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Aus der Nachrichtenredaktion
Fake News - eine Zwischenbilanz

"Was soll man in Zeiten von Fake News denn noch glauben?" Diese Frage stellen uns Hörerinnen und Nutzer täglich. Die eine Antwort gibt es nicht. Hier einige Überlegungen. Kurzversion: Die Lage ist ernst, aber keineswegs hoffnungslos.

Von Marco Bertolaso | 27.11.2018
    Eine Frau sitzt auf einem Sofa und liest die Zeitung "The Daily Fake News".
    Bürger sollten Skepsis zur Tugend erklären. (Unsplash / rawpixel)
    Seit mehr als zwei Jahren wird auf der ganzen Welt intensiv über "Fake News" gesprochen. Die Diskussion hat oberflächlich viel mit Donald Trump zu tun. Doch trotz aller Aufregung über den beispiellosen US-Präsidenten, "Fake News" ist kein neues Phänomen. Die Sache ist weit über Trump hinaus kompliziert und gefährlich. Es geht auch um viel mehr als nur um Journalismus.
    Gefahr für die Demokratie
    Klar ist: Sollte das Gift der "Fake News" und der "Fake News"-Vorwürfe wirken, sollten die meisten Menschen irgendwann alle Informationen und alle Quellen für ähnlich dubios halten, dann wäre dies nicht nur das Ende der Nachrichtenkultur. Es wäre auch der Untergang einer geregelten gesellschaftlichen und politischen Diskussion und Willensbildung. Hannah Arendt formulierte es 1951 in "Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft" so: "Der ideale Untertan totalitärer Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder engagierte Kommunist, sondern Menschen, für die der Unterschied zwischen Fakten und Fiktion, wahr und falsch, nicht länger existiert."
    Den Stand der Dinge aus meiner Sicht fasse ich hier in einigen Thesen zusammen, gleichsam als Sammelantwort an viele Hörerinnen und Nutzer.*
    Eine Begriffsklärung
    Der Begriff "Fake News" ist emotional stark aufgeladen. Ich finde ihn aber auch darüber hinaus extrem problematisch. Er verdunkelt mehr als er erhellt. Erst recht, seitdem es Akteuren wie Trump gelungen ist, ihn umzuwidmen und ihn als Etikett an bestimmte Nachrichtenmedien zu heften. Trumps "Fake News Media" entspricht ungefähr dem deutschen "Lügenpresse". Der Begriffsbestandteil "News" darf uns nicht in die Irre führen: Es geht nicht nur um ein Problem der etablierten Nachrichtenmedien. Alle gesellschaftlichen Bereiche sind betroffen, alle sind aufgerufen, etwas dagegen zu tun.
    Wir müssen also genauer hinschauen. Unwahre Nachrichten fallen in verschiedene Kategorien. Sie lassen sich - grob gesagt - bestimmen durch den Grad der Unwahrheit, durch die Absicht und durch die Art der Akteure. Hier eine Liste einiger wichtiger Kategorien.
    Der "heute-show" Moderator Oliver Welke auf einem Foto aus dem Jahr 2009
    Auch Formate wie die "heute show" im ZDF produzieren "Fake News". Allerdings ist die Absicht nicht Irreführung. (dpa-Bildfunk / Rolf Vennenbernd)
    Satire oder Parodie: Ja, auch die "heute show", "Der Postillon" und Jan Böhmermann liefern "Fake News". Sie verbreiten Falschnachrichten. Nur, dass wir es meistens alle merken und dass die Absicht nicht Irreführung ist, sondern Satire, Spott und Unterhaltung.
    Halbwahrheiten: Ein sehr häufiger Fall. Die Welt ist voll von Halbwahrheiten. Wir alle wissen so gut wie nie alles über ein Thema. Jemand hat etwas gesagt, aber es wird aus dem Zusammenhang gerissen. ("Grünen-Politikerin x: "Tempo 80 auf der Autobahn wäre gut für die Umwelt." Der zweite Satz fehlt: "Aber das ist völlig unrealistisch.") Eine Zahl stimmt, aber sie ist erklärungsbedürftig. (Hier sind zwei Klassiker: die Kriminalität von Migranten als überdurchschnittlich darzustellen, ohne die Delikte aufzuschlüsseln, oder die Bildungserfolge von Zuwanderern als niedrig darzustellen, ohne die soziale Korrelation zu erwähnen.)
    Halbwahrheiten knüpfen an etwas tatsächlich Vorhandenes und Belegbares an und halten sich daher besonders hartnäckig. Sie geben denjenigen, die sie verbreiten und denen, die daran glauben, die Möglichkeit, auf dem wahren Bestandteil zu insistieren - gegen alle Argumente. Halbwahrheiten sind ideal geeignet für Desinformation.
    Bilder, die aus dem Zusammenhang gerissen werden und/oder eine falsche Überschrift bekommen: Dieses "Fake-News"-Unterphänomen ist im Netz und in den Sozialen Medien sehr wichtig. (Angela Merkel hat eben noch lange und freundlich mit dem Vizekanzler gesprochen, das Bild zeigt aber den Augenblick, in dem sie nach der langen Nacht in Brüssel grimmig wirkt und gähnt. Überschrift vielleicht: "Was ist da los mit Merkel und Scholz? Kanzlerin gereizt und gelangweilt." Oder der Bildausschnitt, der eine Demonstration viel größer oder viel kleiner als tatsächlich erscheinen lässt.)
    Völlige Fälschungen einer Nachricht: Etwa bei Quelle oder Inhalt. So etwas fällt normalerweise schnell auf. Man denke nur an das Fax aus dem Januar 2000, mit dem Helmut Kohl angeblich ankündigte, nun doch die Namen der geheimen CDU-Gönner im Parteispendenskandal zu nennen. Nach kurzer Zeit und nach großer Aufregung in Deutschland kam das Dementi.
