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"Weil es meine Familie ist"

"Ich bin morgens früh aufgestanden und hab mich fertig gemacht, dann bin ich zu meiner Mutti, hab sie aus dem Bett geholt, sie gewaschen und angezogen, und dann habe ich sie in den Rollstuhl gesetzt und bin zur Schule gegangen. Nach der Schule musste ich gleich nach Hause, gar keine Zeit für ein Schwätzchen mit den anderen aus der Klasse. Ich musste mich immer beeilen, weil die Mutti ja auch auf die Toilette musste, und das konnte sie nicht ohne mich. So ging das den ganzen Tag weiter. Einkaufen, kochen und die Wohnung putzen. Ich hab mich auch um die ganzen Ämter gekümmert, hab alle Überweisungen erledigt und so ... aber das meiste war die Pflege und das Aufräumen."

Von Doris Arp | 31.08.2006
    Mit zwölf Jahren wurde Tanja Müller alleinpflegende Tochter. Das hatte ihre Großfamilie so entschieden. In einem Interview mit der Pflegewissenschaftlerin Sabine Metzing, die die Studie an der Universität Witten-Herdecke durchführt, schilderte Tanja sechs Jahre später ihre Situation.

    Metzing: " Dieses Kind hat kein eigenes Zimmer, die schläft bei der Mutter auf dem Sofa, die hat keine Freunde, weil sie keine Zeit für Freunde hat. Das ist eine Situation, da hätte man unbedingt von außen helfen müssen. "

    Die Mutter ist inzwischen an einem Herzstillstand gestorben. Tanja lag neben ihr und konnte nichts mehr tun. Heute lebt sie in einer psychiatrischen Klinik.

    Ein solches Aschenputtel-Leben ist eher die Ausnahme. In vielen Familien mit chronisch erkrankten Eltern verteilt sich die Arbeit auf mehrere Schultern. Im besten Fall stärkt es sogar das Wir-Gefühl einer Familie und belastet keinen übermäßig.

    Metzing: " Belastung beginnt bei den Kindern tatsächlich da, wo Grenzen nicht nur berührt, sondern überschritten werden und wo die pflegerischen Aufgaben täglich übernommen werden und sie im Grunde genommen den gesamten Tag des Kindes strukturieren und dominieren und wenn sie das Gefühl haben, es ist kein Licht am Horizont. "

    Gerade jüngere Kinder, so die Pflegewissenschaftlerin, bemerken ihre Belastung oft gar nicht. Für sie ist das Helfen ganz selbstverständlich. Das ist auch der größte Unterschied zwischen kleinen und großen Helfern: Erwachsene können sich für oder gegen die Pflege ihrer Angehörigen entscheiden. Kinder haben keine andere Wahl. Sie waschen, putzen, kochen, helfen beim Anziehen und aufs Klo gehen, genau wie erwachsene Helfer. Nur sind ihre Rücken noch schwach und eigentlich brauchen sie selbst noch jemanden, der sich um sie kümmert. Pflegende Kinder werden deshalb schnell erwachsen.
    " Was sie tun, hängt ab von der Art der Erkrankung, ob es eine körperliche Erkrankung ist, ob es eine psychische Erkrankung ist und natürlich vom Ausmaß des Hilfebedarfs. Aber es gibt eine Gemeinsamkeit, sie füllen die Lücke und sie tun es in dem Moment, wo sich die Lücke auftut."

    Bislang liegen 81 Interviews aus 34 Familien aus dem gesamten Bundesgebiet vor. In 16 Familien lebt nur ein Elternteil, in 18 leben beide Eltern im selben Haushalt. Meistens sind die Mütter erkrankt. Sie haben Multiple Sklerose, Asthma, Rheuma oder Herzprobleme. 13 Befragte leiden an einer psychischen Erkrankung. Es war schwierig überhaupt an Familien heranzukommen, berichtet Sabine Metzing. Nur wenige sprechen darüber, sagt sie, die meisten haben Angst ihre Familie könnte auseinander gerissen werden.

    " Die größte Gemeinsamkeit bei den Kindern besteht in dem Bedürfnis, die Familie zusammen zu halten. Dafür nehmen sie eine Menge auf sich. "

    Leben die Kinder allein mit dem Kranken, haben sie auch die Verantwortung in Krisen. Ein 13jähriger Junge beispielsweise, der seit seinem achten Lebensjahr allein mit der Oma lebt, schläft mit ihr in einem Bett, um sofort zu hören, wenn sie einen Asthma- oder Herzanfall hat. Im Interview sagt er, dass er bei der Oma bleibt, bis sie stirbt.

