Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


"Weil wir dafür sind, dass die Kinder früher separiert werden"

Es ist nicht mehr nur eine Abstimmung über die Reform des Schulsystems in Hamburg - mit dem Volksentscheid ist auch die Zukunft von Schwarz-Grün verbunden. Eine Bestandsaufnahme 24 Stunden vor dem Ergebnis.

Von Verena Herb | 17.07.2010
    Der Countdown läuft: Morgen ist der Tag der Entscheidung. Die Meinungen in der Stadt sind gespalten.

    "Wir haben zum Teil hervorragende Schulen, wir wollen Reformen auf jeden Fall – aber nicht so."

    Die Gegner der Primarschule sind eine laute Minderheit. Anfangs rechnet niemand damit, dass der Streit um die richtige Schulform die Stadt einmal so spalten wird. Erst mit dem Ergebnis des Volksbegehrens, als die Initiative "Wir wollen lernen" im November 2009 über 184.000 Unterschriften gegen die Reform vorlegt, wird klar: Ein großer Teil der Hamburger Eltern wollen keine neue Schulstruktur, sondern es bei den vier Jahren Grundschulzeit belassen.

    "Wir halten es für unrealistisch, dass die Primarschule in den Klassen 4 bis 6 auch nur ansatzweise das leisten können, was bisher in den weiterführenden Schulen und in den Klassen 5 und 6 geleistet werden kann. "

    … sagt Walter Scheuerl, Initiator und Hauptaktivist der Volksinitiative "Wir wollen lernen". Viele seiner Mitstreiter befürchten eine Schwächung des Gymnasiums, glauben nicht, dass längeres gemeinsames Lernen schwachen und starken Kinder nützt, während sich die Politik davon bessere Bildungschancen für ALLE Kinder verspricht: gleich welcher sozialen Herkunft, gleich welcher Bildungsschicht, ob Migrationshintergrund oder nicht. Eine Mutter aus Blankenese sieht das anders und erklärt, warum sie "Wir wollen lernen" unterstützt:

    "Weil wir dafür sind, dass die Kinder früher separiert werden, weil wir eher sind für ein leistungsorientiertes Schulsystem. Weil wir absolut davon überzeugt sind, dass schlechtere oder mittlere Schüler nicht davon profitieren, wenn sie mit guten zusammen sind ..."

    Doch längst nicht alle Hamburger sehen die Reform so kritisch. Unter dem Dach der "Schulverbesserer" vereinen sich die Kirchen und Gewerkschaften, zahlreiche Eltern- und Lehrerverbände, Unternehmer und Künstler. Und – was äußert ungewöhnlich ist: Hinter der Primarschule stehen alle vier Bürgerschaftsfraktionen: CDU, Grüne Alternative Liste GAL sowie die Oppositionsparteien SPD und Die Linke. Stephanie von Berg ist selbst Lehrerin und macht sich stark FÜR die Reform:

    "Wir sind so zuversichtlich, weil wir wissen, dass diese 6jährige Primarschule so stark macht. Also gerade in diesem Gesamtkonzept, nicht nur strukturell – länger gemeinsam lernen – sondern in diesem Gesamtkonzept mit individualisiertem Unterricht."

    Bis zur letzten Minute versuchen beide Lager, ihre Anhänger zu mobilisieren. Noch ist alles offen. Die neueste Umfrage zeigt: Befürworter und Gegner der Primarschule liegen fast gleichauf – mit einem leichten Vorteil für die Volksinitiative von Walter Scheuerl. Nach sechs Wochen Wahlkampf zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf Rennen ab, meint auch Hamburgs erster Bürgermeister:

    "Es wird sehr knapp werden. Also ich glaube, dass es wirklich fifty-fifty ist. Ich gebe da keine Prognose ab. Man wird gucken, ob überhaupt das Quorum erreicht wird. Von der Beteiligung bisher glaube ich, wird es nicht reichen."

    1,24 Millionen Wahlberechtigte sind zum Urnengang aufgerufen. Mindestens 20 Prozent davon, also rund 247.000 Hamburger, müssen für die Vorlage von "Wir wollen lernen" stimmen, damit der Volksentscheid erfolgreich ist. In Hamburg haben die großen Ferien bereits begonnen. Auch ein Grund weshalb knapp 400.000 Bürger ihre Stimme bereits per Briefwahl abgegeben haben.
    Sollte der Volksentscheid am Sonntag scheitern, dann wird es die schrittweise Einführung der Primarschule geben, mit Beginn des neuen Schuljahrs. 22 sogenannte Starterschulen haben sich bereits auf ihr Dasein als "Primarschule" eingerichtet.