    Anders sieht es aus mit massiven und komplexen Desinformationskampagnen, wie zum Beispiel der versuchten russischen Einflussnahme auf den US-Wahlkampf 2016. Was da genau passierte und inwiefern das den Wahlausgang beeinflusst haben könnte, das hat vor kurzem der "New Yorker" ausführlich beschrieben.
    Eine der ersten Journalistinnen, die über die sogenannten Troll-Fabriken in Sankt Petersburg berichtet hat, ist die finnische Kollegin Jessikka Aro. Der BBC hat sie geschildert, wie sie danach selbst Ziel von Cyberangriffen und Rufschädigungen wurde. Dabei wurden mehr oder weniger dieselben Mittel eingesetzt, die auch zu politischen Zwecken eingesetzt werden. Kein Wunder, denn die Zerstörung ihrer Reputation war auch zum politischen Zweck geworden.
    In einer neuen Analyse des Brookings Instituts wird folgender Gedanke nahegelegt: Im Bewusstsein seiner grundsätzlichen technischen und industriellen Rückständigkeit könnte Russland noch mehr auf den Einsatz künstlicher Intelligenz zur Desinformation setzen, den einen Punkt, der den Einfluss Moskaus bezahlbar auf Weltmachtniveau hält; natürlich ist Russland nicht der einzige Akteur, der sich dieser Mittel bedient.
    Natürlich haben etwa auch die USA immer wieder versucht, Wahlen zu beeinflussen, auch in Deutschland. Der amerikanische Politikwissenschaftler Dov H. Levin argumentiert, die USA hätten dies sogar bislang viel häufiger getan als Russland.
    Desinformation betreiben gleichermaßen andere mächtige Interessen jenseits der Politik. Heute fragen wir uns: Wie konnte es den Tabakkonzernen nur gelingen, jahrzehntelang die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens in der öffentlichen Wahrnehmung klein zu halten? Und schon 2010, als noch niemand über "Fake News" sprach, berichtete "Der Spiegel", wie Auftrags-Wissenschaftler Passivrauchen und Sauren Regen, Ozonloch und Klimawandel verharmlost haben.
    Desinformations-Kampagnen, unterstützt von Fake-Accounts und Bots, sind schwer zu kontrollieren und laufen nicht primär über das klassische Mediengeschäft. Ähnliches lässt sich übrigens auch für artverwandte Aktivitäten sagen - Werbung und PR in den sozialen Medien. Auch diese Aktivitäten sind manipulativ und einflussreich.
    Hier noch zwei Punkte, die Probleme des Journalismus aufzeigen, und die zumindest mittelbar mit "Fake News" zu tun haben:
    Vorurteile/redaktioneller Bias/"Mainstream"-Journalismus: Putin hat immer Recht oder Unrecht, Kernkraft ist immer schlecht, Windräder sind immer gut, Keynes ist die Lösung für unsere Wirtschafts- und Sozialpolitik oder der Neoliberalismus. Drei Monate Willkommenskulturjournalismus, danach dann Flüchtlingsproblemjournalismus.
    Fehlende Themen: Aus meiner Sicht sehr wichtig, auch wenn nicht immer bedacht, ist die Themenauswahl. Selbst wenn man in allen Meldungen absolut korrekt liegt, kann die Auswahl das Problem sein. Berichten wir noch genug über Syrien und kommt der Jemen zu kurz? Haben wir die Armut in Deutschland genug auf dem Schirm und warum ist das Auto auch in vielen journalistischen Köpfen bei uns so mächtig?
    Diese beiden Punkte, mit denen ich über die üblichen Definitionen von "Fake News" hinausgehe, tragen auch zu dem Vorwurf der "Lückenpresse" bei. Er ist aus meiner Sicht inhaltlich deutlich ernster zu nehmen als das Unwort von der "Lügenpresse", zumindest wenn man die Lücke nicht nur bei Themen wie Migration oder Kriminalität ausmacht.
    "Fake News" - das ist nichts Neues
    Es mag erleichternd wirken oder deprimierend - das Phänomen ist überhaupt nicht neu, es ist so alt wie die Menschheit. "Semper aliquid haeret", es bleibt immer irgendwas hängen, sagten die Römer - und nicht erst sie kannten die magische Wirkung von Gerüchten und Halbwahrheiten. Seit Anbeginn der Menschheit wird das, was wir derzeit "Fake News" und Desinformation nennen, eingesetzt.
    Bronze-Statue des römischen Staatsmannes Gaius Iulius Caesar, 100 - 44 v. Chr., im Trajansforum in Rom
    Schon Caesar nutzte Falschnachrichten, wenn es um die Macht ging. (imago / UIG)
    Etwa in der Politik. Wer dem Pharao oder Perikles schaden wollte, der brachte Geschichten über sie in Umlauf. Und wenn Cäsar und Karl der Große Gegner bekämpften, dann machten es die Herrscher ihrerseits genauso. Nicht nur weltliche Fürsten, auch die Kirchen und viele andere haben sich des Mittels stets reichlich bedient.
    Konstantinische Schenkung und Dolchstoßlegende
    Sicher ist, dass es in unseren Geschichtsbüchern noch jede Menge "Fake News" gibt, die sich festgesetzt haben und noch nicht entdeckt worden sind. Zu den erfolgreichsten "falschen Nachrichten" der Geschichte zählt die "Konstantinische Schenkung". Ein angeblicher Kaisererlass aus dem vierten Jahrhundert, auf den die Päpste lange ihren Anspruch auf weltliche Herrschaft basiert haben. Wie man heute weiß, wurde das Dokument vermutlich um das Jahr 800 fabriziert.
    Weltbekannt ist auch die Propagandalüge, die man noch heute "Dolchstoßlegende" nennt. Die Idee, Deutschland habe "im Felde unbesiegt" durch das Handeln feiger Politiker den Ersten Weltkrieg verloren, traf auf viele offene Ohren und trug erheblich zur Diskreditierung der Weimarer Republik bei.
