Bücher zum 250. Geburtstag von A. von Humboldt

Der große Netzwerk-Denker

Naturforscher Alexander von Humboldt (l) und der Botaniker Aimé Bonpland
Alexander von Humboldt (l.) mit seinem Reisebegleiter, dem Botaniker Aimé Bonpland, auf Expedition in Südamerika. © imago/United Archives
Susanne Billig im Gespräch mit Joachim Scholl · 25.07.2018
Bereits jetzt feiern einige Bücher den 250. Geburtstag des Naturforschers Alexander von Humboldt, der 2019 begangen wird. Der Prachtband "Die Zeichnungen aus den Amerikanischen Reisetagebüchern" belegt, dass er das Leben auf der Erde als Netzwerk verstand.
Joachim Scholl: Alexander von Humboldt haben wir gerade vorgestellt. Im nächsten Jahr jährt sich sein Geburtstag zum 250. Mal. Und jetzt zu diesem Jubiläum gibt es nun schon: Geburtstagsbücher kann man sie nennen, eine ganze Auswahl hat unsere Autorin Susanne Billig sich angesehen. Sie ist im Studio, guten Morgen!
Susanne Billig: Guten Morgen!
Scholl: Gleich zwei Prachtbände haben Sie auf den Tisch gewuchtet, kann man sagen, die wiegen auch ganz ordentlich was. Eindrucksvolle Bücher schon allein vom äußeren Erscheinungsbild. Der Prestel Verlag diese zwei Bände zum großen Alexander von Humboldt herausgebracht, was sind das für Riesenwerke?
Billig: Ja, Sie haben es ja schon beschrieben, die wiegen also je viele Kilo. Der eine davon, auf dem sich hier diese farbigen Blüten über den Einband ziehen, der widmet sich Alexander von Humboldt und der botanischen Erforschung Amerikas. Humboldt hatte ja das große Glück, auf seiner Reise durch Südamerika ausgerechnet dort an Land zu gehen und unterwegs zu sein, wo es so Hotspots an biologischer Vielfalt gibt und einen unglaublichen Artenreichtum. Und aus diesen tropischen Gebieten haben er und sein Reisebegleiter Aimé Bonpland versucht, immense Mengen an pflanzlichem Material mit sich zu schleppen und versucht, Teile wieder mit nach Hause zu bringen. Das war gar nicht so einfach. Dem widmet sich also dieses Buch. Das Zweite, das ist noch voluminöser, das greift aus Humboldts Amerikareise das zeichnerische Werk heraus. Er konnte ja sehr gut zeichnen, war da auch ausgebildet und hat diese Gabe reichlich einfließen lassen in seine Aufzeichnungen. Dann hat er teils von der Natur abgezeichnet, aber er hat auch immer versucht, Grafiken zu ersinnen, um abstrakte Themen sichtbar zu machen, den Höhenverlauf eines Gebirges oder so, und auch da war er seiner Zeit weit voraus: Wie kann man Wissen, abstraktes Wissen visualisieren.
Das Denkmal Alexander von Humboldts auf der Straße Unter den Linden in Berlin vor der Humboldt-Universität, geschaffen um 1900 von R. Begas und M.P. Otto.
Das Denkmal Alexander von Humboldts auf der Straße Unter den Linden in Berlin vor der Humboldt-Universität, geschaffen um 1900 von R. Begas und M.P. Otto.© picture alliance / ZB / Hubert Link

