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Weggesperrt für lange Zeit?

Sicherungsverwahrung, das ist die Haft nach der Haft - etwa 500 Männer sitzen in Deutschland in der Verwahrung, die Zahl steigt stetig. Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht die Regelungen zur Sicherungsverwahrung gefährlicher Straftäter für verfassungswidrig erklärt.

Von Gudula Geuther und Sebastian Bargon | 03.05.2011
    Der 52-jährige Michel M. wohnt in einer Notunterkunft der Stadt Freiburg. Eine Treppe hoch geht es in sein Zimmer. Der Raum ist winzig. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl, ein Kühlschrank und zwei Regale vom Sperrmüll haben darin Platz. Auch wenn er die Tür hinter sich schließt, der korpulente Mann mit den grauen Haaren ist nie allein: Fünf Polizeibeamte in Zivil bewachen ihn rund um die Uhr. Michel M. ist ein verurteilter Sexualstraftäter, der als rückfallgefährdet eingestuft wird. Zwei Polizisten sitzen deshalb in einem VW-Bully vor dem Haus, drei andere schauen im Zimmer gegenüber fern.
    "Heute Nacht wäre ich fast verrückt geworden, weil die Situation ist so bedrückend. Ich war heute Morgen auch mit einem Psychologen zusammen und habe dem erzählt, wie ich mich da fühle, dass es mich belastet - schon extrem bedrückend. Ich kann nicht alleine weggehen, ich habe keine sozialen Kontakte."

    1985 war Michel M. wegen mehrfacher Vergewaltigung in Tateinheit mit Entführungen zu fünf Jahren Haft verurteilt worden mit anschließender Sicherungsverwahrung. Aufgrund der Arbeitsteilung unter den Justizvollzugsanstalten in Baden-Württemberg sind in Freiburg die meisten nachträglich in Sicherungsverwahrung genommenen Straftäter inhaftiert. 25 Jahre verbrachte der heute 52-Jährige in der JVA. Im vergangenen September musste er entlassen werden, nachdem der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte die deutsche Praxis, gefährliche Straftäter unbefristet als "Sicherungsverwahrte" einzusperren, für rechtswidrig erklärt hatte. Michel M. kam in der Notunterkunft unter, denn die Stadt ist verpflichtet, einem Entlassenen wie jedem anderen Obdachlosen Unterkunft zu gewähren. Da er seine Strafe abgesessen, zudem an einer dreijährigen Sozialtherapie teilgenommen habe, kann Michel M. nicht verstehen, dass er noch immer kein wirklich freier Mann ist:

    "Heute vor 27 Jahren waren die letzten Straftaten. Und immer noch tut man so, als ob ich weitere Straftaten begehen würde."
    Michel M. schlägt vor, das Gespräch in einem nahegelegenen Café fortzusetzen. Als er das Haus verlässt, geht neben ihm schweigend einer der Polizisten in Jeans und blauem Sweatshirt. Ihnen folgen mit einem Abstand von wenigen Metern drei weitere Beamte in Zivil. Dass sie unter ihrer Kleidung Waffen tragen, sieht man. Der fünfte Beamte bleibt im Fahrzeug, kann aber jederzeit über Funk herbeigerufen werden. Die Anwohner der Freiburger Notunterkunft wissen längst über den ehemaligen Sicherungsverwahrten Bescheid. Zumal er mit seinen Begleitern natürlich auffällt.

    Umfrage:

    Mann: "Bringt uns Bürgern mehr Sicherheit!"

    Alte Dame: "Ich finde es furchtbar, dass Polizisten Tag und Nacht da sein müssen. Denke, die werden doch nicht freigelassen, wenn man glaubt, dass sie auf die Leute losgehen. Ich denke doch, dass unsere Richter so gescheit sind. Das hoffe ich doch!"