    Eine der übelsten Fälschungen der Geschichte
    Die schlimmsten Auswüchse von "Fake News" im politischen Bereich haben wir in Diktaturen erlebt, die allerschlimmsten im mörderischen Nazi-Deutschland, als der Tod von Millionen von Menschen durch Verleumdungen vorbereitet und begleitet wurde.
    In der Sowjetunion setzte der KGB sogenannte "aktive Maßnahmen" ein, um die Öffentlichkeit zu beeinflussen, auch die Öffentlichkeit in anderen Ländern. Das sind Vorläufer der heutigen russischen Aktivitäten, etwa der Beeinflussung der US-Präsidentschaftswahl 2016.
    Eine der übelsten Fälschungen der Geschichte stammt aus dem Russland des frühen 20. Jahrhunderts. Die zaristische Geheimpolizei erfand die sogenannten "Protokolle der Weisen von Zion", die bis heute vielen (unbelehrbaren) Menschen als Beleg für eine angebliche jüdische Weltverschwörung dienen.
    Lügen als Massenvernichtungswaffen
    Die Liste von "Fake News", mit denen Kriege oder Bürgerkriege angeheizt wurden, ist lang. Die Lügen hinter dem Völkermord in Ruanda und Maos Kulturrevolution, hinter dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien und der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha - das sind nur vier grausame Beispiele aus dem 20. Jahrhundert.
    Lügen können leicht zu Massenvernichtungswaffen werden. Auch deshalb haben die Alliierten übrigens nach 1945 den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland aufgebaut, den manche nun für überflüssig halten oder zumindest im Netz begrenzen wollen. Aber das nur am Rande.
    Spin und PR haben auch freie Gesellschaften erobert
    Innerhalb von freien Gesellschaften dominiert bei der Täuschung nicht die glatte Lüge aus dem Zentrum der Macht. Sehr oft trifft man das an, was in Zeiten Tony Blairs gerne "spin" genannt wurde. Da ist die Halbwahrheit, die zugespitzte Aussage, die bewusste Auswahl bestimmter Tatsachen - und das Weglassen anderer. Das kommt bei der Bundesregierung vor wie bei der Opposition, bei DGB und Kirchen. Es gilt für Wirtschaft, Kultur und Sport, ebenso wie für Stellungnahmen von Greenpeace oder Amnesty.
    Überall werden PR und ergebnisorientierte Kommunikation geschult, längst auch mit Schwerpunkt auf die Sozialen Medien. Jede Partei und jeder Verband, jede Nichtregierungsorganisation und jede Hochschule - sie alle verfügen mehr oder weniger über das Wissen von oder über die Unterstützung durch PR-Agenturen.
    Der menschliche Faktor
    "Fake News" rühren an zutiefst menschliche Regungen. Hand aufs Herz, wer hat sich nicht schon mal an Klatsch und Tratsch beteiligt oder Gerüchte weiter getragen? Weil es irgendwie interessant war, weil man imponieren wollte oder einem anderen ein wenig, nur so ein klein wenig, schaden.
    Und haben wir nicht alle schon Geschichten verbreitet, weil wir sie einfach glauben wollten, weil sie uns gut in den Kram passten, weil wir zu faul waren, uns breiter zu informieren? Schließlich wusste man ja immer schon, dass der Nachbar ein Doppelleben führt, dass die Kollegin nicht vertrauenswürdig ist, dass Putin der Größte ist oder die CIA uns alle ruinieren wird.
    Aufklärung, demokratischer Rechtsstaat, kritischer Journalismus sind neueren Datums und immer noch nicht weit verbreitet auf der Welt. Lügen, Halbwahrheiten, hartnäckige Vorurteile, gezielt oder unbeabsichtigt erzeugt oder weiter gegeben, all das sind dagegen Konstanten.
    Ein Mikrofon von Fox News liegt auf einem Pult.
    Alle reden über Fox News oder Breitbart. Aber was ist mit den Boulevardpresse oder den Heftchen über Prominente? (picture alliance / dpa / Justin Lane)
    Der Nährboden für das, was man "Fake News" nennt, hat mit uns Menschen zu tun und mit Vorurteilen von einzelnen oder von Gruppen. Heute nennt man diese Gruppen Filterblase. Der Stammtisch steht dann vielleicht virtuell bei Facebook. Üble Gerüchte verbreiteten sich schon im Mittelalter rasch, aber die Viralität in den sozialen Medien stellt alles bisher Gekannte in den Schatten. Es ist wichtig, den menschlichen Faktor zu verstehen und immer im Auge zu haben, sonst kann man das ganze Phänomen nicht begreifen - und auch wenig dagegen tun.
    Sind die Sozialen Medien an allem schuld?
    Nein, die Sozialen Medien sind nicht an "Fake News" und Desinformation schuld. Medien waren immer schon Plattformen für die Verbreitung auch falscher Informationen. Alle reden jetzt über Fox News oder Breitbart. Aber, was ist denn mit der Boulevardpresse oder den Heftchen über Prominente? Schauen Sie doch einfach mal bei "Übermedien" nach, wo nun auch die Klatschpresseentlarver von "Topf voll Gold" zuhause sind. Was ist mit all den Blogs und Facebook-Gruppen mit Verschwörungstheorien? Und selbst die seriösesten der seriösen Medien, haben sie noch nie etwas berichtet, das Wahlen beeinflusst oder Politiker zum Rücktritt gezwungen hat und sich später doch als Lüge erwies?
