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"Weder puritanisch, noch fundamentalistisch"

Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach begrüßt das Urteil zum Berliner Ladenöffnungsgesetz. Es gehe dabei nicht in erster Linie um Religion, sondern um "die Freiheit der Menschen gegenüber dem kollektiven kommerziellen Druck".

Friedhelm Hengsbach im Gespräch mit Sandra Schulz | 02.12.2009
    Sandra Schulz: In diesem Jahr stehen die Adventssonntage in der Hauptstadt zum letzten Mal als Synonym fürs Shoppen. Das hat das Bundesverfassungsgericht gestern entschieden. Die Richter in Karlsruhe stellten klar, dass die Berliner Ladenöffnungszeiten, die liberalsten in ganz Deutschland, nicht mit der Religionsfreiheit in Einklang zu bringen sind. Von einem Rückschritt für das Christmas-Shoppen spricht Berlins Regierender Bürgermeister Wowereit. Als Stärkung der Feiertags- und Sonntagskultur lobt das Urteil der Berliner evangelische Bischof Markus Dröge hier im Deutschlandfunk. Einkaufen als Widerspruch zur seelischen Erhebung – machen wir diese Rechnung nur hier in Deutschland auf? Was lernen wir aus dem Urteil von gestern? Darüber wollen wir in den kommenden Minuten sprechen. Am Telefon begrüße ich den Theologen und Sozialethiker Professor Friedhelm Hengsbach. Guten Morgen!

    Friedhelm Hengsbach: Guten Morgen, Frau Schulz. Ich grüße Sie.

    Schulz: Ist das Urteil ein Triumph religiöser Werte gegenüber dem Kommerz?

    Hengsbach: Nicht in erster Linie religiöser Werte. Die werden zwar auch genannt, aber die Kirchen könnten ja an sich mit dem freien Vormittag auch in Berlin leben. Ich sehe den Schwerpunkt der Argumentation vor allen Dingen darin, dass die Sonntagsruhe erst mal als Regel anerkannt ist, aber neben der Religionsfreiheit als Argument vor allen Dingen die Situation der abhängig Beschäftigten, dass ihnen also Freiheit gewährt wird gegenüber dem kommerziellen Druck, und vor allen Dingen auch, dass das gesellschaftliche Zusammenleben hier als ein kultureller Wert gesehen wird, der höher steht als jetzt der Druck des Geldes und der Tauschbeziehungen.

    Schulz: Aber warum lässt sich das eigentlich nicht vereinbaren im 21. Jahrhundert, Einkaufen, durch die Geschäfte gehen und die seelische Erhebung? Warum passt das nicht zusammen?

    Hengsbach: Die seelische Erhebung ist sicher etwas, so wie es hier genannt wird: die Freiheit der abhängig Beschäftigten und die Autonomie des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Und das sind kollektive Werte. Ich kann zwar mehr Freizeit haben, individuell, aber diese Freizeit wird nicht zur Festzeit, weil die Zeit ein öffentliches Gut ist, und gemeinsam feiern kann ich eigentlich nur mit anderen und dann muss also auch die Zeitabstimmung einfach gehen. Von daher, denke ich, ist es wichtig, dass die Möglichkeiten, zusammen Zeit zu erleben und vor allen Dingen unabhängig zu sein gegenüber dem Druck der Arbeitgeber, das ist etwas, was öffentlich und dann auch staatlich geregelt werden muss.

    Schulz: Jetzt argumentiert Karlsruhe ja damit, kommerzielle Gründe reichten nicht aus, um diesen Rhythmus zu stören. Auf der anderen Seite schafft der Konsum natürlich für uns und für viele die Lebensgrundlage, ist hier in Deutschland ja auch Basis unseres Wohlstands. Wann war denn der Punkt erreicht, an dem es zu viel war?

    Hengsbach: Das Urteil ist ja nicht radikal. Es ist ja weder puritanisch, noch fundamentalistisch, sondern es sagt, wenn ein Monat im Jahr ausschließlich Werktag ist, dann wird diese verfassungsgemäße Einrichtung der Sonntagsruhe, der Arbeitsruhe und der Möglichkeit, auch gesellschaftliche Abstimmungen vorzunehmen, gestört, dann ist das nicht mehr erhalten. Insofern darf der Kommerz am Sonntag eigentlich nur die Ausnahme sein aus gewichtigen Gründen. Insofern ist es ja ein sehr kluges und fast ein salomonisches Urteil, das nur Grenzen zieht gegenüber diesem totalen Druck und diesem Anspruch des Geldes und der Tauschbeziehungen in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein. Wenn jetzt hier Regierungen und Parlamente versagen, ist es eigentlich erfreulich, dass die dritte Gewalt jetzt gleichsam Grundrechte der Einzelnen und Grundrechte der Gemeinschaften stark in den Vordergrund rückt.

