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Wechselnde Positionen

Die literarische Beschreibung des eigenen Lebens ist ein heikles Genre: Unvermeidlich fließen Dichtung und Wahrheit ineinander. So auch bei dem dänischen Schriftsteller Peer Hultberg. Sein Brief an die Mutter legt ebenfalls sich nicht fest und spannt sich inhaltlich zwischen Wut, Verstehen, Dankbarkeit, Aufbegehren und Trauer.

Von Sabine Peters | 19.04.2011
    Das Werk des dänischen Schriftstellers Peer Hultberg, der von 1935 bis 2007 lebte, steht quer zu allen gängigen gegenwärtigen Strömungen – es bildet einen eigenen literarischen Kosmos. So versammelte das mosaikhaft angelegte Buch "Requiem" ganze 537 Monologe von mehr oder weniger normalen Zeitgenossen. Für einen lang gedehnten Moment sprechen sie unverstellt und ungeschützt; aus ihnen bricht heraus, was man sonst keinem anderen sagt, und manchmal nicht einmal sich selbst. Das polyphone "Requiem" artikuliert Emotionsgeschichten, die lang in einem nachklingen. Soeben sind zwei Bücher aus Hultbergs Nachlass erschienen, die in den 80er und 90er-Jahren entstanden: Eine "Selbstbiografie" und ein Brief an die Mutter, der nach ihrem Tod geschrieben wurde.

    Die literarische Beschreibung des eigenen Lebens ist ein heikles Genre: Unvermeidlich fließen Dichtung und Wahrheit ineinander. Das beginnt schon mit der Auswahl, mit der Hervorhebung von Höhepunkten, mit den Sprüngen, die eine Chronologie durchbrechen. Peer Hultberg erklärt in seiner "Selbstbiografie", in der es vor allem um seine Kindheits- und Jugendjahre geht, er wolle sich Rechenschaft über sein Leben geben; er fügt hinzu: "Es ist schwierig, darüber zu schreiben und nicht erwachsen und analysierend zu sein". Hultberg war nicht nur ein mehrfach ausgezeichneter Schriftsteller, er praktizierte auch viele Jahre lang als Psychoanalytiker, in Frankfurt am Main und in Hamburg. Bei der Lektüre seiner Biografie und des Briefs an die Mutter stellt man sich vor, beide Texte sind sozusagen mit schielendem Blick geschrieben worden: Erfahrungen und die damit verbundenen Emotionen wollen unverstellt, unzensiert geschildert werden – aber der Analytiker ist sozusagen als Zeuge immer mit dabei.

    Also: Ein unehelich geborener Junge wird von einem gutbürgerlichen Ehepaar adoptiert, bald kommt eine Adoptivschwester dazu. Das Aufwachsen in einem Kinderheim bleibt beiden erspart, die materiellen Lebensgrundlagen sind überdurchschnittlich gut. Glück gehabt? Nein. Lapidar heißt es, die Mutter sei gedankenlos und dumm, der Vater bösartig und dumm. Die beiden Kinder sollen eine durch und durch verkorkste Ehe retten. Peer ist ein angepasster Junge, der seine infantilen Eltern schont, der seiner Mutter nie Probleme macht, - weil er sie eben selbst erleidet. Ein leicht hospitalisiertes Kind, das den Kopf rollen muss, um einschlafen zu können; ein Kind, dass stundenlang allein im Garten seltsame Grabkammern baut, und zwar aus getrockneten Pferdeäpfeln. Ohne dass der Autor sein psychoanalytisches Wissen auffaltet, lassen sich einige Muster erkennen, die auf das Drama des Narzissmus hinweisen, wie es von Alice Miller beschrieben wurde. Das Kind weiß, dass es unerwünscht war, dass es kein Recht zu existieren hat - dieses Recht kann nur durch Anpassung und Leistung erkämpft werden. Es wächst in einer rückständigen Provinzstadt auf; seine Interessen werden von den Eltern nicht gefördert, sondern argwöhnisch oder verächtlich behandelt.

    Der Gymnasiast Peer Hultberg entwickelt dann allerdings neben der Schule geradezu hektische kreative und intellektuelle Aktivitäten: Musikunterricht, Chor, Fotografieren, Komponieren, Lektüre von Proust und Joyce, philosophische Diskussionszirkel. Fantasien von Autonomie und Unabhängigkeit wechseln ab mit Minderwertigkeits- und Ohnmachtsgefühlen. Und doch entwickelt sich eine fragile Balance, ein Einverständnis mit sich selbst, das auch die eigene Homosexualität einschließt.

    Hultbergs Brief an seine 1990 soeben verstorbene Mutter ist als das Sprechen zu einem bereits abwesenden Menschen zwar formal etwas anderes als die Selbstbiografie. Aber auch dieser Text spannt sich inhaltlich zwischen Wut, Verstehen, Dankbarkeit, Aufbegehren und Trauer.

    Verglichen mit den Romanen dieses Autors haben Selbstbiografie und Brief viele Ecken und Kanten. Hultberg hätte sie sicherlich vor der Herausgabe noch einmal überarbeitet, hätte Wiederholungen gestrichen und Brüche geglättet. Trotzdem ist die Lektüre äußerst empfehlenswert; gerade das Kantige, Widersprüchliche macht den Reiz der Bücher aus. Im Übrigen bleibt Hultberg auch hier trotz allen Furors diskret. Seine Aufzeichnungen schildern in all ihrer Individualität sehr vieles, was repräsentativ für das gnadenlose Diktum "du sollst nicht fühlen" und was repräsentativ für die Figur des "begabten Kindes" ist.

    Die Dressur und Zurichtung solch eines begabten Kindes hatte Hultberg in seinem Roman "Präludien" dargestellt, ein bewegendes und verstörendes Porträt des jungen Frédéric Chopin. Die "Präludien" wie auch der Roman "Die Stadt und die Welt" entstanden, während der Autor nebenher an der Selbstbiografie schrieb. Wer die Romane liest, wird Querverbindungen zu der Selbstbiografie finden und entdecken, wie das persönliche, autobiografische Material variiert wird und verfremdet weiter wandert. Die jetzt erschienenen Bände sind allerdings mehr als reines Material, sie können als Literatur für sich selbst stehen.

    Denn das "Ich", das Textsubjekt, das hier spricht, geht nicht in einer Haltung auf, es lässt sich nicht festlegen; es spricht aus mitten im Satz wechselnden Positionen: Kind und Racheengel, Forscher und Dichter, Kläger und Kobold, der Ent-Täuschte wie der Enthusiast kommen hier zur Sprache - und all diese Stimmen miteinander geben Hultbergs Büchern ihren Reichtum.

    Peer Hultberg: "Selbstbiografie". 527 Seiten.
    Peer Hultberg: "Brief". 112 Seiten.
    Aus dem Dänischen von Angelika Gundlach. Jung und Jung, zusammen 35.-