Für Humboldt war alles Netzwerk

Scholl: Zwei Bücher sind das also, die sich aber doch auch ein sehr spezielles Segment des Schaffens von Alexander von Humboldt herausgreifen. Nun war er ja immer dieser berühmte Universalwissenschaftler. Gerade haben wir noch mal dessen Porträt gehört. Bekommt man dann auch etwas von seinem Gesamtwerk so zu fassen, wenn man sich zum Beispiel allein in diese Zeichnungen vertieft?
Billig: Ja, ich finde es ganz interessant, und das ist ja immer so ein Merkmal einer Welt, die man als ganzheitlich bezeichnen könnte, ganz gleich, wo man da hinfasst und was man sich da rausgreift. Man hat immer gleich die Gesamtidee und diese weite universale Perspektive mit in der Hand. Für Humboldt war ja alles Netzwerk. Das betont Ottmar Ette, führender Humboldt-Experte, auch noch mal in seinem Vorwort. Für Humboldt war alles Wechselwirkung, alles stand in interessanten Beziehungen zueinander, die man erkunden kann, und ganz ähnlich, wie in der tropischen Natur eben auch alles ineinander wuchert, so ist das auch in seinen Aufzeichnungen. Also die Skizzen und Zeichnungen, die er angefertigt hat zu Sternenbildern, zu Bergen und Flüssen und Tieren und Pflanzen, die wuchern immer so in die Texte hinein und seine Skizzen und Anmerkungen - er hat auch immer wieder überarbeitet -, die wuchern dann wieder zurück in die Zeichnungen. Allein so vom Optischen her hat man schon seine Weltsicht des wuchernden Ineinanders so vor Augen.
Scholl: Es sind ja hunderte von Illustrationen, die in diesem Buch zu sehen sind. Wie genau ist das aber aufgemacht, Susanne Billig? Also sind ja ausschließlich die Reproduktionen dieser Humboldtschen Zeichnungen zu sehen oder gibt es auch Erläuterungen dazu, Kommentare, die ja dem Leser dann aufschlüsseln, was er da eigentlich sieht?
Billig: Also wir sehen einmal viele, tatsächlich ganze Tagebuchseiten im Faksimile, und dann sehen wir noch Ausschnittvergrößerungen einzelner Zeichnungen. Das ist auch sortiert worden von Julia Maier, das ist die zweite Autorin, die hat promoviert über diese Zeichnungen von Humboldt, und die sortiert das nach Themen. Also Vermessung ist ein Thema, Längen-, Breitenentfernungen, wie schlängelt er sich denn nun, der Rio Grande, und wie lang ist er denn nun. Oder die Erde, wie verteilen sich die Kontinente auf der Erdoberfläche. Dazu gibt es Zeichnungen. Wie ist so ein Vulkan aufgebaut, wusste man damals noch nicht genau, hat er versucht zu zeichnen. Ein Kapitel heißt Kultur. Er ist natürlich auch viel Architektur begegnet, hat er gezeichnet. Musikinstrumente, auch seine eigenen Messinstrumente hat er genau in Zeichnungen festgehalten. Dann gibt es ein ganz spannendes Kapitel, finde ich, zum Schluss dieses dicken Buches, das sich der Materialität der Tagebücher selbst widmet. Er hat sich nämlich sehr genau überlegt, mit welchem Papier zieh ich denn hier los, und wie rühre ich denn meine Tinte an, denn ich komme in tropische Feuchtigkeit, ich komme aufs Meer mit Salzwasserspritzern, das muss ja das alles aushalten. Er hat ja zum Beispiel auch Schiffbruch erlitten auf einem Fluss. Da sind ihm alle diese Aufzeichnungsblätter davongeflossen. Das wurde wieder eingesammelt, zum Trocknen aufgehängt. Das hat das alles überlebt. Und selbst diese Erfahrungen hat er wieder zu neuem Erkenntnisgewinn benutzt, auch das sieht man in dem Buch. Dann hat er so Wasserflecken und Tintenflecken umkringelt und da nun wieder neue Gedanken und Notizen zu aufgeschrieben.
Scholl: Wie sieht es nun mit dem anderen Riesen aus, also der botanischen Erforschung Amerikas in dem zweiten Band, den Sie uns mitgebracht haben, Susanne Billig? Schimmert da auch so aus jeder Abbildung dieser Netzwerkdenker und Synthetisierer Humboldt durch?
Billig: Ja, das hat so ein bisschen eine andere Stoßrichtung dieses Buch. Also einmal sieht man diese wunderschönen farbigen Kupferstiche von Pflanzen. Das hat Humboldt eigens, vor allem in Paris, anfertigen lassen, weil da damals die besten Farbkupferstecher saßen. Er hat – das haben wir auch eben in dem Beitrag gehört – ja viele Jahre damit verbracht, diese Amerikareise wissenschaftlich aufzuarbeiten, und dieses Buch zeichnet nun die Schwierigkeiten der Aufarbeitung nach. Also sein Reisegefährte Aimé Bonpland, der wollte mit aufarbeiten, aber ist abgetaucht, ist irgendwohin verreist, hat Pflanzenbelege mitgenommen. Dann wurde das alles immer teurer, Humboldt hat sein Vermögen dabei durchgebracht, das irgendwie zu versuchen zu publizieren. Dann kamen neue Leute ins Boot, und man bekommt hier in dem Buch so einen schönen lebendigen Eindruck. Es war nicht nur hart und wagemutig, da im Dschungel auf Reisen zu gehen, sondern genauso hart und wagemutig war das, 20 Jahre damit zu verbringen, die Sache hinterher wissenschaftlich auf hohem Niveau zu publizieren.
Farblithographie "Alexander von Humboldt in seinem Bibliothekszimmer in Berlin in der Oranienburger Straße 67", Berlin (Storch und Kramer) nach dem Aquarell, 1856, von Eduard Hildebrandt (1818–1869). 50 x 69,5 cm. Kunstblattslg. 139, Potsdam, SPSG Berlin-Brandenburg.
Farblithographie "Alexander von Humboldt in seinem Bibliothekszimmer in Berlin in der Oranienburger Straße 67", Berlin nach dem Aquarell, 1856, von Eduard Hildebrandt © picture alliance / akg-images

