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Weg von der Flasche - ohne Schmerzen

Mindestens vier Millionen Deutsche sind alkoholabhängig. Die meisten Alkoholiker wollen wegkommen vom Alkohol; aber viele fürchten die Entzugssymptome. Ärzte an der Charité in Berlin haben eine Entzugs-Behandlung entwickelt, die den Betroffenen unangenehme Entzugssymptome erspart: Entgiftung im Tiefschlaf.

VonAndrea Kalbe | 07.12.2004
    Im Laufe der Jahre wurden aus zwei, drei Bierchen fünf, sechs Bierchen. Die Ereignisse, die zum Alkoholkonsum führten, wurden immer häufiger, bis dann eines Tages es ohne Alkohol nicht mehr ging. Angefangen hat's dann mit morgendlichen Bierchen bis dann zum Ende schon morgens um acht Uhr eine Flasche Schnaps auf dem Tisch stehen musste.

    Der klassische Weg eines Gelegenheitstrinkers in die Alkoholabhängigkeit. Der Patient, nennen wir ihn Manfred S., konnte zum Schluss ohne den Griff zur Flasche den Tag nicht überstehen. Insgesamt zehn Jahre war er alkoholsüchtig, hat in dieser Zeit viel versucht, um vom Trinken loszukommen: Unterstützt durch seinen Hausarzt, mit Tabletten, in einer Entzugsklinik. Vergeblich – der Drang nach Alkohol war am Ende stärker. Geholfen hat Manfred S. schließlich eine Therapie der Berliner Charité – der Alkoholentzug unter Vollnarkose. Mario Hensel, leitender Oberarzt an der Charité, hat sie vor sechs Jahren mitentwickelt.

    Da geht es darum, dass die Patienten mit Hilfe des Narkoseentzuges in einer recht kurzen Zeit, das heißt innerhalb von ein bis zwei, maximal drei Tagen, die körperliche Abhängigkeit überwinden. Demgegenüber stehen ja sieben bis 14 Tage konventionelle Zeit für die Überwindung der körperlichen Abhängigkeit. Das heißt, spätestens ab dem 3. Tag nach Beginn der Abstinenz sind wir in der Lage, mit dem Patienten sehr intensiv zu arbeiten.

    Nämlich psychologisch und physiotherapeutisch. Manfred S. konnte bereits nach drei Wochen nach Hause zurückkehren. Bei der klassischen Therapie müssen die Patienten dagegen bis zu vier Monate im Krankenhaus bleiben. Die neue Entzugsmethode geht aber nicht nur schneller, sie ist auch schonender. Beim herkömmlichen Entzug haben viele Herz-Kreislauf-Probleme, Krampfanfälle oder Wahnvorstellungen. Diese so genannten Entzugssymptome sind nicht nur unangenehm, sondern mitunter auch lebensgefährlich. Bei der Entgiftung im Tiefschlaf bekommt der Patient die quälenden Begleiterscheinungen nicht mit. Vorteil für Mario Hensel:

    Dass gerade die Leute, von denen man annehmen muss, dass sie besonders schwere Verlaufsformen des Alkoholentzuges durchlaufen, das heißt, lebensbedroht sind, dass die von dieser Form des Entzuges natürlich besonders profitieren, weil wir es unter intensivmedizinischen Bedingungen tun. Dass heißt, sie sind apparativ in besonderer Weise überwacht.

    Die Ärzte kontrollieren ununterbrochen Puls, Blutdruck, Atmung oder Herzaktivität und können bei Unregelmäßigkeiten sofort einschreiten. Parallel bekommen die Patienten Medikamente. Sie sollen die Entzugserscheinungen eindämmen.

    Der Standortvorteil, den wir haben ist, dass alle Patienten durch den körperlichen Entzug kommen, weil sie ja schlafen und wir die Narkose erst beenden, wenn der körperliche Entzug abgeschlossen ist. Das heißt, diese Abbruchrate, die sonst beim konventionellen Entzug da ist, die entfällt.

    Bis zu 50 Prozent der Patienten bricht konventionelle Behandlungen ab – viele ertragen die Entzugssymptome nicht. Kritiker wenden ein: Nur wenn ein Alkoholiker den Entzug bewusst durchleidet, fängt er später nicht mehr an zu trinken. Mario Hensel:

    Ja, das sind ja ganz uralte Standpunkte, die auch von etablierten Suchtmedizinern so nicht mehr getragen werden, das muss man sagen. Also die These, dass man einen Entzug durchleiden muss, um erfolgreich zu sein, die ist mit nichts bis heute belegt. Und bei unseren Patienten war es ja so, dass die nicht zum ersten Mal zum Entzug gekommen sind, sondern dass die viele, viele auch konventionelle, klassische Vorerfahrungen hatten, bis hin zu 25 Entzugsversuchen im Vorfeld. Und jeder Patient, der diese Erfahrung hatte, hat gesagt: Das Durchleiden eines Entzuges hat ihn nicht abgehalten davon, wieder rückfällig zu werden.

    Wichtiger Bestandteil der Therapie unter Vollnarkose ist, wie bei der herkömmlichen Behandlung auch, die anschließende Rehabilitation – mit psychologischer Betreuung, Verhaltenstraining und Bewegungstherapie. Die Krankenkassen übernehmen die Kosten von rund 8.000 Euro nicht. Bislang sind von den 186 unter Narkose behandelten Patienten alle durch den körperlichen Entzug gekommen, 70 Prozent sind auch nach einem Jahr noch trocken geblieben. So auch Manfred S.. Seit fünf Jahren rührt er keinen Tropfen Alkohol mehr an.

    Ich brauch nicht mehr mit dem Bauch zu kämpfen. Ich brauche nur zu sagen: Ich will keinen Alkohol mehr trinken. Mir sagt keine innere Stimme mehr oder der Bauch sagt mir nicht mehr: Du könntest noch an der Tankstelle anhalten und dir eine Flasche Schnaps holen.