    Ein Beispiel: am 27. Juni 1993 wollte die Elitetruppe GSG-9 auf dem Bahnhof des mecklenburgischen Bad Kleinen die als RAF-Terroristen gesuchten Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams festnehmen. Bei einem Feuergefecht erschoss Grams den GSG-9-Beamten Michael Newrzella. Auch Grams blieb tot zurück. Nach mehrfach gerichtlich überprüften staatsanwaltlichen Ermittlungen war es Suizid. Medien berichteten aber damals gestützt auf Zeugenaussagen von einer "Exekution" Grams’ durch Polizeibeamte. In der Folge dieser Berichte trat der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters zurück.
    Recherche-Ikone Hans Leyendecker wird seit langem damit zitiert, dass dies der "größte Fehler seines journalistischen Lebens" gewesen sei. Stefan Aust, damals noch bei "Spiegel-TV", sagt zu Bad Kleinen: "Es ist verheerend, wie sehr die Glaubwürdigkeit von Medien durch eine so windige Recherche erschüttert werden kann. Aber langfristig hat das nicht einmal dem für die falsche Geschichte verantwortlichen Journalisten Hans Leyendecker geschadet - er gilt nach wie vor als die Verkörperung des investigativen Journalismus."
    Medienwandel kein Novum, sondern eine Konstante
    Der Medienwandel ist keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Die erste gedruckte Zeitung hat dem Rufmord ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Die Einführung des Radios - man denke an Goebbels - oder des Massenmediums Fernsehen hat Vertreter politischer und ökonomischer Interessen schon früher von ungeahnten, neuen Missbrauchsmöglichkeiten träumen lassen.
    Rückzugsräume und Selbstbestätigungsmechanismen gibt es ebenfalls nicht erst seit den Sozialen Medien. Sicher, viele Menschen suchen am digitalen Stammtisch Rückhalt für die eigenen Positionen und manchmal auch emotionale Wärme. Aber waren nicht früher auch die meisten Tageszeitungen eindeutige Tendenzbetriebe, zum Teil sehr ausdifferenziert - mit einem Blatt für den katholischen Gewerkschafter und einem anderen für die protestantische Arbeiterschaft?
    Und wo ist eigentlich der strukturelle Unterschied zwischen den hermetischen Meinungsräumen von oft als rückständig und illiberal beschriebenen Menschen zu den "Filterblasen" der liberalen Eliten, die noch am 8. November 2016 ganz sicher waren, dass Hillary Clinton Präsidentin werde? Über das - wie er es sieht - abgeschottete Dasein der Linksliberalen in Deutschland hat jüngst Philipp Krohn in der FAZ geschrieben.
    Digital muss nicht alles schlimmer werden
    Internet und Soziale Medien haben das Problem nicht erfunden, sondern nur ein weiteres Mal verändert, wie dies frühere "neue Medien" auch gemacht haben. Dabei ist gar nicht ausgemacht, dass digital alles schlimmer wird.
    Ja, es stimmt, die neuen Plattformen kann niemand so kontrollieren oder regulieren wie das bei Print, Radio und TV möglich ist. Kein Staat kann das, kein Presserat oder ein stillschweigendes Übereinkommen von Journalisten, was man macht und was nicht. Diese Selbstkontrolle der Medien ist - nebenbei bemerkt - oft sinnvoll, dient manchen aber wiederum als Bestätigung für den Vorwurf der "politisch korrekten Lügenpresse".
    Miniatur Figuren stehen vor dem Facebook-Logo
    Hat schon jemand Facebook mit einer "Fake News"-Steuer gedroht? (picture alliance / chromorange / Ralph Peter)
    Und es stimmt auch, dass Algorithmen-Programmierer, Trolle, Hacker und Social Bots eine riesige Gefahr darstellen. Netzpolitik.org hat dazu eine Begriffsklärung beigesteuert. Sie alle können im Auftrag von Unternehmen, Staaten, organisierter Kriminalität oder einfach so aus Spaß gravierende Fehlsteuerungen in der digitalen Informationsgesellschaft auslösen. Deshalb müssen die Demokratien dieser Welt technisch auf der Höhe und abwehrbereit sein, Medien müssen hier recherchieren und offenlegen, Bürger sollten Skepsis zur Tugend erklären.
    Was können die Technologiekonzerne tun?
    Die Technologiekonzerne sind in besonderer Weise gefragt, denn sie sind die Betreiber maßgeblicher Kommunikationsinfrastrukturen unserer Zeit. Facebook/WhatsApp, Google/Youtube, Twitter und Co. müssen die eigene Verantwortung für die globale Informationsordnung anerkennen und handeln. Das "Wir sind doch nur Plattform" reicht nicht mehr. Die Konzerne haben zuletzt viel investiert in Aufklärungskampagnen, die man auch Werbeaktionen nennen kann. Sie haben weltweit viele tausend neue Stelle geschaffen in Löschzentren, um Hassbotschaften und ähnliches aus dem Netz zu bekommen.
    Mehr Regulierung wagen
    Diese bisherigen Anstrengungen der Tech-Konzerne reichen aber nicht. Manchmal erscheinen die Firmen, zu denen man auch Amazon, Apple und andere dazu zählen könnte, wie Goethes Zauberlehrling. Die Geister, die sie riefen, werden sie nicht mehr los. Falls dem so ist, dann brauchen sie Hilfe von außen, ob sie wollen oder nicht.
    Aus meiner Sicht müssen staatliche Behörden wie die EU-Kommission härter vorgehen und ernsthaft regulieren. Bisher wird in Brüssel noch stark auf Selbstverpflichtungen gesetzt. Das ist vielen nicht genug. Kritik kommt unter anderem von der Europäische Rundfunkunion, EBU, in der auch die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender vertreten sind.
    "Fake News"-Steuer und Monopolabwehr
    Auch die Tech-Konzerne sind vor allem eines: Wirtschaftsunternehmen. Ihr Ziel ist es, Geld zu verdienen. An dieser Stelle kann die Politik sie treffen, wenn sie sich international nur halbwegs einig wird. Hat schon jemand Facebook mit einer "Fake News"-Steuer gedroht - ein Dollar für jede gefährliche Lüge, die länger als vier Stunden im Netz steht?
