Am Telefon ist Manfred Weber, der Vorsitzende der EVP-Fraktion in Brüssel. Schönen guten Morgen.
    Manfred Weber: Guten Morgen, Herr Barenberg.
    Barenberg: Stört es Sie eigentlich, wenn Beobachter einen Großteil der Drohgebärden aus der CSU als Theaterdonner abtun, als Schauspiel für das Publikum und als Schuss mit Platzpatronen?
    Weber: Ja, das stört mich schon, weil das, was die CSU aus Bayern heraus, was Horst Seehofer auf den Tisch legt, ist weniger Drohgebärde, sondern schlicht und einfach ein Hilfeschrei. Ich selbst komme aus Niederbayern, das ist mein Stimmkreis, Passau, und wir haben dort vor Ort Situationen, die wirklich dringend und dringlich sind. Wir brauchen eine Lösung der Aufgaben. Auf Dauer kann das weder Niederbayern, noch Bayern, noch Deutschland in der Form durchstehen, und deswegen muss am Wochenende miteinander geredet werden und ich hoffe, dass es uns gelingt, dass wir zeigen, dass wir als Union, CDU/CSU zunächst am Samstag, dass wir gemeinsam stark sind. Weil andererseits: das Mutmachen der Kanzlerin, dass wir die Aufgaben auch packen, wenn wir gemeinsam anpacken, beide Seiten gehören zusammen.
    "Wir müssen jetzt Probleme lösen"
    Barenberg: Sie sprechen von einem Hilfeschrei. Sind Sie denn bereit, ist die CSU bereit, im Streit um dieses Thema, um den Umgang mit Flüchtlingen die Koalition in Berlin platzen zu lassen?
    Weber: Die Frage stellt sich jetzt nicht und das ist auch die Debatte zur Unzeit. Wir müssen jetzt Probleme lösen, ganz praktische Probleme, und es gibt keine große Stellschraube, keinen großen Schalter, den man umlegt, sondern es gibt viele Stellschrauben. In Deutschland geht es um die Transitzonen, die die CSU einfordert, und in Europa haben wir auch eine Reihe von Themen auf dem Tisch legen, ganz konkret die Außengrenzensicherung, die Partnerschaft mit der Türkei. Die gemeinsam anzupacken, ist derzeit der realistischste Schlüssel, um die Zahlen signifikant zu senken.
    Barenberg: Lassen Sie uns über die Einzelheiten gleich noch sprechen. Zunächst noch mal zum großen Ganzen. Was bedeutet es, wenn Horst Seehofer sagt, wir sind auf alles vorbereitet, juristisch, politisch, prüfen dieses und jenes? Was will uns der CSU-Chef damit sagen?
    Weber: Wie gesagt, dass Bayern - und die CSU regiert Bayern - sich wirklich in einer Notsituation befindet, dass unsere Kommunen ächzen und an Kapazitätsgrenzen stoßen. Und wenn wir es nicht schaffen, dass wir die Zahlen in den Griff kriegen, dass wir wieder zurückkommen zum vernünftigen, normalen staatlichen Handeln, dann wird das in Bayern stärker zu Extremsituationen führen in den Kommunen draußen. Wir brauchen dort Lösungen und das ist der Druck, den die CSU aufrecht erhält, übrigens ja auch durchaus mitgetragen durch andere Bundesländer, die ja auch an Kapazitätsgrenzen kommen. Wir sind vielleicht diejenigen, die es am deutlichsten formulieren, aber die Probleme sind natürlich in ganz Deutschland vorhanden. Am Ende der Tage muss es uns gelingen, jetzt Schritt für Schritt dort Lösungen aufzuzeigen.
    "Es kann nicht sein, dass jeder, der anklopft, auch in Europa aufgenommen wird"
    Barenberg: Nun hat es gerade eine Fülle von Entscheidungen gegeben, im Bundestag beispielsweise, aber auch auf europäischer Ebene. Was Deutschland angeht, ist die schärfste Verschärfung des Asylrechts durch den Bundestag gegangen. Es gibt sichere Herkunftsstaaten. Warum nicht abwarten, bis diese Maßnahmen erst einmal greifen?
