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Sterbehilfe
Wer entscheidet, ob ein Mensch unerträglich leidet?

Die geschäftsmäßige Suizidhilfe durch Vereine wie Dignitas ist in Deutschland verboten. Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts lässt jedoch zu, dass in extremen Einzelfällen tödliche Betäubungsmittel verabreicht werden können. Doch wie lässt sich feststellen, was extrem heißt?

Von Burkhard Schäfers | 10.05.2017
    Ein jüngerer Mensch umfasst das Armgelenk einer älteren Person, die im Krankenbett liegt.
    Kann das Schmerzempfinden ausreichen, damit ein Arzt die Selbsttötung unterstützen darf? (picture alliance / dpa / Jm Niester)
    "Ich will so nicht mehr leben, bitte helfen Sie mir, schnell und schmerzlos zu sterben." Solche Sätze hören Ärzte, die schwerkranke Menschen begleiten, immer wieder. Kranke mit einer Spritze töten, das ist aktive Sterbehilfe – sie ist in Deutschland verboten. Aber Betäubungsmittel bereitstellen, mit denen jemand sein Leben selbst beenden kann? Manche Ärzte befürworten diese Form des assistierten Suizids, so auch der Palliativmediziner Matthias Thöns aus Witten:
    "Es gibt ganz, ganz selten diese Situation, dass mit alldem, was Palliativmedizin kann, Leiden nicht linderbar ist. Und in diesen Situationen ist man in dem Gewissenskonflikt: Lasse ich es zu, dass sich mein Patient die Pulsadern aufschneidet oder aus dem Fenster springt, oder berate ich ihn dahingehend, wie das leid-arm geht. Und das ist jetzt strafbar geworden."
    Ärzte fühlen sich kriminalisiert
    2015 verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, das den geschäftsmäßigen assistierten Suizid unter Strafe stellt. Laut Paragraf 217 Strafgesetzbuch droht dem, der ein todbringendes Medikament vermittelt, eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe. Das Gesetz zielt vor allem auf Sterbehilfevereine wie Dignitas ab. Aber Palliativmediziner Thöns sieht nun auch die Leidenslinderung durch Ärzte gefährdet.
    "Ich fühle mich da deutlich kriminalisiert. Denn in die Situation bin ich gerade wieder gekommen. Ich komme zu einer alten Dame mit schwerer Luftnot bei schwerem Herzleiden. Die liegt im Wohnzimmer, wird wunderbar versorgt von ihrer Tochter. Aber die sagt mir: 'Das ist kein Leben mehr für mich.' Was soll ich jetzt machen? Ich kann doch ihre Luftnot nicht unbehandelt lassen. Verschreibe ich ihr Morphium, mache ich mich potentiell strafbar. Verschreibe ich ihr keines, lasse ich die Luftnot unbehandelt und bin einfach kein guter Arzt."
    Nun hat das Bundesverwaltungsgericht vor kurzem eine Entscheidung gefällt, die den Paragrafen 217 konterkariert: Demnach darf der Staat im extremen Einzelfall den Zugang zu einem Betäubungsmittel nicht verwehren, das – so wörtlich – "dem Patienten eine würdige und schmerzlose Selbsttötung ermöglicht". Nur: Wer entscheidet, ob ein Mensch wirklich unerträglich leidet?
    "Ich frage meine Patienten: Wie stark leiden Sie unter Atemnot und unter Schmerzen", sagt Matthias Thöns. "Da gibt es eine Skala von 0 bis 10, und der Patient beurteilt das selber. Wenn ein Patient sagt, das ist 10 - unerträglich stark, dann heißt das: unerträglich stark. Also Patienten können das nur selber für sich sagen."
    Kann das Schmerzempfinden ausreichen, damit ein Arzt die Selbsttötung unterstützen darf? Der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael Brand findet: Nein.
    "Die Situation, wie man sich fühlt, kann heute so sein und ist morgen schon wieder ganz anders. Dass ist die Erfahrung, mit der Palliativmediziner, Onkologen und Psychologen zu tun haben. Wenn sie über die Palliativmedizin Heilung erfahren, Schmerzen genommen werden oder wenn sie auch einfach wieder mal durchschlafen können, dann ist die Skala, die Sie eben mit 10 beschrieben haben, auf einmal vielleicht wieder auf 2 oder 3."