    Besorgniserregend ist auch die Marktmacht der großen Netzwerke. In den USA gibt es harte Gesetze gegen Monopole. 1911 wurde der damals beherrschende Ölkonzern "Standard Oil" per Gerichtsbeschluss zerschlagen. Vielleicht wird dies eines Tages auch die digitalen Monopolisten treffen.
    Was kann die Politik tun?
    Die Politik muss das Thema von der Peripherie noch weiter in das Zentrum ihrer Arbeit rücken. Die mögliche Manipulation von Wahlen, die Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden durch Brunnenvergiftung in den Sozialen Medien - das sind keine Themen, die man nur einmal im Jahr bei einer netzpolitischen Aussprache im Plenum ansprechen kann.
    Der schwierigste Teil: Wer als politisch Verantwortliche/r gegen "Fake News" streitet, sollte selbst am besten darauf verzichten, auch auf die liebgewonnenen Halbwahrheiten und andere PR-Tricks. Denn nur mit Glaubwürdigkeit lässt sich etwas erreichen.
    In Frankreich hat vor kurzem ein interessanter Versuch begonnen.
    Ansicht des leeren Plenarsaals der Nationalversammlung in Paris
    Frankreichs Nationalversammlung hat mit der Mehrheit des Lagers von Präsident Macron ein Gesetz gegen Fake News verabschiedet. (dpa / MAXPPP / Le Pictorium /Julien Mattia)
    Es bezieht sich allerdings nur auf Wahlkampfzeiten. Richter können dann in Eilverfahren ein Verbreitungsverbot für nachweislich falsche Informationen von großer Tragweite verhängen und dies auch bei Facebook, Twitter und Co. durchsetzen. Die ersten Testfälle könnte der Europawahlkampf 2019 bringen.
    Das französische Gesetz ist umstritten, manche sehen hier Zensur-Absichten. Und dennoch, staatliche Abwehrbereitschaft hätte man sich auch in Brasilien gewünscht. Mit der Desinformationskampagne während des Präsidentschafts-Wahlkampfs, bei dem WhatsApp im Zentrum stand, hat sich netzpolitik.org befasst.
    Manche Politiker zögern - aus eigenem Interesse
    Die politische Reaktion auf die digitalen Desinformationskampagnen ist bisher teils ambivalent und taktisch. Es ist nämlich verständlicherweise für den US-Präsidenten nicht einfach, die russische Einflussnahme anzugreifen - ohne die Legitimität seiner eigenen Wahl zu beschädigen. Und wie will die britische Regierung Manipulationen beim Brexit-Referendum untersuchen, wo dieselbe Regierung doch auf die Mehrheit für den Brexit bei dieser Abstimmung pocht?
    In der Auseinandersetzung mit den großen Digitalkonzernen spielt außerdem immer wieder die Angst um Investitionen und Arbeitsplätze eine Rolle. Hier wird man nur durch internationale Zusammenarbeit weiterkommen, die zumindest auf europäischer Ebene das Erpressungspotential der Firmen reduziert.
    "Fake News"-Prophylaxe: die ureigene Aufgabe von Politik
    Politikerinnen und Politiker haben aber noch eine andere Aufgabe, nämlich ihre ureigene, ganz abgesehen von den großen Tech-Konzernen, ganz abgesehen von externen Desinformationskampagnen: Sie müssen die in ihrer jeweiligen Gesellschaft wichtigen Themen aufgreifen und offen diskutieren.
    Schüler und ihr Lehrer arbeiten in einem Klassenraum einer Grundschule an Computern.
    Der Umgang mit Medien, ja generell der Umgang mit Informationen, muss in den Schulen die Rolle bekommen, die er verdient. (dpa/Friso Gentsch)
    Sie können sich da nicht wegducken, sonst werden Gerüchte glaubhaft, sonst wachsen Kräfte, die mit der Grundablehnung unserer offenen Gesellschaft und unserer manchmal so beschwerlichen parlamentarisch-rechtsstaatlichen Ordnung punkten wollen. Politikerinnen und Politiker müssen den Rücken durchdrücken. Das ist "Fake News"-Prophylaxe, die nicht erst ansetzt, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist.
    Diese Auseinandersetzungen darf die Politik nicht den Medien überlassen. Wenn Medien als Ersatzpolitik wahrgenommen werden oder als die eigentlichen Verfechter bestimmter politischer Positionen, und seien es noch die besten, dann schadet das ihrer Glaubwürdigkeit. Dann sinkt das Vertrauen in ihre Unabhängigkeit. Politik und Medien sind immer dann am besten, wenn jeder seine eigene Aufgabe gut erfüllt.
    Bildung, Bildung, Bildung
    Der Umgang mit Medien, ja generell der Umgang mit Informationen, muss in den Schulen die Rolle bekommen, die er verdient. Auch hier hat die Politik eine besondere Verantwortung. Hier wird schon viel gemacht, aber es sollte noch mehr werden und nicht erst in den höheren Klassen beginnen.
    Medienkompetenz heißt das etwas sperrige deutsche Wort. Das Englische "media literacy" trifft es für mich besser. Den Umgang mit Medien muss man so lernen, wie man Lesen und Schreiben lernt. Hier liegt der Schlüssel zu vielem, auch dazu, dass aufgeklärte und kritische Bürgerinnen die Schulen verlassen.
    Was können die klassischen Medien tun?
    Die klassischen Medien stellen sich allenthalben dem Thema "Fake News" unter schwierigen Bedingungen. Zeitdruck und mangelnde Ressourcen sind in vielen Redaktionen Alltag. Das hat unter anderem zu tun mit der wirtschaftlichen Lage vieler Medien und mit der Herausforderung durch die Digitalisierung. Zehn Statements aus dem Bundestag abzuklopfen, das war 1980 das eine. Täglich das halbe Internet verifizieren zu sollen und auch noch Multiplattformjournalismus plus Social-Media-Management machen zu müssen, das ist 2018 etwas ganz anderes. Die meisten Medien arbeiten gerade unter gehörigem Transformations-Stress.