    Mann: "Nach Gesetzeslage ist es sicher sinnvoll, wenn es Täter sind, die tatsächlich rückfallgefährdet sind. Aber der unglaubliche Aufwand ärgert mich auch als Steuerzahler, denn die Personalbindung der Polizei ist kritisch!"
    Michel M. ist einer von sechs ehemaligen Sicherungsverwahrten, die derzeit in der südbadischen Stadt leben. Die Männer gelten als Gefahr für die Allgemeinheit und müssen seit fast einem Dreivierteljahr rund um die Uhr bewacht werden. Freiburgs Polizeipräsident Heiner Amann spricht von einer großen Belastung: Über 150 Beamte sind im Schichtbetrieb im Einsatz. Die Personal- und Sachkosten schätzt er bislang auf über vier Millionen Euro:

    "Wir haben Mauern in der Justizvollzugsanstalt durch menschliche Mauern ersetzt. Und dass das keine befriedigende Tätigkeit für einen engagierten Polizeibeamten ist, ist für mich nachvollziehbar."
    Michel M. nimmt im hinteren Teil des Cafés Platz. Er bestellt Milchkaffee und Bienenstich. Fünf Meter entfernt sitzt einer der Polizisten bei Cappuccino und Erdbeerkuchen. Seine drei Kollegen warten derweil vor dem Café und rauchen. Michel M. schaut verbittert aus, die Polizisten sind ihm lästig. Er beklagt seine soziale Isolation:

    "Mich lässt leiden, dass mich der Staat nach so langer Haft nicht in Frieden lässt. Dass er immer noch versucht, meine Freiheit einzuschränken. Und dass ich in der Öffentlichkeit als gefährlich verschrien werde und die Leute Angst gemacht bekommen."
    Morgen wird das Karlsruher Bundesverfassungsgericht ein neues Urteil zur Sicherungsverwahrung verkünden. Der 52-Jährige ist auf den Richterspruch gespannt, hat jedoch kaum Hoffnung, dass sich seine Lebensumstände entscheidend verbessern werden. Bei zwei anderen Männern wurde erst vor zwei Wochen die polizeiliche Dauerobservation beendet, weil sich die Männer zur Unterbringung in einer geschlossenen Therapieeinrichtung bereit erklärt haben, die auf dem Gelände der Heilbronner Justizvollzugsanstalt entstehen soll. Trotzdem sieht Polizeipräsident Amann dem morgigen Urteil skeptisch entgegen. Denn:

    "Wir wissen, wie viele Sicherungsverwahrte einsitzen. Wir müssen damit rechnen, dass wir im ungünstigsten Fall bis zu 18 Personen hier haben könnten. Landesweit sind es noch mehr."
    Ob nach der morgigen Entscheidung Klarheit für Männer wie Michel M. herrscht oder für die Polizisten, die ihn bewachen, ist nicht gesagt. Denn zu entscheiden haben die Verfassungsrichter über Sicherungsverwahrte, die gerade nicht entlassen wurden. Trotzdem – mindestens mittelbar wird das Urteil Maßstäbe auch für Entlassene wie Michel M. setzen.
    Sicherungsverwahrung, das ist die Haft nach der Haft, nach verbüßter Strafe, nach – wenn das möglich ist – gesühnter Schuld, möglicherweise buchstäblich lebenslang. Etwa 500 Männer sitzen in Deutschland in der Verwahrung, die Zahl steigt stetig. Aber: Etwa 30 von ihnen haben Gerichte in den vergangenen Monaten mit der gleichen Begründung aus der Sicherungsverwahrung entlassen wie Michel M..
    Sicherungsverwahrung gibt es in Deutschland seit 1933. Nach 1970 allerdings gab es eine gesetzliche Höchstfrist: Nach spätestens zehn Jahren wurden die Verwahrten entlassen. Dann allerdings erregten schreckliche Sexualverbrechen die Öffentlichkeit, immer wieder. Und immer wieder wurde die Sicherungsverwahrung verschärft. Zuerst, 1998, fiel die Zehn-Jahres-Grenze – mit Wirkung auch für die, die schon verurteilt waren. Das war damals auch in Deutschland umstritten. Das Bundesverfassungsgericht ließ es aber passieren.
    Anders die Richter am Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof. Sie entschieden im Dezember 2009 und endgültig im Mai vergangenen Jahres: Deutschland habe damals gegen das Verbot rückwirkender Strafen verstoßen; ein Verbot, das die Menschenrechtskonvention vorsieht. Wären alle diejenigen freizulassen, die von dem Straßburger Spruch betroffen sind, gegen die also vor 1998 Sicherungsverwahrung verhängt wurde, wären das sehr viel mehr als die 30, die frei sind. Etwa 90 weitere stünden direkt zur Entlassung an, nach und nach würden es mehr, immer dann, wenn nach der Haft die zehn Jahre vorbei sind. Eine hoch umstrittene Entscheidung. Im Bundestag kritisierte unter anderem der Unions-Fraktionsvize Günter Krings, die Straßburger Entscheidungen seien "kein Ruhmesblatt" für das Gericht. Und mit Bezug gerade zu den Freiburger Fällen:
    "Wir können, um es auf den Punkt zu bringen, wir können von einem Polizisten in Freiburg nicht erwarten, dass er alleine die Schutzlücken wieder stopft, die ein Richter in Straßburg aufgerissen hat."
    Andere sehen das anders. Krings' Koalitionspartner Jörg van Essen, FDP:

