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Wegmarken 2010: Wohlstand ohne Wachstum? (Teil 2)

Ist Wohlstand ohne Wachstum machbar? Nicht ganz. Etwas muss wachsen, damit der Mensch seine natürlichen Bedürfnisse befriedigen kann. Aber der eigentliche, der menschenspezifische Wohlstand, beginnt erst da, wo dieses Wachstum endet.

Von Meinhard Miegel | 02.01.2010
    Wachstum und Wohlstand – Zwei Begriffe im Wandel der Zeit
    Die Beantwortung der Frage, ob Wohlstand ohne Wachstum machbar ist, hängt entscheidend davon ab, was unter Wohlstand und Wachstum verstanden wird. Spätestens seit Beginn des Industriezeitalters verstehen Menschen in den früh industrialisierten Ländern unter Wohlstand vornehmlich materiellen Wohlstand, der sich im Gleichschritt mit einer Wirtschaft entwickelt, die eine ständig größer werdende Güter- und Dienstemenge bereitstellt, also wächst. Anders gewendet: Das Wachstum der Wirtschaft schlägt sich in der Mehrung materiellen Wohlstands nieder. Wachstum und Wohlstand beschreiben übereinstimmend dynamische Prozesse. Wächst die Wirtschaft nicht mehr, wird auch der Wohlstand nicht weiter gemehrt. Und daraus folgt: Nach der derzeitigen Begrifflichkeit von Wohlstand und Wachstum ist Wohlstand ohne Wachstum nicht machbar.

    Zum gleichen Ergebnis, wenn auch auf anderer Grundlage, wären die Menschen der vorindustriellen Epoche gekommen. Zwar bedeutete Wohlstand für sie erst in zweiter Linie genug zu essen, ein Dach über dem Kopf und vielleicht auch ein wenig Geld zu haben. In erster Linie stand dieser Begriff für Gesundheit sowie ein gutes Verhältnis zu Mitmenschen und Gott, also Immaterielles. Aber zur Befriedigung ihrer materiellen Bedürfnisse waren sie, wie die Menschen von heute, auf Wachstum angewiesen, wenn auch nicht auf das Wachstum der Wirtschaft. Ein solches Wachstum war weithin unbekannt. Vielmehr bedeutete Wachstum für sie das Wachsen von Feldfrüchten, Vieh und Wäldern oder kurz: der Natur. Gedieh dort alles prächtig, stieg der materielle Wohlstand der Menschen und sie konnten daran gehen, ihr Dach neu zu decken oder ihre Kirche zu erweitern. Im umgekehrten Falle stagnierte oder sank ihr Wohlstand. Der Wohlstand der Menschen entwickelte sich gewissermaßen wie ein Wald, der wächst und wächst und dennoch nicht immer höher wird.

    Diese unterschiedlichen Verwendungen sowohl des Wohlstands- als auch des Wachstumsbegriffs gilt es bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob Wohlstand ohne Wachstum machbar ist, im Blick zu behalten. Nicht nur hat sich die Bedeutung dieser Begriffe im Zeitablauf beträchtlich verändert. Auch ihre Verzahnung ist heute eine andere als früher. Früherer Wohlstand hing nur zum Teil von einem Wachstum ab, auf das die Menschen nur mäßigen Einfluss hatten. Sie mussten die Dinge nehmen, wie sie kamen. Nicht so beim größeren und wohl auch wichtigeren Teil ihres Wohlstands. Er war wachstumsunabhängig: Gesundheit, zwischenmenschlicher Zusammenhalt, Seelenfrieden. Dafür konnten sie etwas tun.

    Auch für den Wohlstand im heutigen Sprachgebrauch, den messbaren, zählbaren, handfesten, glauben die Menschen etwas tun zu können und zwar ganz folgerichtig, indem sie das Wachstum der Wirtschaft vorantreiben. Denn deren Wachstum ist nach den Worten der Kanzlerin "der Schlüssel zum Ganzen". "Ohne Wachstum", so weiter, "keine Investitionen, keine Arbeitsplätze, keine Gelder für die Bildung, keine Hilfe für die Schwachen". Mit anderen Worten: kein Wohlstand. Das Dilemma: War schon das Wachsen in der Natur nur ein bedingt verlässlicher Garant materiellen Wohlstands, so ist es das Wachstum der Wirtschaft noch weniger.