Wer war der Wissenschaftler als Mensch?

Scholl: Diese Publikationsgeschichte ist ja wirklich ein Roman, und das ist vielleicht auch ein guter Zeitpunkt, um mit einem weiteren Buch einmal tiefer in die Biografie und in diese Persönlichkeit des Forschers einzusteigen. "Alexander von Humboldt: Der Preuße und die neuen Welten", so heißt ein Buch von Rüdiger Schaper, Leiter des Kulturressorts der Berliner Tageszeitung "Der Tagesspiegel". Wie nähert er sich denn diesem großen Manne an?
Billig: Ja, ich finde, dass es ihm gut gelingt, diesen großen Manne, wie Sie sagen, ja überlebensgroße Gestalt, einerseits zu belassen in ihrer Wucht für die natur- und geisteswissenschaftliche Nachwelt, aber ihn eben auch ein Stück vom Podest runterzuholen und menschlich naherücken zu lassen, also ihn fühlbar, anfassbar zu machen, und das geht dann schon mal damit los, dass Rüdiger Schaper uns beschreibt, wie seltsam wenig anfassbar und wie unnahbar dieser Mensch eigentlich gewesen sein muss. Er schreibt dann zum Beispiel: "Er war war ungeduldig bis zur Unhöflichkeit, distanziert bis zur Kälte. Ein Star, der seine Rolle ausfüllt und selbstbewusst interpretiert." Also man merkt an dem kurzen Zitat vielleicht schon, es ist sehr unterhaltsam geschrieben, so pfeilschnelle klare Sätze. Schaper hat das große Talent, finde ich, bestimmte biografische Ereignisse radikal zusammenschnurren zu lassen, um dann Wesentliches herauszupräparieren, also journalistisch im besten Sinne geschrieben.
Scholl: Nun haben die Humboldts, beide, Wilhelm wie Alexander, schon seit Längerem Konjunktur, auch Biografie-Konjunktur. Es gibt schon etliche Biografien über Alexander von Humboldt. Was ist denn jetzt neben dem Stilistischen, das Sie jetzt schon herausgestellt haben, Susanne Billig, vielleicht auch ungewöhnlich oder neu an Rüdiger Schapers Blick auf Humboldt?
Billig: Ja, er versucht schon auch so an einigen Stellen, das bisherige Bild von Humboldt zu korrigieren. Also zum Beispiel beschäftigt ihn da ausführlich die Frage, war Humboldts Kindheit wirklich so eng und kalt und unglücklich, wie er und auch sein Bruder das immer erzählt haben. Und Schaper sagt dann, na ja, die Mutter hat sich schließlich auch drum gekümmert, dass die Kinder diese Erziehung erhalten, die ihnen all dieses spätere Leben ermöglicht hat. Also das sollte man als Nachwelt mitbedenken. Das ist so eine Korrektur. Dann befasst er sich ausführlich mit den Freunden Humboldts und gewichtet da einzelne Personen ein bisschen anders. Zum Beispiel die große Bedeutung von Georg Forster streicht er heraus. Das ist auch so eine spannende Figur der damaligen Zeit. Der hat nämlich in ganz jungen Jahren mit James Cook die ganze Welt umsegelt und hat später die wissenschaftliche Reiseliteratur begründet, und sein essayistisches assoziatives Schreiben, das hat Humboldt mehr beeinflusst, sagt Schaper, als man das bisher so gesehen hat. Das ist auch so eine Korrektur.

War Humboldt homosexuell?