    "Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht kritisieren sollten. Ich hatte mir ein anderes Urteil vielleicht auch erhofft. Aber wir legen immer großen Wert darauf bei anderen Ländern, dass sie sich an die Europäische Menschenrechtskonvention halten. Und deshalb tun wir gut daran, wenn wir das auch tun."
    Die Schuld für die Situation beim Menschenrechtsgerichtshof zu suchen, sei ohnehin ein Fehler, glaubt Renate Jaeger, bis vor Kurzem und auch bei den entsprechenden Entscheidungen noch Richterin in Straßburg:

    "Dass es in Deutschland berechtigte Sicherheitsbedenken gibt, das kann man nachvollziehen. Aber die Gründe für diese Situation liegen ja darin, dass die Sicherungsverwahrung einmal auf zehn Jahre reduziert worden ist und dann wieder verlängert worden ist, was mit der Konvention nicht in Einklang steht."
    Schuld wäre demnach der deutsche Gesetzgeber. Wie auch immer: Deutschland muss mit dem Straßburger Richterspruch umgehen. Wie es das tut, wird wesentlich von der morgigen Karlsruher Entscheidung abhängen. Die Bundesrepublik ist völkerrechtlich verpflichtet, Straßburger Entscheidungen zu befolgen. Was das heißt, haben deutsche Gerichte unterschiedlich gesehen. Einige fanden: Pflicht ist Pflicht, die Männer sind freizulassen. Andere entschieden: Deutschland mag als Staat dem Straßburger Spruch zur Sicherungsverwahrung verpflichtet sein. Aber seine Gerichte sind ans geltende deutsche Gesetz gebunden. Und anders als ihre Kollegen sahen sie keine Möglichkeit, den Spruch in das deutsche Recht, so wie es ist, zu integrieren. Zuerst müsse der Gesetzgeber ran. Vor allem diese Gerichte ließen die betroffenen Männer nicht frei. Ein Senat des Bundesgerichtshofs schließlich befand im Ergebnis: Vorläufig hätten Richter je nach Gefährlichkeit zu befinden.
    Zwei der Männer, die vor Gericht keinen Erfolg hatten und noch in Sicherungsverwahrung sitzen, erhoben Verfassungsbeschwerde in Karlsruhe. Drei weitere wehren sich dagegen, dass ihre Sicherungsverwahrung erst nachträglich angeordnet wurde. Also nicht im ursprünglichen Urteil, sondern erst später, während der Haft – auch das eine Möglichkeit, die erst im Zuge der Verschärfungen der Sicherungsverwahrung eingeführt worden war. Aber auch wenn es streng genommen um diese Männer geht, um die Frage, ob sie freizulassen sind oder nicht, werden die Verfassungsrichter morgen sehr viel breiter über das Problem urteilen. Einfach dem Straßburger Urteil folgen werden sie nicht. Stattdessen laute die Frage, so mutmaßte in der Verhandlung Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP:

    "Wie bekommen wir die Anforderungen der europäischen Menschenrechtskonvention und unsere verfassungsrechtlichen Anforderungen zusammen, wie kann man sie integrieren? Und das klang schon bei vielen Fragestellungen vonseiten des Gerichtes durch. Als Bundesregierung sagen wir ja: Man kann sehr wohl konventionskonform unser geltendes Recht auslegen und damit dem Rückwirkungsverbot Rechnung tragen."
    Ob oder wie man das kann, ist umstritten. Die Verfassungsrichter fragten nach dem tatsächlichen Zustand der Sicherungsverwahrung. Aber auch danach, wie sehr der Staat für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen hat. Und ob er das nicht auf andere Weise tun kann als mit der von den Straßburger Kollegen kritisierten Rückwirkung.
    Tatsächlicher Zustand der Sicherungsverwahrung meint: Wird sie so vollzogen, wie es die Ausnahmesituation verlangt? Die Ausnahmesituation, dass jemand hinter Gittern festgehalten wird, obwohl er seine Strafe verbüßt hat. Hier hatte schon das Bundesverfassungsgericht mehrfach Besserungen angemahnt. Auch in der Entscheidung, in der es die rückwirkende Aufhebung der Zehn-Jahres-Grenze für rechtens befand. Mahnungen, an die der heutige Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle in seiner Einführung vor der mündlichen Verhandlung erinnerte.