    " Ich persönlich glaube, dass die größte Auswirkung darin besteht, dass die Kinder sich nicht lösen können vom Elternhaus, von der Verantwortung, dass sie nicht Kind sind ohne Attribut und dass sie sich in ihrem späteren Leben nicht frei fühlen werden. Und das hängt sehr davon ab, was sie zu Hause übernehmen. Es ist nicht alles nur Drama. "
    Zum Beispiel die Familie von Jörn-Peter Grell aus Erfurt. Der 43-Jährige hat seit seinem 12. Lebensjahr Multiple Sklerose, eine chronische Erkrankung, die in Schüben verläuft.

    Inzwischen ist der Verwaltungsangestellte auf den Rollstuhl angewiesen und arbeitet drei Tage die Woche zu Hause. Seine vier Kinder kennen nur einen kranken Papa. Die letzten Jahre hat er mit seinen beiden Jüngsten, acht und neun Jahre, allein gelebt. Seine Pflege hat der 43-Jährige über Profis geregelt. Im Alltag müssen die Kinder natürlich mithelfen und Rücksicht nehmen. Ihre Belastung, meint der Vater, besteht aber vor allem darin, mit der Angst fertig zu werden:

    " Ich weiß inzwischen, dass sie große Angst davor haben, dass ich wieder ins Krankenhaus muss, was sie schon mehrmals erlebt haben. Dass sie auch Angst davor haben, das ich gänzlich sterben werde. Aber es ist einfach so, es ist nicht Thema. Darüber kann ich mit den Kindern nicht reden, auch wenn ich auf sie zugehe - reden sie einfach nicht drüber. Das müssen sie verdrängen. "

    Im Verdrängen sind Kinder groß - das macht sie auch erst einmal stark. Die Kinder von Jörn-Peter Grell wollen ihrem Papa gegenüber die Angst verbergen. Das machen die meisten, sagt die Pflegewissenschaftlerin:

    " Das heißt sie können mit der Belastung auch nirgendwo hin und können das ablegen. Und die Kinder wünschen sich allen voran, also natürlich, dass die Mütter oder die Väter wieder gesund werden oder dass es ihnen wieder besser geht, aber für sich selber wünsche sie sich jemanden zum reden. "
    Jörn-Peter Grell hätte für seine Kinder gerne lebendige Kuscheltiere:

    " Die die Tränen aufsaugen, die nicht gesehen werden sollen. Ich glaube da wäre es wirklich notwendig, dass professionelle Hilfe von außen kommt. Und vielleicht auch die Chance mit anderen, die ähnlich betroffen sind zu sprechen, dass man erkennt, man ist nicht alleine auf der Welt mit diesem Problem. "

    Britische Wissenschaftler haben sich erstmals Anfang der 90er Jahre mit dem Problem pflegender Kinder befasst. Aufgrund eines Zensus aus dem Jahr 2001 geht man in Großbritannien von etwa 175.000 so genannten Young Carers, jungen Pflegern, aus.

    Falls diese Zahlen auf Deutschland übertragbar sind, würden über 225.000 Kinder unter 18 Jahren in Deutschland jemanden in ihrer Familie pflegen. Allerdings gibt es hierzulande keinerlei Statistiken, weder darüber, wie viele Kinder überhaupt mit chronisch erkrankten Eltern zusammenleben, noch wie viele davon pflegen.

    Laut Schätzungen erleben bis zu 15 Prozent aller Kinder, dass ihre Mutter oder ihr Vater an Krebs erkranken, einen Herzinfarkt bekommen, an Rheuma, Diabetes oder chronischen Schmerzen leiden. Im Durchschnitt sind pflegende Kinder zwölf Jahre alt. Und schon die ganz Kleinen halten es für selbstverständlich, dass sie Mama helfen.

    Metzing: "Also das jüngste Kind, was wir interviewt haben war viereinhalb Jahre alt. Und die hat mit stolz geschwellter Brust vor uns gesessen und erzählt, was sie alles macht. Sie sagt dann auch an einer Stelle, ich kann doch alles machen für Mama. "

    Kinder wollen helfen und das schadet ihnen grundsätzlich auch nicht, sagen die Wissenschaftler. Entscheidend ist nicht, wie schwer eine Erkrankung ist, sondern wie die Familie mit der Krankheit umgeht. Und dafür brauchen sie Hilfen.

    Metzing: "Die Briten sagen, wenn die Familie als Familie keine Unterstützung erfährt, dass sich das auf die gesamte Entwicklung, körperlich, emotional, sozial und psychisch auf die Kinder auswirken kann und wird. Es fehlen da so genannte Langzeitstudien. "

    In einem zweiten Forschungsprojekt wollen die Wissenschaftler an der Universität Witten-Herdecke nun kommunale Pflegekonzepte für die Familien entwickeln. Als kranker Vater wünscht sich Jörn-Peter Grell:

    " Dass man die Familie als Ganzes betrachtet. Dass auf der einen Seite die notwendige medizinische Betreuung, die pflegerische Betreuung da sein wird, auf der anderen die psychologische, seelsorgerische, familientherapeutische Hilfe. "