Scholl: Humboldts Freundschaften, vor allem mit Männern, sind legendär und auch ein biografisches Leitmotiv geworden. Er war nie verheiratet, was immer viel Raum für Spekulationen eröffnet hat, also Homosexualität - ja, nein. Geht Rüdiger Schaper auch darauf ein oder sagt er, ach, an diesen Spekulationen will mich gar nicht beteiligen?
Billig: Also mich hat eigentlich gefreut, dass er dem Liebesleben Humboldts in aller Unverkrampftheit sogar ein ganzes Kapitel widmet, und da zeichnet er erst mal nach, wie unglaublich verklemmt die biografische Literatur mit dieser möglicherweise schwulen Seite Humboldts umgegangen ist. Sicher ist, das weiß man, dass er mit 25 Jahren schwer verliebt war in einen adeligen, vier Jahre jüngeren Leutnant, und es traf ihn auch schwer, das hat richtig eine existenzielle Krise ausgelöst, als diese Verbindung auseinanderging. Es gibt hier und da auch Spuren von Frauen in seinem Leben, aber was man auch weiß, Humboldt hat aktiv alle Dokumente vernichtet, die über sein Liebesleben Aufschluss geben könnten. Und Schaper kommt dann am Ende dieses Kapitels so zu dem Schluss, dass er sagt, unsere beliebten Schubladen, die wir so aufmachen - homosexuell, bi, asexuell -, die kriegen diesen Mann eigentlich nicht zu fassen. Die Kategorien sind zu eng gefasst – das sieht man an diesem Beispiel – und werden vielen Menschen nicht gerecht, und dem kann man sich ja eigentlich nur von ganzem Herzen anschließen.

Ein Held für Kinder

Scholl: Wir blicken voraus auf den 250. Geburtstag von Alexander von Humboldt. Der ist zwar erst nächstes Jahr, aber jetzt schon erscheinen die Bücher zum Jubiläum. Susanne Billig hat uns eine erste Auswahl vorgestellt – sie ist im Studio –, Bücher waren das, die von der enormen Bedeutung Alexander von Humboldts für unser modernes Denken erzählen, in Wort und vielen, vielen Bildern. Es gibt aber auch einen Humboldt, einen neuen Humboldt für Kinder. Was, Susanne Billig, greift sich denn dieses Buch aus diesem riesigen Füllhorn Humboldt heraus für ein jüngeres Publikum?
Billig: Das Buch heißt "Alexander von Humboldt oder die Sehnsucht nach der Ferne". So hat Volker Mehnert dieses Kinderbuch genannt, und klar, er erzählt das an den Reisen entlang, die für Kinder natürlich ganz viel Abenteuerstoff bieten. Und da lernen Kinder zum Beispiel als Erstes mal, wie schwierig das Reisen war zu damaliger Zeit. Humboldt wollte eigentlich eine Weltreise, das hat nie geklappt. Dann hat er eine Expedition in die Antarktis geplant, das Schiff fuhr nicht aus. Dann lungerte er ewig in Marseille und wartete auf ein Schiff nach Nordafrika und erfuhr dann, dass das irgendwo im Sturm steckengeblieben und zerstört worden war. Letztlich musste er dahin reisen, wohin er eben ein Schiff ergattern konnte. Davon erzählt das Buch in einer ganz klaren, schönen Sprache, ein paar Dialoge immer so zur Auflockerung, ganz unprätentiös. Die Majestät der Natur spielt eine wichtige Rolle, aber eben auch der Wagemut, mit dem Humboldt sich auf riesige Berge oder mitten in Vulkankrater gewagt hat oder in winzigen Booten auf reißende Flüsse gegangen ist. Das war jemand, der als Kind, auch das erzählt das Buch, von seiner Familie als ewig kränklich und im Grunde als Weichei tituliert worden und hat dann das vollbracht. Das ist natürlich eine tolle Botschaft für Kinder.
Scholl: Schon der Einband des Buches sieht optisch toll aus, mit vielen Farben und schönen Bildern. Also können Kinder auch visuell eintauchen in diese Lebens- und Gedankenwelt des Helden Humboldt?
Billig: Ja. Das ist illustriert von Claudia Lieb, eine preisgekrönte Künstlerin, und sie ist unglaublich darin, Atmosphären zu verdichten. Wenn sie Humboldt im tropischen Regenwald zeigt – ganz klein läuft er da durchs Bild mit seinem Riesenfernrohr am Stativ in der Hand, und umwuchert von einem überbordenden Grün. Besser kann man das nicht in Szene setzen, wie das gewesen sein muss, diese Tropen zu erfahren. Oder wie sie die mächtigen Anden zeichnet, also Grün- und Brauntöne schichten sich da übereinander, in der Ferne so ein Schneegipfel, und vorne ein riesiger Condor, der über sein Reich fliegt. Tiefblaue Nächte, spiegelglatte Seen, die weißen, geraden Stämme dieser riesigen Birkenwälder, die man in Sibirien findet. Dann natürlich auch Infografiken, auch darin ist sie eine Meisterin, Karten, die diese Reiseverläufe zeigen, aber immer umrankt von Humboldts Netzwerk des Lebens, Vögel, Schlingpflanzen – wunderschön gemacht.
Cover "Das Buch der Begegnungen" von Alexander von Humboldt / im Hintergrund ein Bild Humboldts
"Das Buch der Begegnungen" - eine Auswahl aus Alexander von Humboldts Reisetagebüchern© Verlagsgruppe Random House