    Schulz: Sehen Sie in dem Urteil denn jetzt auch wieder eine Annäherung zwischen dem Staat und den christlichen Kirchen?

    Hengsbach: Ich bin ja der Meinung, dass die Kirchen nicht in eigener Regie oder nicht als Anwalt ihrer eigenen Interessen dieses Urteil erreicht haben, sondern dass sie der Anwalt sind für die Menschen, die jetzt zur Sonntagsarbeit gezwungen werden, und auch für die Menschen, beispielsweise Vereine, gesellschaftliche Initiativen und auch Familien, die eigentlich auch eine Zeit haben möchten für ihre Interessen und nicht jetzt auseinandergerissen werden durch diese Individualisierung und Flexibilisierung auch der wirtschaftlichen Ansprüche.

    Schulz: Das heißt, dass es eigentlich eine Stärkung der Menschen wäre, eigentlich auch ein recht weltliches Urteil. Schwächt sich damit die Kirche dann nicht selbst mit dieser Interpretation?

    Hengsbach: Nein. Die Kirche darf ein Interesse haben über das unmittelbar Religiöse hinaus. Das ließe sich ja zu anderen Zeiten, oder eben halt unabhängig von der Sonntagsregelung erreichen. Aber sie hat ein Interesse, dass die Menschen Freiheitsräume für sich haben und nicht jetzt mächtigen Interessen der Wirtschaft, oder auch des Staates, oder der Regierungen und der Parlamente ausgeliefert sind. Es hat ja Zeiten gegeben, in denen die Christen sonntags oder auch an anderen Tagen zum Gottesdienst gehen konnten, ohne dass da die öffentliche Ordnung darauf Rücksicht nahm. Es gab sogar Zeiten, wo die Christen sich von den rigorosen Sabbatgebot der Juden abgesetzt haben, dass sie sagen, unsere Identität besteht darin, dass wir am Sonntag arbeiten und abends zum Gottesdienst gehen. Jesus hat ja selbst auch eine rigorose und fundamentalistische puritanische Regelung der Arbeitsruhe, sagen wir mal so, der Sabbatruhe, der Sonntagsruhe gar nicht im Auge gehabt. Allerdings umgekehrt wieder der Römer Seneca hat sich darüber gewundert, dass die Juden ein Siebtel ihrer Zeit unproduktiv verwenden. Der hat schon erkannt, worum es geht. Es geht nicht in erster Linie um Religion, sondern es geht um die Freiheit der Menschen gegenüber dem kollektiven kommerziellen Druck.

    Schulz: Wenn wir jetzt im 21. Jahrhundert bleiben und eben noch mal bei der Interpretation dieses Urteils. Diese Anziehungskraft der Kirchen, der Gottesdienste, die gibt es jetzt ja aktuell auch gar nicht mehr. Deswegen noch mal die Frage: Schwächen die Kirchen ihre Position da nicht eigentlich selbst, auch mit dieser Interpretation?

    Hengsbach: Ich denke, wenn die Kirchen sich für die Rechte der Menschen einsetzen, für die Rechte vor allen Dingen gesellschaftlichen Zusammenlebens, oder für die Rechte der abhängig Beschäftigten, dann erfüllen sie eigentlich ihren Auftrag, dass der Dienst gegenüber Gott eigentlich der Dienst an den Menschen ist.

    Schulz: Jetzt ist das Urteil von gestern gleichzeitig so schwammig, dass sich auch beide Seiten bestätigt sehen können. Jetzt wird als politische Konsequenz darüber gestritten, wie viele Sonntagsöffnungen denn nun insgesamt zulässig sind. Ist dieser Streit, dieser ein bisschen kleinkarierte Streit über die Anzahl verkaufsoffener Sonntage dann nicht auch ein bisschen neben der Sache?

    Hengsbach: Zunächst einmal ist es ja auch wichtig, dass bestimmte Markierungen gesetzt werden, dass symbolische Zeiten verfügbar bleiben für das Zusammenleben und auch für die eigene individuelle Freiheit. Das ist mal so ein symbolischer Markierungspunkt. Darunter kann man natürlich Regelungen finden, wann Sonntagsarbeit notwendig ist, oder wann sie praktisch nur aus Handelsinteressen erfolgt. Da, denke ich, ist jetzt einfach mal eine Grenze gezogen, dass reines Handelsinteresse, also Shopping, und auf der anderen Seite Kommerz noch kein Grund dafür ist, jetzt den Unterschied zwischen freien Tagen und Werktagen einfach aufzuheben.

    Schulz: Der Sozialethiker Professor Friedhelm Hengsbach heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke schön!

    Hengsbach: Bitte schön.