    Und doch haben die klassischen Medien in Deutschland in den vergangenen beiden Jahren laut Umfragen an Glaubwürdigkeit zurück gewonnen. Das hat Gründe, schöne Gründe. Viele Redaktionen sind nämlich vom hohen Ross herunter gestiegen, haben sich mehr mit den eigentlichen Anliegen ihrer Kundschaft beschäftigt und setzen auf Dialog. Sie sorgen für mehr Transparenz in der journalistischen Arbeit, sie legen eigene Fehler offen. Sie erklären ihr Tun.
    Das ist eigentlich etwas Normales für den Journalismus. Die Vertrauenskrise hat diese offene und der Gesellschaft dienende Grundeinstellung der Medien nun wieder gestärkt. Vielleicht war die Lügenpresse-Krise hilfreich wie eine Impfung.
    Verifikation und Faktenchecks
    Gegen eine bestimmte Art von "Fake News" setzen größere Redaktionen auf neue Formen journalistisch-technischer Verifikation. Natürlich gehörte es immer schon zum Handwerk, Informationen zu plausibilisieren. Aber wie macht man das mit einem Tweet oder einem Youtube-Video? Ein gutes Beispiel liefern die Deutsche Welle und das Verifikations-Projekt "truly media", das DW-Journalistin Julia Bayer in einem Video erläutert.
    Ein anderes konkretes Beispiel gibt Tagesschau-Faktenfinder Patrick Gensing: Er berichtet, wie seine Redaktion Videomaterial aus Chemnitz auf seine Echtheit geprüft hat. Es zeigt Übergriffe auf Ausländer nach dem Mord an einem Deutsch-Kubaner in der sächsischen Stadt. Der damalige Verfassungsschutzpräsident Maaßen hatte Zweifel an der Authentizität des Videos geäußert.
    Ein weiteres derzeit beliebtes Mittel sind die Faktenchecks. Es handelt sich um ein oft nützliches journalistisches Format. Allerdings tun sich zwei Probleme auf: Zum einen wird bisweilen einseitig gecheckt, was bei Teilen des Publikums Verschwörungsvermutungen bestärkt. Wer Aussagen von Trump überprüft, muss nach meiner Ansicht auch Angaben der Demokraten unter die Lupe nehmen. Wer Putin oder die AfD Faktenchecks unterzieht, muss auch die ukrainische Regierung und die Bundesregierung hinterfragen.
    Nicht jeder Faktencheck gelingt
    Zum anderen müssen die Faktenchecks wirklich über jeden Zweifel erhaben sein. Ein Negativ-Beispiel ist für mich die Debatte um die Zahl der Zuschauer bei Trumps Amtseinführung, eine der ersten Kontroversen seiner Präsidentschaft. Es war völlig richtig, die Lügen des Präsidentensprechers und das von Trump-Beraterin Conway eingebrachte Konzept der "Alternativen Tatsachen" entschieden zurückzuweisen.
    Doch die von vielen Medien veröffentlichte Gegenüberstellung der Bilder von Trumps großem Tag und Obamas Einführung 2009 war ohne Einordnung ebenfalls nicht redlich. Denn jeder weiß, dass im Großraum Washington die Demokraten stark in der Mehrheit sind. Man hätte dies dazuschreiben sollen oder die Bilder von Trumps Feier mit der der beiden (republikanischen) Präsidenten Bush vergleichen können.
    Argumente funktionieren schlecht gegen Emotionen
    Das zweite Problem der Faktenchecks ist noch komplizierter - und hat nichts mit den Faktencheckern zu tun. Wissenschaftler sagen uns nicht nur, dass auch die kritische Auseinandersetzung mit abstrusen Äußerungen genau diesen Äußerungen anhaltende Reichweite sichert. Das ist ein im Rückblick erkannter Baustein des Wahlerfolgs von Donald Trump. Wissenschaftler sagen uns auch, dass Argumente gegen Emotionen nicht gut funktionieren. Das zu akzeptieren, ist schmerzhaft für Nachrichtenjournalisten.
    Folgt man der Social Judgement Theory, dann verstärken Tatsachen-Informationen bei den Ablehnenden den Widerstand. Es kommt zum Bumerang-Effekt. Die Information wird als emotionaler Angriff aufgenommen, die Tatsachen werden mit noch größerer Entschiedenheit abgelehnt. Ian McCulloh von der Johns Hopkins University hat das vor kurzem in Heidelberg beim Deutsch-Amerikanischen Institut gut erläutert. Die Erkenntnisse sind eigentlich gar nicht überraschend, kennen wir sie doch alle aus dem normalen zwischenmenschlichen Leben.
    Einstellungen sind kulturell tief verwurzelt
    Dan Kahan hat das Konzept der Cultural Cognition entwickelt, andere sprechen von Tribal Cognition. Gemeint ist für unser Thema etwa Folgendes: Auch wenn zum Klimawandel eindeutige wissenschaftliche Belege einer großen Mehrheit von Forschern vorliegen, so beendet das nicht die gesellschaftliche Debatte.
    Konservative US-Amerikaner reagieren zum Beispiel oftmals nicht auf Grundlage der Informationen, sondern auf Grundlage kultureller Werte ihrer Gruppe. Das erklärt für Kahan, warum so viele Menschen in den USA den Klimawandel nicht ernst nehmen. Auf der anderen Seite kann man vermuten, dass auch viele Menschen ihre liberalen Positionen aus denselben Bauch- und Gefühlsgründen einnehmen und nicht in erster Linie, weil sie die Fakten studiert haben.