    Die Macht der Fakten: Die Grenzen von Wachstum und Wohlstand
    Die Menschen in den früh industrialisierten Ländern beobachten nicht erst seit der Finanz- und Wirtschaftskrise dieser Jahre, dass sich die Wachstumsräder immer langsamer drehen. In Deutschland beispielsweise sanken die jährlichen Wachstumsraten von durchschnittlich sieben Prozent in den 1950er-Jahren über 2,8 Prozent in den 1970er und 1,5 Prozent in den 1990er-Jahren auf rund 0,8 Prozent im zu Ende gehenden Jahrzehnt. In zahlreichen anderen Ländern ist der Trend der gleiche. Und nicht nur die Raten, auch die absoluten Zuwächse gehen seit Langem zurück. Abermals steht Deutschland im Trend für andere. In Preisen von 2008 verminderte sich hier die zusätzlich erwirtschaftete Güter- und Dienstemenge von durchschnittlich rund 600 Euro pro Kopf und Jahr in den 1950er-Jahren auf knapp 240 Euro in der ersten Dekade dieses Jahrhunderts. Erschwerend kommt hinzu, dass selbst diese ständig schrumpfenden Zuwächse bei großen Teilen der Bevölkerung nicht mehr ankommen. Die Kaufkraft von immer mehr Haushalten stagniert und nicht wenige haben sogar empfindliche Verluste erlitten. Wachstum und Wohlstandsmehrung haben sich für sie seit Langem entkoppelt.

    Die geringe Verlässlichkeit von Wirtschaftswachstum als Garant materieller Wohlstandsmehrung zeigt aber auch die Geschichte. Alle Phasen großer wirtschaftlicher Dynamik mündeten früher oder später ein in Phasen wirtschaftlichen Stillstands und Rückgangs. Goldene Zeitalter, die es im Laufe der Geschichte immer wieder einmal gegeben hat, schlugen unfehlbar um in eiserne. Jedem Aufstieg folgte ein Abstieg, jeder Expansion eine Kontraktion und es gibt nicht den geringsten Anlass anzunehmen, dass dieser Mechanismus nicht mehr wirksam ist.

    Für seine fortdauernde Wirksamkeit spricht nicht zuletzt ein kleines Spiel mit großen Zahlen. Gegenwärtig werden weltweit Güter und Dienste im Wert von etwa 56 Billionen US-Dollar erwirtschaftet. Wird nun unterstellt, dass die Wirtschaft in den früh industrialisierten Ländern bis zum Ende dieses Jahrhunderts ungefähr weiter wächst wie im Durchschnitt der zurückliegenden 30 Jahre, die Kluft zwischen reichen und armen Völkern nicht größer wird, als sie gegenwärtig ist und die Weltbevölkerung von derzeit 6,8 auf 9 Milliarden zunimmt, müsste sich binnen 90 Jahren die globale Güter- und Dienstemenge auf fast 350 Billionen US-Dollar versechsfachen. Weniger würde nach dem geltenden Wohlstandsverständnis in den früh industrialisierten Ländern zu Wohlstandsverlusten führen. Und sollten gar die armen Völker auf das Niveau der reichen gehievt werden, müsste sich die Weltproduktion auf rund 1.850 Billionen US-Dollar verdreiundreißigfachen.

    Es bedarf keiner prophetischen Fähigkeiten, um vorhersagen zu können, dass es dieses Wachstum nicht geben wird und die Wachstumsfantasien, in denen manche noch immer schwelgen, sich zunehmend als Fantastereien erweisen werden. Mit jedem Jahr wird deutlicher werden, dass das wohlstandsmehrende Wachstum der jüngeren Vergangenheit eine Art Stichflamme war, die jetzt wieder in sich zusammenfällt. Was aber bedeutet das für den Wohlstand, wenn die früh industrialisierten Länder - und ihnen nachfolgend die übrige Welt - künftig bestenfalls auf einen anhaltend flachen, wahrscheinlicher aber auf einen abwärts führenden Wachstumspfad einschwenken?

    Für Letzteres spricht, dass - anders als das Wachstum in der Natur, das während des längsten Teils der Menschheitsgeschichte Quelle des materiellen Wohlstands war - das Wachstum der Wirtschaft einhergeht mit einem Verbrauch an natürlichen Ressourcen, einer Belastung der Umwelt und einem Verschleiß an Mensch und Gesellschaft, wie es dies zuvor nie gegeben hat. So wohlstandsmehrend das Wirtschaftswachstum seit Beginn der Industrialisierung war, so hoch ist sein Preis: versiegende Öl- und Gasquellen, CO2-überfrachtete Luft und Meere, erschöpfte Böden, zermürbte Menschen, zerrüttete Gesellschaften. Selbst die Bundeskanzlerin, für die das Wachstum der Wirtschaft ja der Schlüssel zum Ganzen ist, kommt nicht umhin einzuräumen, dass unsere heutige Art des Wirtschaftens Raubbau an ihren eigenen Grundlagen treibt. Und der neue Entwicklungsminister Niebel bekennt selbstkritisch, dass der Weg, den die Industrieländer beschritten haben, kein Vorbild für die Entwicklungsländer sein könne. Wörtlich: "Er führt in die Klimakatastrophe".