    "Ob der Bund als damals zuständiger Gesetzgeber und die für den tatsächlichen Vollzug zuständigen Länder diese Mahnung ernst genug genommen haben, muss jedenfalls auf den ersten Blick bezweifelt werden und wird Gegenstand der Erörterung in diesem Verfahren sein."
    Tatsächlich fragten die Richter vor allem danach, warum es die Sicherungsverwahrten nicht wesentlich besser haben als die Strafgefangenen – Abstandsgebot nennt sich diese Forderung, die die Richter früher schon erhoben hatten. In Berlin-Tegel sind die Verwahrten sogar in haargenau gleichen Zellen untergebracht wie die Gefangenen mit langen Haftstrafen. In Freiburg sind die Zellen zwar individueller eingerichtet, dafür gibt es weniger Möglichkeiten, sich frei im Haus zu bewegen. Einen bundesweit einheitlichen Standard jedoch gibt es nicht. Bessere Bedingungen wären zu teuer, sagte sinngemäß Bayerns Justizministerin Beate Merk von der CSU. Den Strafgefangenen gehe es immer besser, ergänzte ihr Kollege aus Nordrhein-Westfalen, Thomas Kutschaty. Es gibt mehr Freizeit-, mehr Arbeits-, mehr Therapieangebote, weniger Ein- und Umschluss. Das macht es schwieriger, die Verwahrten besser zu behandeln als "normale" Strafgefangene. Allerdings hatten die Richter am Straßburger Menschenrechtsgerichtshof eben die Ähnlichkeit zum Gefängnis, den bloßen Verwahr-Vollzug, scharf kritisiert. Vermutlich werden das auch die Verfassungsrichter – erneut – tun. Wie konkret sie dabei werden, ist freilich offen.
    Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle kritisierte aber nicht nur Bund und Länder, sondern auch die Kollegen in Straßburg. Die hätten, sagte er in seiner Einführung, die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung nur ganz am Rande in den Blick genommen. Eine ungewöhnliche Bemerkung, angesichts des fragilen Verhältnisses der Gerichte in Europa zueinander. Die Schutzpflichten des Staates vor gefährlichen Gewalttätern spielten in der Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht gleichwohl eine große Rolle. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger interpretierte diese Pflicht so:

    "Es ist nicht ein konkret ableitbarer Anspruch auf ganz konkretes Tun. Sodass der Gesetzgeber bestimmt in diesem Bereich einen Spielraum hat. Aber ich denke die beiden Seiten werden deutlich: Freiheitsschutz und auch Sicherheit der Bevölkerung und da auch die richtigen Maßnahmen für ganz gefährliche Täter."
    Das sahen einige mit Sorge, etwa der Justiziar der Linksfraktion und frühere Bundesrichter Wolfgang Neskovic. Schutzpflichten gebe es, aber die dürften nicht gegen Freiheitsrechte ausgespielt werden. So sieht es auch der Menschenrechtsgerichtshof: Natürlich habe der Staat die Pflicht, seine Bürger zu schützen, hieß es in einer weiteren Entscheidung zur Sicherungsverwahrung sinngemäß. Aber das entbinde ihn nicht von der Achtung der Menschenrechte. Die hat man in Deutschland freilich nie ignorieren wollen. Genauso wenig wie die deutschen Grundrechte, die auch die Rückwirkung von Strafen verbieten. Nur war man hier der Ansicht: Das Rückwirkungsverbot greift für Strafen aber nicht für die Sicherungsverwahrung. Die sei eine sogenannte Maßregel der Besserung und Sicherung.
    Eine eher abstrakte Frage. Allerdings hat sie beachtliche Auswirkungen, und auch über sie wurde in Karlsruhe diskutiert. Denn die deutsche Zweispurigkeit – Strafe hier, Besserung und Sicherung da – hat ihren Sinn. Vor allem den, zu vermeiden, was zum Teil in anderen Rechtssystemen wie dem englischen geschieht: Dort wird die Strafe vorsichtshalber häufig länger angesetzt. Wer nicht mehr gefährlich ist, kommt früher raus. Das – und da sind sich wohl fast alle Wissenschaftler und Praktiker in Deutschland einig – will man hierzulande vermeiden.
    Anders die Straßburger Richter. Sie akzeptieren die Sicherungsverwahrung. Sagen aber: Auch da hätte sich der Staat gleich überlegen müssen, was er will. Wie bei der Strafe hätte er nicht im Nachhinein seine Meinung ändern dürfen. Also könnte man meinen: die, die vor 1998 Sicherungsverwahrung bekamen, sind freizulassen. Könnte man meinen. Damit aber wollte sich die Koalition aus CDU/CSU und FDP nicht zufriedengeben. Vor allem nicht die Union. Günter Krings:

