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Welches Potenzial hat der Islam in Zentralasien?

Auf wenig beachtete Regionen wie das ehemals sowjetische Zentralasien wirft das Zentrum Moderner Orient in Berlin sein Blick. Ein neues Forschungsprojekt zu den Staaten Zentralasiens hat begonnen - und ein Islam-Wissenschaftler aus Moskau berichtet

Von Barbara Leitner | 21.04.2011
    "Der Orientbegriff im Zentrum ist ein sehr weiter. Er reicht über Afrika, den Nahen Osten bis nach Asien, Indien, Pakistan und theoretisch auch Indonesien und Malaysia. Hier ist gerade die Achse Südasien, Zentralasien eine ganze wesentlich und eine, die durch die Sowjetunion und die dadurch gezogenen Grenzen komplett übersehen worden ist und wo jetzt die Verbindungen langsam, keineswegs alle, keineswegs nur historisch gewachsene, teilweise ganz neue entstehen, wiederentstehen, wieder aufgerichtet werden."

    Prof. Ulrike Freitag, Islamwissenschaftlerin und Leiterin des Zentrums Moderner Orient in Berlin. Die Wissenschaftler an diesem außeruniversitären Forschungszentrum untersuchen historische und kulturelle Aspekte des "Modernen Orients" seit dem 18. Jahrhundert und schauen dabei besonders nach Beziehungen und Bewegung von Menschen und Ideen in den verschiedenen Regionen und nach Europa. In einem neuen Forschungsprojekt "Kreuzwege Asiens" richten sie ihre Aufmerksamkeit auch auf Zentralasien – auf Kasachstan, Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan, Kirgisistan. 90 Jahre Sowjetmacht verstellten im Westen den Blick darauf, dass diese Region zwischen Kaspischem Meer und chinesischer Grenze seit Jahrhunderten muslimisch ist. Deshalb kann Prof. Vitaly Naumkin, Direktor des Institutes für Orientalische Studien an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, neue Einsichten eröffnen:

    "Beginnend Ende der 80er-Jahre, vor allem Anfang der 90er-Jahre verwandelte sich der Islam in ein machtvolles Werkzeug der Selbstidentifizierung und ein Werkzeug für den politischen Kampf. Deshalb können wir verschieden Richtungen beobachten, wie der Islam als Grundlage für politische Bewegungen benutzt wird."

    Vitaly Naumkin forscht über die arabische und die muslimische Welt und ist Spezialist für den Islam in den zentralasiatischen Staaten. Ihn interessiert vor allem seine Erweckung und Erneuerung in unserer Zeit.

    "Zum Beispiel haben wir eine Islamische Widerbelebungspartei in Tadschikistan, die Teil der Regierung ist. In Usbekistan gibt es einige illegale Gruppen. Außerdem wirken verschiedene transnationale Organisationen, zum Beispiel Hizb ut Tahrir al Islami, die Partei der Islamischen Befreiung, und andere Organisationen, die eine Niederlassung in Zentralasien haben. Meistens werden sie von den lokalen Behörden strafrechtlich verfolgt und unterdrückt. Aber diese lokalen, säkularisierten Regime sehen auch, dass der Islam ein Instrument der Identifikation ist. Sie erlauben ihn nicht als einen Teil der Politik, aber sie ermuntern dazu, den modernen Islam als eine Basis zu nutzen, um ihre Regime zu legitimieren."

    Daran führt angesichts der historischen Verwurzelung des Islams in der Region auch kein Weg vorbei. Bereits im 7. Jahrhundert brachten die arabischen Eroberer den Islam nach Zentralasien. Seit dieser Zeit prägt er die Kultur und das Alltagsleben in der Region.

    "Während der Sowjetzeit war der Islam zwar unterdrückt und etliche Moscheen wurden zerstört oder geschlossen. Es gab auch kaum eine islamische Bildung. Ein einziges islamisches Seminar existierte in Buchara in Usbekistan. Dennoch überlebte der Islam im Volk in populärer Form. Jeder, der starb, wurde beispielsweise nach islamischen Regeln beerdigt und bekam ein besonderes Gebet. Diese Traditionen wurden von einer Generation zur anderen weiter getragen. Es gab eine private Unterrichtung zu Hause, in illegalen Schulen, in denen man den Koran las. Diese Schulen im Untergrund wurden von Politikern geschützt. Die Parteifunktionäre waren verpflichtet den – wie es hieß – religiösen-ideologischen Bewegungen entgegen zu treten. Aber gleichzeitig schützten und ermutigten sie sie, weiter zu wirken."

    In den zurückliegenden 20 Jahren, seit dem Ende der Sowjetmacht, erlebt Zentralasien nach den Worten von Vitaly Naumkin eine Re-Islamisierung. Auf der einen Seite werden traditionelle, tolerante Formen des Sufismus wieder öffentlich gelebt.

    "Aber die Menschen, die als Imame arbeiten, die Sufi-Regel noch kennen und dieses traditionelle Wissen bewahren, sind hinter den neuen Trends zurück, die in diese Region aus dem Ausland kommen. Viele junge Leute wurden in den zurückliegenden Jahren in Zentren in der arabischen Welt oder anderswo ausgebildet und bringen nun andere Formen des Islam zurück. Das führt mitunter zu einer Kollision zwischen diesen neuen manchmal reinen, puren islamischen Formen, der Salafiyya und anderen Trends. Da ist wie ein Wettbewerb der Generationen zwischen diesen alten muslimischen Intellektuellen und der jungen Generation von Studenten, die aus dem Ausland kommt und reformierte Versionen des Islams bevorzugt."

    Ähnlich, wie in der arabischen Welt, hält es Prof. Naumkin für schwierig vorauszusehen, wie sich das Kräfteverhältnis entwickeln wird. Dafür sind auch die Bedingungen in den zentralasiatischen Staaten zu verschieden. