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Weimar
Neue Erkenntnisse zur NS-Vereinnahmung des Goethe-Hauses

Paul Kahl im Gespräch mit Stefan Koldehoff | 27.01.2015
    Stefan Koldehoff: Spätestens seit 1945 lebt die Klassikerstadt Weimar mit dem Dilemma, auch die Konzentrationslagerstadt Weimar zu sein. Draußen vor der Stadt auf dem Ettersberg wurde 1937 das KZ Buchenwald eingerichtet, in dem die Nationalsozialisten etwa 250.000 Menschen inhaftierten. Rund 56.000 von ihnen wurden ermordet, darunter 12.000 Juden. Das Goethe-Haus in Weimar aber - so hieß es spätestens nach Gründung der DDR - habe mit all dem nichts zu tun gehabt. Der antifaschistische Arbeiter- und Bauernstaat berief sich auf den humanistischen Geist von Weimar, der an diesem Ort auch zwischen 1933 und '45 habe wehen können. Nun ist im Januarheft der Zeitschrift "Merkur" ein Aufsatz der beiden Göttinger Philologen Paul Kahl und Hendrik Kalvelage erschienen, der den Titel "Goethe und das NS-Erbe" trägt.
    - Paul Kahl habe ich vor dieser Sendung gefragt, ob sich Weimar denn nun vom liebgewonnenen Mythos verabschieden muss, der lautete, das Goethe-Museum war der Hort der inneren Emigration?
    Paul Kahl: So könnte man das sagen. Man hat im Westen formuliert, Richard Alewyn gleich nach 1949, zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald. Darum kommen wir nun einmal nicht herum. Also man hat versucht, den Bruch zumindest in intellektuellen Kreisen im Westen zu betonen. Und die Vorstellung der DDR wäre demgegenüber gewesen, zwischen uns und Weimar liegt Buchenwald nicht. Es gibt gewissermaßen einen direkten Übergang zwischen dem sogenannten klassischen Humanismus und dem sogenannten sozialistischen Humanismus, dass die Arbeiterklasse gewissermaßen das Erbe des Humanismus antritt.
    Koldehoff: Was hat jetzt dazu geführt, dass Sie und Herr Kalvelage das Thema neu angegangen sind, dass Sie neu geforscht haben?
    Kahl: Das steht in einem größeren Zusammenhang, ein größeres, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes und auch von der Klassikstiftung in Weimar selbst finanziertes Forschungsprojekt. Das heißt: Kulturgeschichte des Dichterhauses. Und wir gehen zunächst einmal von Fragen des 19. Jahrhunderts aus, wie werden ehemalige Wohnorte musealisiert.
    Koldehoff: Und dann müssen Sie irgendwann aber vom 19. Jahrhundert auch ins 20. gekommen sein, und da was herausgefunden haben zum Thema Goethe-Haus in Weimar?
    Kahl: Man könnte ganz einfach sagen, der Personenkult des 19. Jahrhunderts gehört zur Vorgeschichte des Personenkultes im 20. Jahrhundert. Das Goethe-Nationalmuseum in Weimar ist immer mehr ein Ort des Kultes gewesen als ein Ort der Auseinandersetzung. Und man hatte frühzeitig schon während des Ersten Weltkriegs den Wunsch, das Goethe-Haus in Weimar baulich zu erweitern. Dieses Unternehmen, das durch die Weimarer Jahre hindurchreicht, scheitert in der Weltwirtschaftskrise 1931. Und das war für viele in Weimar, für viele, die einem konservativen Goethe-Kult, einem Personenkult anhingen, ein willkommener Vorwand, gegen die Weimarer Republik, die Weimarer Demokratie zu polemisieren. Hans Wahl, der Museumsdirektor, hat die Weimarer Verfassung von 1919 als den historischen Irrtum bezeichnet. Und da ist dann der Sprung nach 1933/34 im Grunde nicht weit gewesen. Hans Wahl, der Direktor des Goethe-Nationalmuseums von 1918 bis 1949, hat sich gezielt, also über mehrere Epochengrenzen hinweg, mit einer gezielt antidemokratischen Polemik selbst positioniert, um dann einen Kontakt nach Berlin herzustellen. Und hat um Hitlers Aufmerksamkeit geworben. Hans Wahl versucht, einen Goethe zu zeigen, der in die nationalsozialistische Ideologie hineinpasst. Er betont nicht Goethes weltbürgerliches Anliegen, seinen Internationalismus, seine Italien-Liebe und dergleichen, sondern er betont Goethe als deutschen Nationalhelden. Er betont den Umstand, der an sich unbedeutend ist, dass Goethe das Wort Volkheit erfunden habe, um ihn sozusagen in einer Linie mit einer völkischen, das heißt rassistischen Dichtung zu zeigen. Und er hat dann im Laufe der weiteren Jahre auch Goethes vermeintlichen Antisemitismus in den Mittelpunkt gerückt, um Goethe und Goethes Welt so bruchlos wie möglich in das neue Regime einzugliedern.
    Koldehoff: Sie haben, Herr Dr. Kahl, gerade beschrieben, wie man nach '45 mal erst mit dem Thema umgegangen ist. Wie behandelt man es heute?
    Kahl: Das ist für Weimar nach wie vor eine Wunde, man könnte sagen, im Goethe-Nationalmuseum selbst im Grunde ein uneingestandenes Tabuthema. Das Goethe-Museum, das dann tatsächlich gebaut wurde 1935, war möglich geworden durch eine Großspende von Hitler selbst. Und Hitler wurde dann im Laufe der weiteren Zeit in Weimar gerne als Stifter oder Mitstifter des Goethe-Nationalmuseums hervorgehoben. Kurz nach 1945 hat Hans Wahl immer noch den Satz lanciert, der Führer des Dritten Reiches hat das Goethe-Haus gar nicht betreten, um sozusagen zu suggerieren, es habe eine große Distanz gegeben. Und der Nachhall dieser schön entlastenden Vorstellung reicht in die Gegenwart hinein.
    Koldehoff: Der Philologe Paul Kahl über neue Erkenntnisse zum Weimarer Goethe-Haus in der NS-Zeit.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.