    Weber: Die Maßnahmen sind gut und wir sollten sie auch gemeinsam vertreten, jetzt auch umsetzen, implementieren. Aber es ist nicht absehbar, dass diese Maßnahmen jetzt wirklich signifikant zu einer Senkung beitragen. Was wir jetzt brauchen - und das ist das, was wir in Europa unter Führung vom Kommissionspräsidenten Juncker machen - ist, die griechisch-türkische Grenze zu sichern nach den Schengen-Regeln, dass dort auch abgewiesen wird. Es kann nicht sein, dass jeder, der anklopft, auch in Europa aufgenommen wird. Das ist nicht Rechtslage in Europa und das muss auch durchgesetzt werden. Und das wird uns nur gelingen mit der Türkei gemeinsam. Deswegen hat die EU-Kommission jetzt der Türkei ein klares Angebot gemacht: Visa-Liberalisierung, die Fragestellung, bei den Verhandlungskapiteln zwei neue zu eröffnen, und deutlich ausgeweitete Finanzhilfen, über drei Milliarden Euro, die wir der Türkei anbieten, um vor Ort in deren Camps gute Bedingungen zu schaffen. Das ist aus meiner Sicht ein sehr balancierter Vorschlag, der jetzt vorliegt, und ich hoffe, dass nach den türkischen Wahlen jetzt am Sonntag auch die neue türkische Regierung bereit ist, dieses Paket anzunehmen und uns bei der Grenzsicherung zu helfen.
    Barenberg: Aber darum kann es ja nicht bei den Spitzengesprächen jetzt am Wochenende gehen.
    Weber: Ich glaube, das muss Teil des Paketes sein, nämlich der Kanzlerin Rückendeckung zu geben für ihre Aktivitäten auf europäischer Ebene. Es gibt definitiv keine einzelne deutsche Antwort auf diese Herausforderungen. Wir werden das als Europäer entweder gemeinsam schaffen, oder wir werden es nicht schaffen. Eine zentrale Forderung, wo die Kanzlerin auch am Wochenende Unterstützung braucht, ist die Forderung nach gerechter Lastenverteilung in Europa. Auch das hat Jean-Claude Juncker vorgelegt. Wir im Europäischen Parlament haben klare parlamentarische Mehrheiten für die Quote in Europa und da braucht Angela Merkel jetzt Rückenwind, dass sie auch bei der dritten Kammer, nämlich bei den Ministerräten und beim Europäischen Rat, sprich bei den Staaten mit Autorität auftreten kann und für die Quote kämpfen kann.
    Barenberg: Und die Drohgebärden, über die wir jetzt seit Tagen schon berichten, das ist die Art von Rückendeckung für die Kanzlerin, die sich die CSU vorstellt?
    Weber: Die Drohgebärden sind ein Hilfeschrei. Ich wiederhole mich, Herr Barenberg. Und die Themen, die jetzt in Berlin auch dringlich diskutiert werden, auch mit politischem Druck diskutiert werden, die zeigen durchaus auch unseren Nachbarn, dass Deutschland nicht grenzenlos leistungsfähig ist. Auch das ist ein Teil der Botschaft, die dort mit rüberkommt. Am Ende der Tage wie gesagt sind es viele einzelne Stellschrauben. Wir werden bei der Türkei ja immer noch die große Frage der sicheren Herkunftsstaaten am Tisch haben. Ich spreche mich auch hier ausdrücklich dafür aus, die Türkei als sicheren Herkunftsstaat zu definieren. Es leben dort jetzt über zwei Millionen syrische Flüchtlinge in der Türkei. Denen geht es dort vergleichsweise gut im Vergleich mit Libanon und Jordanien beispielsweise. Insofern muss man davon ausgehen, dass die Türkei ein sicherer Herkunftsstaat ist. Alles andere würde ja dazu führen, dass die zwei Millionen, die jetzt schon da sind, in keinem sicheren Land leben könnten. Insofern: Stellschrauben einzeln abarbeiten. Dann glaube ich auch, dass wir die Aufgaben in den Griff kriegen.
    "Die Idee der Transitzonen ist im Prinzip die Idee, die Verfahren deutlich zu beschleunigen"
    Barenberg: Dann lassen Sie uns über eine Stellschraube noch genauer sprechen: über diese sogenannten Transitzonen. Was versprechen Sie sich davon? Oder anders gefragt: Wie können Transitzonen dazu beitragen, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen, was ja Ihr Ziel ist?