Humboldts treffsichere Charakterdarstellungen

Scholl: Jetzt ist unser Humboldt-Büchertisch schon ziemlich opulent und reich gedeckt, aber ein ganz besonderes Buch wollen Sie uns noch vorstellen. "Das Buch der Begegnungen" heißt es, mit Texten aus den amerikanischen Reisetagebüchern Alexander von Humboldts. Um welche Arten von Begegnungen geht es denn in diesem Buch?
Billig: Erst mal muss ich sagen, das ist auch wieder so ein schön aufgemachtes Buch, toller Leineneinband, ein Lesebändchen, wunderschöne Typografie, farblich abgesetzte Kapitelüberschriften, also aus dem Manesse-Verlag ein bibliophiles Buch, das man sehr gern zur Hand nimmt. Um welche Begegnungen geht es? Ottmar Ette, dieser bekannte, berühmte selbst schon Humboldt-Forscher hat aus diesen Reisetagebüchern rausgenommen die Menschenporträts, die Humboldt geschrieben hat. Man lernt ihn hier eben noch mal von einer ganz anderen Seite kennen, nämlich als jemanden, der Menschen sehr genau anguckt und auch so ein Meister ist, in wenigen Sätzen ganz treffsichere Charakterdarstellungen zu schreiben.
Scholl: Also eine kurze, prägnante, präzise Darstellung von Charakteren. Da fragt man sich natürlich, welche sind das denn, welche Begegnung ist da?
Billig: Ja, man muss sich halt überlegen, Humboldt war fünf Jahre unterwegs, von 1799 bis 1804, und ist unendlich vielen Leuten begegnet, also anderen Reisenden, dann auf Schiffen den Passagieren und dem Kapitän und den Matrosen und irgendwelchen Soldatenbanden und Missionaren immer wieder. Dann hat er ganz viele Minen besucht – er war ja ausgebildeter Bergbauingenieur – hat diese Minenarbeiter kennengelernt, die Minenbesitzer kennengelernt, hat Menschen aus indigenen Kulturen im Dschungel kennengelernt, und das hat ihn alles interessiert, auch die gesellschaftlichen Umstände, immer die Kontexte, in denen diese Leute leben. Und schön finde ich an diesem Buch eben, dass man das einmal chronologisch, von vorn nach hinten lesen kann, aber dass es so ein zweites Inhaltsverzeichnis gibt – Ottmar Ette nennt das einen "Leseparcours", und da bietet er uns an, eine ganz andere Sortierung, dass man bestimmte Themengebiete zusammenlesen kann, also meinetwegen alles über Reisegefährten, was er geschrieben hat, alles über Bergbesteigungen – macht man ja auch immer nicht allein. Alles über Zivilisation und Barbarei, ein Riesenthema, über Sklaverei. Und das ist eine tolle Idee, finde ich, weil das trägt nicht nur diesem vernetzten Denken Humboldts Rechnung, sondern zeigt eben auch, wie sich Denken bei ihm verschiebt im Lauf der Zeit, zum Beispiel was er über Zivilisiertheit und Barbarei denkt, und was er über Sklavenhaltung denkt.
Scholl: Er war ja ein entschiedener Gegner der Sklaverei, ein Fürsprecher der Indianer. Bleibt das so etwas wie ein Schwerpunkt dieser Zusammenschau?
Billig: Schwerpunkt würde ich es eigentlich gar nicht so nennen. Humboldts Schwerpunkt war der Nicht-Schwerpunkt, kann man sagen. Das Zusammendenken und Zusammenerleben ganz unterschiedlicher Eindrücke. Aber er kehrt auf jeden Fall immer wieder zu diesem Thema Zivilisation, Barbarei, Sklaverei zurück und schreibt dann Dinge, die von unglaublicher Aktualität sind. Das hat mich erstaunt. Beispielsweise beschreibt er eine Stadt in Südamerika, wo Tuche hergestellt werden. Heute kann man sagen, Kleidungsherstellung. Und ich zitiere mal kurz. Er schreibt dann: "Die Fabriken ähneln Gefängnissen. Ein Pförtner, der einem Kerkermeister gleicht, öffnet die Tür, die ansonsten stets verschlossen bleibt. Nichts Schmutzigeres, nichts Stinkenderes, nichts Düstereres, nichts Ungesünderes als diese Werkstätten. Menschliche Exkremente mitten im Hof, die Männer alle nackt, abgemagert, ausgezehrt, ständig hinter Schloss und Riegel, von ihren Frauen getrennt, die Peitsche tanzt auf ihrem Rücken." So beschreibt er das und erzählt dann eben, dass er rausfindet, die sind in Schuldenhaft genommen, die sind keine freien Menschen mehr, weil sie ewig ihre Schulden abzahlen. Das ist natürlich von beklemmender Aktualität, so eine Beschreibung.

