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Weg von der Status- hin zur Förderdiagnostik

Statt Kinder zu kategorisieren - im Sinne von: das ist behindert, dieses hat einen Migrationshintergrund, jenes ist homosexuell - sei es wichtiger, den individuellen Entwicklungsbedarf festzustellen. Das ist ein Tenor auf dem Bundeskongress der Schulpsychologen in Münster. Allerdings erfordere das ein anderes Bildungssystem und andere Lehrer.

Von Antje Kley | 27.09.2012
    Stefan Drewes sieht es jeden Tag. Er arbeitet in der schulpsychologischen Beratungsstelle in Düsseldorf und hat engen Kontakt zu Lehrern. In den Regelschulen sind es vor allem die hoch motivierten Lehrer, die sich an die Inklusion trauen, sagt er. Sie machen gemeinsamen Unterricht: mit nichtbehinderten Kindern und Kindern mit Sprach- oder Lernbehinderungen oder emotionalen Störungen. Und laufen Gefahr, sich zu überfordern.

    "In dieser Phase der Umsetzung fehlen oft noch Ressourcen, fehlen Unterstützung durch Fortbildung, fehlen Sonderschullehrer, fehlen andere Beratungsmöglichkeiten und da sehen wir Lehrkräfte, die an die Grenze ihrer Kräfte kommen, die (..) zerbrechen an ihren eigenen Idealen, die sie mit in die Schule gebracht haben und an den Realisierungsmöglichkeiten."

    Das größte Problem sei dabei häufig, die Schüler als Individuen zu akzeptieren, erklärt Klaus Seifried. Er ist Schulpsychologe in Berlin. Seifried will, dass man wegkommt von einem Schubladendenken. Davon, Kinder zu kategorisieren – im Sinne von: das ist behindert, dieses hat einen Migrationshintergrund, jenes ist homosexuell. Das sei auch deshalb so wichtig, weil viele Schüler in Deutschland ein eher negatives Bild von sich und ihrem zukünftigen Anteil am gesellschaftlichen Leben haben. Das muss sich ändern, und das setzt ein anderes Bildungssystem voraus. Und andere Lehrer.

    "Für Lehrer ist es oft schwierig, dass manche halt unruhig sind, verhaltensauffällig sind oder langsamer lernen als andere. (..) Unser Job als Schulpsychologe besteht darin, halt Lehrkräfte und Eltern zu unterstützen, hier das Besondere an Kindern akzeptieren zu lernen, damit umgehen zu lernen, die Kinder und Jugendlichen in bestmöglicher Form zu fördern in der Schule."

    Die Schulpsychologen fordern daher, dass man wegkommt von der Statusdiagnostik hin zu einer Förderdiagnostik. Ziel ist, den individuellen Entwicklungsbedarf festzustellen. Dazu muss auch die Lehrerausbildung verändert werden. Ein Abfragen von Standardwissen ist nicht mehr zeitgemäß. Schüler sollen lernen, kreativ, kritisch und problemorientiert zu denken.

    Die Schule ist schon immer heterogen gewesen, sagt Seifried. Das wird sich in Zukunft noch verstärken. Auch durch die Inklusion.

    "Wichtig ist, dass Schule sich an diesem Punkt öffnet und Helfer und Unterstützungssysteme in die Schule holt, sich beraten lässt, sich aber auch unterstützen lässt und ganz entscheidend ist, dass diese Helfer Jugendamt, Schulpsychologie, Sonderpädagogik, Ärzte nicht nebeneinander arbeiten, sondern dass diese Hilfen effektiv aufeinander abgestimmt sind."

    Multiprofessionelle Teams sind dafür in Zukunft nötig. Das bestätigt auch Professor Andreas Schleicher von der OECD. Er ist Bildungsforscher und hat die PISA-Studie entwickelt.

    "Wir sollten Inklusion als umfassendes Konzept auffassen, wo es um Individualisierung von Lernprozessen geht. Wo es darum geht, wo ich als Lehrkraft sehen kann, wie Schüler unterschiedlich lernen (..) und dass ich dann auf die Unterstützungssysteme zurückgreifen kann, um auf diese Herausforderung einzugehen, um Probleme zu lösen, statt Probleme abzuwälzen."

    Die Schulpsychologen sehen sich dabei als wichtigen Teil dieser Teams. Sie beraten Schüler, Eltern und Lehrer, kennen sich aus mit den Schulsystemen und den Entwicklungsstadien der Kinder. Das Problem: sie sind zu wenige, sagt der Berliner Schulpsychologe Seifried.

    "Der internationale Standard ist: 1 Schulpsychologe für 1000 Schüler. (…) In Deutschland ist der Durchschnitt 1 zu 10.000. Und in Großstädten 1 zu 5000. Also wir sind weit entfernt von internationalen Standards. Deutschland ist hier europäisches Schlusslicht."

    1500 Schulpsychologen gibt es deutschlandweit – die Zahl müsste sich mindestens verdoppeln, fordert der Bundesverband Deutscher Psychologen. Durch die Inklusion werden die Herausforderungen für die Schulen größer. Das lässt sich nur bewältigen, wenn die Voraussetzungen dafür geschaffen werden.