    Weber: Das Modell ist ja nicht neu. Es ist ja in den Flughäfen erprobt. Und die Idee dahinter ist, dass praktisch an der Außengrenze in einer Schnellprüfung durchgeführt wird, ob eine Bleibeperspektive besteht oder nicht. Die Idee der Transitzonen ist im Prinzip die Idee, die Verfahren deutlich zu beschleunigen, schnell zu prüfen, ob eine Perspektive besteht oder nicht, und in absolut klaren Fällen - denken Sie an den Balkan mit Kosovo, mit Serbien -, in absolut klaren Fällen, wo wir keine Anerkennungsquote haben, direkt an der Grenze zu sagen: Du darfst nicht rein. Das, denke ich, ist schon jetzt angesichts der Gesamtzahlen, die wir haben, angesichts der Gesamtaufgabe, die wir haben, notwendig, über solche Verfahren nachzudenken, und ich hoffe, dass die SPD sich am Wochenende jetzt bewegt und die Transitzonen in Deutschland wirklich gemacht werden können.
    "Es gibt in Afghanistan große Bereiche von sicheren Zonen"
    Barenberg: Nun kommen über die österreichische Grenze ja vorwiegend und in allergrößter Zahl Flüchtlinge aus Syrien, aus Eritrea und aus Afghanistan im Moment. Wen wollen Sie da abhalten? Wen wollen Sie von dort aus wieder zurückschicken?
    Weber: Afghanistan ist nach unserer jetzigen Definition in der Europäischen Union kein Bürgerkriegsgebiet. Es gibt in Afghanistan große Bereiche von sicheren Zonen, die nicht umkämpft sind. Insofern müssten Afghanen nach der heutigen Definition bereits an der griechisch-türkischen Grenze zurückgewiesen werden. Das heißt ja im Übrigen nicht, dass wir als Europäer nicht hilfsbereit wären. Es ist ja nur die Fragestellung, wo ist die Hilfe besser angesiedelt. Deswegen muss Europa - und das ist auch eine unserer Stellschrauben - in den nächsten Wochen umgehend die zugesagten Gelder bereitstellen, um in den Herkunftsländern oder in den Aufnahmeländern, wo sich jetzt Flüchtlinge aufhalten, die Konditionen so zu organisieren, dass die Menschen dort bleiben. Die Masse auch der Syrer will nicht weg, sie wollen heimatnah untergebracht werden, um dann in einem hoffentlich bald eintretenden Fall von Frieden auch in ihre Heimat zurückzukehren. Insofern: Wenn wir über Grenzsicherung reden, heißt das nicht, Europa meldet sich ab, sondern Europa muss aktiv bleiben, aber in den Herkunftsländern.
    "Europa muss die Verantwortung an seiner eigenen Außengrenze selbst übernehmen"
    Barenberg: Österreichs Innenministerin Mikl-Leitner fordert - das ist heute in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" nachzulesen - eine stärkere Abschottung Europas. So rasch wie möglich möchte sie an einer Festung Europas bauen. Gehen Sie da konform?
    Weber: Nein! Ich glaube, dass wir eine starke Außengrenzensicherung brauchen. Das steht außer Frage. Und ich spreche mich auch dafür aus, dass wir über einen europäischen Grenzschutz nachdenken, weil wir erleben, dass Mitgliedsstaaten teilweise nicht in der Lage sind, wie im griechischen Fall, die Außengrenze nach dem Schengen-Standard zu sichern. Deswegen muss Europa die Verantwortung an seiner eigenen Außengrenze selbst übernehmen, mit dem europäischen Küstenschutz und der Grenzschutzagentur. Trotzdem darf das nicht Festung bedeuten. Wenn arme Länder wie Jordanien und der Libanon in den letzten Jahren bereits Millionen von Syrern Obdach geboten haben und dort Menschen geholfen haben, Mensch, dann muss doch dieser reiche Kontinent Europa auch in der Lage sein zu helfen. Es geht um gerechte Lastenverteilung. Es geht um gemeinsames Management mit diesen Herkunftsstaaten. Deswegen dürfen wir nicht an einer Festung arbeiten. Allerdings alles hat Grenzen und deswegen müssen wir auch klar machen, dass nicht jeder, der anklopft, sofort reingelassen wird.
    Barenberg: ... sagt Manfred Weber, der Vorsitzende der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Vielen Dank für das Gespräch.
    Weber: Ich bedanke mich.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.