    Das heißt natürlich nicht, dass Medien auf das Entlarven von "Fake News" und das Abklopfen von Behauptungen verzichten sollen. Sie müssen sich aber über die Begrenzungen im Klaren sein und nach weiteren, neuen Formen der Auseinandersetzung mit diesem Problem suchen.
    Was können wir alle tun?
    Jede und jeder von uns kann im Umgang mit Informationen eigene Verifikation betreiben. Tipps dazu gibt es unter anderem von der Bundeszentrale für politische Bildung. Wir alle können uns eine gesunde Grundskepsis erhalten und immer die Plausibilitätsfrage stellen. Netz und insbesondere Soziale Medien bieten da nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Sicher, im Netz kann jeder Lügen verbreiten. Doch jede und jeder kann sich hier auch daran machen, Lügen entgegenzutreten. Wem das zu viel Arbeit ist, der kann sich zumindest gut überlegen, was er in den Sozialen Medien teilt oder mit einem "Gefällt mir" versieht.
    Einspruch erheben!
    Und wir alle können versuchen, Wahrheiten, die zu kurz kommen, einen Raum zu verschaffen. Ein Einspruch bei Facebook, eine Bemerkung bei Twitter - man muss nicht aufwendig ein Blog anlegen, um seine Stimme zu erheben. In der alten Medienwelt kann man zwar einen Leserbrief schreiben, hat aber keinen Einfluss darauf, ob der abgedruckt wird. In der neuen Medienwelt hat die/der Einzelne mehr Möglichkeiten, ist aber auch stärker gefordert ist. Wir alle sollten davon Gebrauch machen.
    Dieser Appell gilt natürlich auch für die Arbeit unserer Redaktion. Wenn Sie Kritik oder Fragen haben, mailen Sie an nachrichten@deutschlandfunk.de oder senden Sie uns bei Twitter eine Direktnachricht an @DLFNachrichten.
    Das Gatekeeper-Paradoxon
    Die Rollen von Medien und Öffentlichkeit, das Verhältnis zwischen Redaktionen und Leserinnen, Hörern, Zuschauern, Nutzerinnen hat sich verändert. Ich nenne das das Gatekeeper-Paradoxon. Lange Zeit waren die Journalistinnen und Journalisten die Gatekeeper, die Wächter. Sie entschieden, welche Information sie durch das Tor hin zum Publikum lassen. Das ist vorbei. In Zeiten des Internets haben potenziell alle Zugang zu allem. Der Zaun ist weg, die Gatekeeper-Rolle hat ihre alte Bedeutung verloren.
    Diese Entwicklung hat viele Menschen zu kritischeren Mediennutzern gemacht, oft im guten, konstruktiven Sinne, manchmal auch auf sektiererisch-verschwörungstheoretische Weise. Für Redakteurinnen und Redakteure im Informationsbereich ist der Rollenverlust psychologisch nicht einfach gewesen.
    Zum Paradox kommt es nun dadurch, dass viele Menschen einem Überfluss an Informationen ausgesetzt sind, deren Qualität sie außerdem nicht immer beurteilen können. Sie sind overnewsed but underinformed. Die wachsende Zahl von Paywalls schließt viele weltweit auch noch von einem beachtlichen Teil der seriösen Information ab.
    Der Twitter-Account der Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion (27.11.2018).
    Der Twitter-Account der Deutschlandfunk-Nachrichtenredaktion. (Screenshot Deutschlandfunk)
    In dieser Situation kommt auf die Redaktionen, nicht zuletzt die der öffentlich-rechtlichen Anbieter, eine neue Aufgabe zu. Sie ist der des Gatekeepers ähnlich. Jetzt geht es nicht mehr nur darum, den Zugang zu Informationen an sich zu regeln. Es geht darum, die Auswahl an Informationen zu begründen und die Öffentlichkeit immer wieder an den Abwägungen teilhaben zu haben. Die neuen Gatekeeper 2.0 arbeiten transparent, begründen ihre Entscheidungen und stehen im Dialog mit dem Publikum.
    Was machen die Deutschlandfunk-Nachrichten?
    Natürlich werde ich von den Hörern und Nutzerinnen auch immer wieder gefragt, wie es denn unsere Redaktion hält, was wir gegen "Fake News" tun, wie wir uns gegen Desinformation wappnen, was wir tun, um mit unseren Nachrichten das Vertrauen der Menschen zu rechtfertigen. Auch dazu abschließend ein paar Worte.
    Auch wir sind nicht gefeit gegen Falschinformationen, Lügen und Desinformation. Aber wir versuchen, durch Handwerk und Einstellung die Abwehrkräfte stark zu halten. Um den Rahmen nicht zu sprengen, nenne ich nur einige der Punkte jenseits des bekannten klassischen Nachrichtenhandwerks mit Vier-Augen-Prinzip und vielem mehr.
    Es beginnt mit der Themenauswahl
    Nachrichten beginnen mit der Themenauswahl. Dafür benötigt man gute Quellen. Wir versuchen, uns in der Themenauswahl nicht vom Strom der Nachrichtenagenturen abhängig zu machen. Die großen Weltagenturen leisten hervorragende Arbeit, aber wir greifen auch auf eine Vielzahl von anderen Quellen weltweit zurück. Dabei sind das Internet und die Sozialen Medien ein Segen. Wir sprechen mit unseren Korrespondentinnen und Korrespondenten und fragen selbst bei Akteuren, Behörden, NGOs etc. nach, die in Themen einbezogen sind.
    Bei der Themenauswahl wollen wir uns nicht davon leiten lassen, man könnte manchmal auch sagen verleiten lassen, was die anderen machen. Wir diskutieren viel darüber, welche Themen wirklich wichtig sind. Dabei spielt die Perspektive der Menschen eine Rolle. Wir kennen sie (ungewichtet) durch die Sozialen Medien und wir fragen auch immer wieder bei unseren Hörerinnen und Nutzern nach, welche Themen ihnen fehlen. Und natürlich sind wir alle Journalistinnen und Journalisten - mitten im Leben und besonders neugierig.