    "Eine Tür öffnen, die wir nicht mehr schließen können"
    Wie weit dürfen Ärzte gehen? Um diese Frage hatte der Deutsche Bundestag vor zwei Jahren intensiv gerungen. Es gab verschiedene fraktionsübergreifende Gesetzesentwürfe. Die einen zogen die Grenzen weiter, die anderen enger. Schließlich stimmte eine Mehrheit gegen die Hilfe von Ärzten bei der Selbsttötung. Der Abgeordnete Brand hatte das Gesetz mit initiiert.
    "Ich glaube nicht, dass es richtig ist, wegen absoluter, extremer Ausnahmefälle, eine Tür zu öffnen, die wir am Ende nicht mehr schließen können. Und dass da auch Menschen durchgeschoben werden können, die da überhaupt nicht durchwollen. Wir leben in einer Gesellschaft, wo wir immer mehr ältere Leute haben. Jeder kennt das aus seinem persönlichen Umfeld, dass der Satz, 'Ich will niemandem zur Last fallen', deutlich zugenommen hat."
    Wie oft kommen diese extremen Ausnahmefälle vor? Dazu sind keine Zahlen bekannt. Jedenfalls ist das Thema Sterbehilfe durch den Entscheid des Bundesverwaltungsgerichts wieder auf der Tagesordnung. Denn wenn der Staat ein Medikament nicht verwehren darf, was bedeutet das dann für Ärzte?
    Ende des Jahres wird ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts erwartet. Dort haben Sterbehilfevereine, Patienten und Ärzte gegen das geschäftsmäßige Suizidhilfe-Verbot geklagt. Michael Brand:
    "Dieses Gesetz wirkt und ich vertraue darauf, dass das Bundesverfassungsgericht die grundlegende Debatte im Bundestag, die wir im Parlament sehr lange und sensibel geführt haben, nämlich das Anliegen um den Lebensschutz und die Autonomie, angemessen berücksichtigt. Ich finde, wir sollten über die menschlichen Alternativen sprechen und nicht über die schnellen technischen Lösungen - über den Medikamentencocktail, der möglichst schnell Leben beendet."
    Sterbenskranke bringen die höchsten Umsätze
    In einem weiteren Gesetz hatte der Bundestag vor gut einem Jahr beschlossen, die Palliativmedizin auszubauen. Das heißt: Mehr Geld für Krankenkassen im Bereich der Linderung von Schmerzen und Atemnot. Mehr Geld für Hospize und für ambulante Krankenpflege zu Hause. Außerdem sollen Kranke besser beraten werden. In den vergangenen fünf bis zehn Jahren habe sich die Palliativversorgung in Deutschland deutlich verbessert. Es gebe allerdings nach wie vor weiße Flecken, sagt der Palliativmediziner Matthias Thöns. Und er beschreibt ein weiteres Problem: Dass selbst bei Sterbenden noch alles Mögliche ausprobiert werde, um ihr Leben zu verlängern.
    "Namhafte Kollegen sagen, dass jeder zweite Patient betroffen ist von einer Übertherapie am Lebensende. Aus einer wissenschaftlichen Untersuchung von 2016 wissen wir, dass drei von vier der jungen Krebsbetroffenen eine zu aggressive Therapie erhalten. Das ist also ein Problem, dass eine ganz große Masse von Patienten trifft. Und man muss wissen, dass die höchsten Umsätze in der Medizinindustrie eben mit Schwerstkranken gemacht werden, und das sind eben Sterbenskranke."
    Gegen das Geldverdienen mit dem Tod richtet sich auch das umstrittene Gesetz, das den geschäftsmäßigen assistierten Suizid verbietet. Palliativmediziner Thöns möchte Ärzte davon ausgenommen sehen. Der Bundestagsabgeordnete Michael Brand hingegen fürchtet einen Dammbruch, wenn man erst einmal Ausnahmen zulasse. Der Ethik-Experte verweist auf die liberalen Sterbehilfegesetze in Belgien und den Niederlanden.
    "In den Nachbarländern ist eine tödliche Dynamik entstanden. Mit der Konsequenz, dass in Belgien der weltweite Tabubruch begonnen worden ist, dass auch Kinder - wenn sie und die Eltern einverstanden sind - dass dort der Suizid durchgeführt werden darf. Das gilt im Übrigen auch für Demenz, für Tinnitus. Sie sehen also: Der Kriterienkatalog wird am Ende nicht halten. Und deswegen gilt auch beim Thema Sterbehilfe: Wehret den Anfängen."
    Allen Regelungsversuchen zum Trotz geht die Debatte weiter. Was wiegt mehr angesichts von Krankheit und Sterben: Der Schutz des Lebens oder die Selbstbestimmtheit des Menschen.