    Der Befund könnte ernüchternder nicht sein. Rund 200 Jahre, nachdem die Völker der früh industrialisierten Länder damit begonnen haben, ihren materiellen Wohlstand durch wirtschaftliches Wachstum zu mehren, müssen sie erkennen, dass sie diese scheinbar so überaus Erfolg versprechende Strategie an den Rand einer Katastrophe, zumindest aber einer existenziellen Krise gebracht hat. Der bisherige Kurs - hierüber besteht zunehmend Einmütigkeit - lässt sich nicht fortsetzen.

    Zukunftspfade: Welches Wachstum, welcher Wohlstand sind künftig möglich?
    Die Völker der früh industrialisierten Länder haben drei Optionen: eine wahrscheinliche, eine hoffnungsfrohe und eine wünschenswerte. Die wahrscheinliche: Materieller Wohlstand, wie er heute weit überwiegend definiert und verstanden wird, stagniert beziehungsweise sinkt zusammen mit einem Wachstum, das sich in seinen menschheitsbedrohlichen Neben- und Folgewirkungen festgefressen hat. Die hoffnungsfrohe: Die Neben- und Folgewirkungen bisherigen Wirtschaftswachstums werden dank epochaler innovativer Durchbrüche überwunden. Der Verbrauch natürlicher Ressourcen wird minimiert und die Umwelt nicht weiter belastet; bereits verursachte Schäden werden wieder beseitigt sowie Mensch und Gesellschaft nicht länger überfordert. An diese Option klammern sich derzeit viele. Doch selbst wenn sie umgesetzt werden könnte, würde zwar die Wirtschaft, nicht aber der Wohlstand weiter wachsen. Oder genauer: Die Wohlstandsmehrung der Zukunft bestünde für lange Zeit aus dem Begleichen von Schulden. Es wäre die Wohlstandsmehrung von Erben, die die Verbindlichkeiten ihrer überschuldeten Eltern und Großeltern schultern. Das Wachstumsparadigma wäre nicht länger Wachstum, das den Wohlstand mehrt, sondern Wachstum ohne Wohlstandsmehrung. Die Menschen würden arbeiten und arbeiten, aber ihr materieller Status bliebe bestenfalls gleich.

    Schließlich die wünschenswerte Option: Auch hier sind unvermeidlich Berge von Altschulden abzutragen und neue Schulden gegenüber Natur, Umwelt und Mensch zu vermeiden. Ebenso wichtig ist jedoch die beinahe zwanghafte Verbindung zwischen Wohlstand und Wachstum zu lösen und auf das unbedingt Nötige zu beschränken. Wohlstand kann und muss wieder in wesentlichen Teilen immaterieller Wohlstand sein und nicht vorrangig Widerschein wirtschaftlichen Wachstums.

    Darüber ist ein breiter gesellschaftlicher Konsens herzustellen: Was ist Wohlstand unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts und wer ist wohlhabend: derjenige, der viel hat, oder derjenige, der wenig braucht, um glücklich und zufrieden zu sein? Beginnt die Bevölkerung sich mit diesen Fragen zu befassen, wird sie schnell erkennen, dass sie in einem materiell wohlhabenden Land wie Deutschland über eine Unmenge materieller Güter verfügt, die sie weder braucht noch nutzt. Auf sie zu verzichten wäre für sie ebenso wenig Verlust wie der Gewichtsschwund eines stark Übergewichtigen.

    Hinzu kommt die lange Liste von Gütern und Diensten, die nur deshalb nachgefragt werden, weil dies den Menschen unentwegt eingehämmert wird. Kauft, Leute, kauft und sei der Konsum des Gekauften auch noch so sinnlos. Zu konsumieren ist in den früh industrialisierten Ländern eine Art patriotische Pflicht, der schon aus Gründen des Arbeitsplatzerhalts nachzukommen ist. Was macht es da, wenn endliche Ressourcen vergeudet, die Umwelt beschädigt sowie die Lebenskraft und -zeit von Menschen vertan wird? Diese institutionalisierte Vergeudung ist bislang wesentlicher Bestandteil westlicher Lebensart. Erst mit der Vergeudung beginnt für manche der Wohlstand. Aber ist dies wirklich Wohlstand? Oder ließe sich nicht auch ein erfüllender Lebensstil pflegen, der ohne Vergeudung auskommt?