    Die eigenen Vorurteile bedenken
    Nicht nur bei den Themen achten wir darauf, dass wir keine "Mainstream"-Nachrichten machen. Wir diskutieren auch immer wieder darüber, wo unsere eigene Voreingenommenheit ist. Jeder Mensch hat sie, auch Gruppen wie eine Redaktion haben sie.
    Das Wichtige ist, sie zu erkennen und auszublenden. Einer Meldung darf man nicht anmerken, ob sie von einer Frau stammt, die die Grünen oder die CDU wählt. Der Bericht über den Hambacher Forst darf nicht so wirken, als sei er von der RWE-Pressestelle oder von den Baumschützern geschrieben worden.
    Nachrichten jenseits von Termin- und Ereignissen
    Wir versuchen, ein strukturelles Problem des Nachrichtenjournalismus zu mildern, den Termin- und Ereignisjournalismus. Wichtig ist im Nachrichtenstrom, wenn etwas an einem Tag geschieht oder jemand mit einer einschlägigen Bedeutung etwas sagt. Viele Ereignisse werden von PR-Agenturen nur deshalb geplant, damit berichtet wird. Latente Themen ohne Stichtag und Pressekonferenz gehen da leicht unter. Dem versuchen wir entgegenzuwirken.
    Auch mal etwas ignorieren
    Wir geben uns Mühe, nicht über jedes Stöckchen zu springen. Nicht jeder Tweet eines amerikanischen Präsidenten, nicht jede Provokation eines deutschen Politikers muss auch gemeldet werden. Das gilt auch für die zahllosen Umfragen und Studien, die täglich zu allen möglichen Themen veröffentlicht werden. Umfragen und Studien sind oft schlicht Instrumente der PR und der Einflussnahme. Hier fragen wir uns als erstes immer, wer der Auftraggeber ist. Hier, aber auch bei Interviews und anderen Stellungnahmen, stellen wir uns stets die Frage: Wem nützt es?
    Gewichtung
    Wir versuchen auch, uns bei der Gewichtung der Themen nicht treiben zu lassen. Ein Hurrikan in den USA ist meistens ein großes Medienereignis und es gibt zahllose eindringliche Bilder. Aber oft wird es - glücklicherweise - dann doch nicht so schlimm. Und oft haben Unwetter in anderen Teilen der Erde weitaus schlimmere Folgen. Warum sollten wir dann darüber weniger berichten als über einen Sturm in Nordamerika?
    Und im Herbst 2018, in dem immer noch viele Politiker vor allem über Migration sprechen, ist es dennoch richtig, Bildung und Pflege, bezahlbaren Wohnraum und Digitalisierung in die Nachrichten zu bringen - und all die anderen Fragen, die die Menschen in Deutschland vermutlich mehrheitlich gerade mehr bewegen.
    Vergessene Nachrichten und Journalismuskritik
    Gemeinsam mit der "Initiative Nachrichtenaufklärung" und studentischen Projekten sind wir auf der Suche nach den "Vergessenen Nachrichten". Das sind Themen, die bedeutsam sind, es aber nicht in angemessen in die Medien schaffen.
    Markus Beckedahl von Netzpolitik.org hat den Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik entgegen genommen.
    Markus Beckedahl von Netzpolitik.org hat den Günter-Wallraff-Preis für Journalismuskritik entgegen genommen. (Deutschlandradio / Jann Höfer )
    Einmal im Jahr veranstalten wir das "Kölner Forum für Journalismuskritik", eine öffentliche Veranstaltung, die wir übertragen. Hier soll der Name Programm sein. Wir wollen unseren Journalismus durch Selbst- und Fremdkritik besser machen. In diesem Jahr haben wird auf dem Forum auch das europaweite Projekt "lie detectors" vorgestellt. Journalisten gehen in Schulklassen, um über Falschmeldungen und Lügen zu sprechen.
    Nie die Sprache vergessen
    Schließlich: Sprache ist unser wichtigstes Instrument, auch wenn Bilder und Grafiken inzwischen dazu getreten sind. Wir prüfen uns immer wieder, ob unsere Nachrichten korrekt, verständlich, klar und eindeutig sind, ja und auch, ob sie in würdiger Sprache geschrieben sind.
    Wir versuchen, keine Botschaften unkritisch zu transportieren. Denn überall steckt das drin, was derzeit Framing genannt wird, also der Versuch, bestimmte Ideen und Konzepte in den Kopf der Menschen zu bekommen. Wenn der Minister vom "Gute Pflege-Gesetz" spricht, dann müssen wir auf der Hut sein. Und wenn schon wieder ein Politiker behauptet, 2015 seien die deutschen Grenzen geöffnet worden, dann erst recht.
    Der Vergleich hört sich nicht sehr schön an - aber Nachrichtenredaktionen sind in dieser Hinsicht wie Kläranlagen. Die Sprache, die uns erreicht, ist an manchen Tagen stärker verunreinigt als der Rhein in den 1970er Jahren. Die gesellschaftliche Debatte ist voller Versuche, über Wörter und Begriffe zu manipulieren, zu diskreditieren oder einfach geschickt zu lügen. Wir versuchen, die Nachrichten, die Sie erreichen, von all dem frei zu halten.
    * Der Anlass, die Thesen gerade jetzt aufzuschreiben, ist eine Einladung der Universität Köln. Dort bin ich am 27.11.2018 eingeladen zu einem Vortrag - und hoffentlich auch einer Diskussion - zum Thema: "Was soll man denn noch glauben? - Fake News, Qualitätsjournalismus und die Glaubwürdigkeit der Nachrichtenmedien".