Ein fortwährend zu hebender Schatz

Scholl: Susanne Billig, wenn wir jetzt mal einen Schritt zurücktreten von diesem Abwechslungsreichtum, kann man es ja wirklich nennen, von dieser unglaublichen Vielfalt der Humboldt-Sachliteratur, die Sie uns ja heute jetzt vorgestellt haben. Es ist ja auch nur eine Auswahl. Da drängt sich einem ja der Eindruck auf, ein Ende wird es da noch lange nicht geben. Ist dieser Humboldt unerschöpflich.
Billig: Ja, also Ottmar Ette bereitet schon seinen nächsten großen Wurf vor. Das ist ein Humboldt-Handbuch, das wird im September erscheinen, ein Riesenbuch auch wieder mit verschiedensten Aufsätzen. Da geht es dann um Alexander von Humboldt und die Popularisierung des Wissens, oder Humboldt als Diplomat oder sein Verhältnis zu Charles Darwin. Ich denke, Humboldt ist tatsächlich unerschöpflich, so ein bisschen wie Goethe, der ihm auch sehr wichtig war, weil sein Denken umfassend ist einerseits, und andererseits weit und offen. Und man kann als Nachwelt daran immer weiter wachsen und sich dazu assoziieren. Und um so eine Quelle auszutrocknen wie Humboldt, da müssten wir schon einen riesigen Paradigmenwechsel haben, dass uns vernetztes Denken, Welterforschung, ökologische Zusammenhänge gar nicht mehr interessieren. Das kann man sich jetzt nicht mal vorstellen, und bis dahin ist er so was wie ein fortwährend zu hebender Schatz, und das wird auch in der Sachliteratur so bleiben, das denke ich schon.
Scholl: Danke Ihnen! Susanne Billig hat uns Bücher über Alexander von Humboldt vorgestellt zum Jubiläum seines 250. Geburtstags im nächsten Jahr.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Unsere Buch-Empfehlungen:

Ottmar Ette, Julia Maier, Alexander von Humboldt: Bilder-Welten – Die Zeichnungen aus den Amerikanischen Reisetagebüchern, Prestel Verlag, 736 Seiten, gebunden,600 farbige Illustrationen, 148 Euro

Walter Lack: Alexander von Humboldt und die botanische Erforschung Amerikas, Prestel Verlag, 280 Seiten, gebunden, 142 farbige Illustrationen, 49,95 Euro

Rüdiger Schaper: Alexander von Humboldt – Der Preuße und die neuen Welten, Siedler Verlag, 288 Seiten, gebunden, 20 Euro

Volker Mehnert (Text), Claudia Lieb (Illustrationen): Alexander von Humboldt – oder Die Sehnsucht nach der Ferne, Gerstenberg Verlag, 112 Seiten, gebunden, 25 Euro

Alexander von Humboldt (Autor), Ottmar Ette (Herausgeber): Das Buch der Begegnungen. Menschen – Kulturen – Geschichten aus den Amerikanischen Reisetagebüchern, Manesse Verlag, 416 Seiten, gebunden, 45 Euro

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