    "Wir halten Resignation bei diesem so wichtigen Thema für die Sicherheit unserer Gesellschaft für den falschen Ratgeber. Und deshalb haben wir von Anfang an versucht, alle Möglichkeiten der Europäischen Menschenrechtskonvention zu verhindern und solche Freigelassenen auch wieder in Verwahrung nehmen zu können."
    Die Antwort: das Therapie- und Unterbringungsgesetz. Mit dessen Hilfe versucht werden soll, zu begründen, dass bestimmte gefährliche Straftäter weiterhin verwahrt werden müssen. Nicht, weil sie einfach nur gefährlich sind. Sondern weil sie – das wäre die Voraussetzung - eine psychische Störung haben. Sie wären also nicht psychisch krank – dann wären sie gar nicht verurteilt worden. Der Begriff der psychischen Störung kommt dafür in der Europäischen Menschenrechtskonvention vor. Was er genau bedeutet ist noch unklar, das werden Gutachter und Gerichte in den kommenden Jahren Stück für Stück entwickeln müssen. Hochproblematisch nennt den Begriff im deutschen Recht etwa die SPD-Rechtspolitikerin Christine Lambrecht:

    "Momentan haben wir die Situation: Ein gefährlicher Gewalttäter, der psychisch krank ist, der kommt eben dann gar nicht erst ins Gefängnis, sondern der kommt eben gleich in die Psychiatrie. Weil er eben die Tat im Zeitpunkt der Schuldunfähigkeit begangen hat. Wenn das nicht vorgelegen hat und quasi sich erst bei der Strafhaft ergibt, dann sollten wir uns allerdings mal Gedanken machen über die Ausgestaltung des Strafvollzugs."
    Entsetzt ist der renommierte Psychiatrieprofessor und Gerichts-Gutachter Norbert Leygraf über den Versuch des Gesetzgebers, mit dem Begriff der psychischen Störung Gewalttäter einzusperren:

    "Jetzt wird erneut wieder die Frage von Gefährlichkeit gleichgesetzt mit psychischer Erkrankung. Und nun hat man viele Jahrzehnte darum gekämpft, psychiatrische Erkrankung zu entstigmatisieren, und nun kommt der Gesetzgeber und behauptet wieder, dass Gefährlichkeit eine Krankheit sei. Das ist schon ganz entsetzlich."
    So hart sehen da bei Weitem nicht alle. Ohnehin ist noch nicht heraus, wie viele der sonst Freizulassenden oder schon Freigelassenen unter das Gesetz fallen. Und wo die Männer dann untergebracht werden – eine bislang auch in Freiburg ungelöste Frage. Für die Verfassungsrichter ist das Therapie- und Unterbringungsgesetz ohnehin nur ein – wenn auch wichtiges – Randthema. Wie immer die Richter entscheiden mögen über die Zehn-Jahres-Frist, über die nachträgliche Sicherungsverwahrung und über den Vollzug der Maßregel – die frühere Richterin Renate Jaeger kündigt mit Bezug auf ihr früheres Straßburger Gericht an:

    "Ob das eine korrekte Umsetzung der Entscheidung ist, wird das Ministerkomitee zu entscheiden haben, das ja für die Vollstreckung unserer Entscheidungen zuständig ist."
    Erst einmal aber entscheidet Karlsruhe. Erst einmal nur über die, die freigelassen werden wollen und Verfassungsbeschwerde eingelegt haben. Aber auch wenn – oder gerade weil - die Entscheidung für den in Freiburg lebenden Michel M. nur mittelbare Folgen hat – er wird sich vermutlich noch länger mit den Polizisten auseinandersetzen müssen, die ihn bewachen und sie mit ihm. Und auch nach dem morgigen Urteil werden noch manche Entscheidung fallen über Details zum Therapie-Unterbringungs-Gesetz, über den Umgang mit Einzelfällen und über Grundsätzliches.