    Das beginnt mit Alltäglichem, zum Beispiel mit Lebensmitteln. Wie viel davon brauchen Menschen, um sich auskömmlich und gesund ernähren zu können? Jedenfalls weit weniger als viele in den früh industrialisierten Ländern nach Hause tragen. Dort essen sie sich krank oder entsorgen das Gekaufte in Abfalltonnen, in einem Land wie Großbritannien immerhin ein Drittel. Bei einer etwas vorausschauenderen Haushaltsführung ließen sich ohne Wohlstandsverlust landesweit Milliardenbeträge einsparen. Oder Kleider und Schuhe? Was davon ist echtes Bedürfnis und was ist antrainiert? Wie viel wird gekauft, verbraucht und weggeworfen, nur weil das so üblich ist. Welche Weihnachts- oder Geburtstagsgeschenke bereiten wirklich Freude und für wie lange? Oder der Statuskonsum, der lediglich kindischer Angeberei dient - schaut her, was ich mir leisten kann!

    Nicht mehr, sondern besser: Echter Wohlstand beginnt erst dort, wo das Wachstum endet
    Ließen die Menschen in den früh industrialisierten Ländern Revue passieren, wofür sie sich und die Erde geschunden und in existenzielle Bedrängnis gebracht haben, würden sie erschrecken. Das also soll es sein? Für so viel Nichtiges ändert sich das Klima, schmelzen die Polkappen, steigt der Meeresspiegel, sterben ungezählte Tier- und Pflanzenarten aus, verschlechtern sich die Lebensbedingungen von Milliarden von Menschen? Die Bilanz ist ernüchternd. In der jüngeren Menschheitsgeschichte ist etwas gründlich schief gegangen.

    Wohlstand, der mit Natur und Umwelt, mit Mensch und Gesellschaft auf Dauer vereinbar ist, sieht anders aus. Ein solcher Wohlstand - das ist die größere Wertschätzung dessen, was man hat. In Gesellschaften, die ständig mit neuen Produkten und Diensten überschwemmt werden, verliert Vorhandenes schnell seinen Wert. Als Sperrmüll landet es auf der Straße, von wo zumeist Osteuropäer es in ihre Heimat verfrachten. Dort erfährt der Müll des Westens dann eine wundersame Verwandlung. Er ist nicht mehr alt und unbrauchbar, sondern willkommen und mitunter kostbar. Wie ist das möglich?

    Ein solcher Wohlstand - das ist bewusst zu leben, die Sinne zu nutzen, Zeit für sich und andere zu haben, für Kinder, Familienangehörige, Freunde. Ein solcher Wohlstand - das ist Freude an der Natur, der Kunst, dem Schönen, dem Lernen; das sind menschengemäße Häuser und Städte mit Straßen und Plätzen, die die Bewohner gerne aufsuchen; das ist ein intelligentes Verkehrssystem; das ist gelegentliche Stille, das ist der sinnenfrohe Genuss des vielleicht kleiner gewordenen Schnitzels auf dem Teller; das ist die Fähigkeit des Menschen, mit sich selbst etwas anfangen zu können. Wenn viele heute erklären, für den Urlaub fehle ihnen das Geld, dann ist dies nicht nur ein monetäres, sondern auch ein mentales Armutszeugnis. Und Wohlstand, das ist nicht zuletzt die Revitalisierung der spirituell-kulturellen Dimension des Menschen, die durch das Streben nach immer größeren Gütermengen weithin verkümmert ist. Dass er nicht allein von Brot lebt, weiß der Mensch seit Langem. Aber die explosionsartige Zunahme der Zahl der Brote hat namentlich in den früh industrialisierten Ländern dieses Wissen nicht selten verschüttet.

    Ist Wohlstand ohne Wachstum machbar? Nicht ganz. Etwas muss wachsen, damit der Mensch seine natürlichen Bedürfnisse befriedigen kann. Aber der eigentliche, der menschenspezifische Wohlstand, beginnt erst da, wo dieses Wachstum endet. Dies zu erkennen wird der große Paradigmenwechsel dieses Jahrhunderts sein - oder dieses Jahrhundert wird scheitern.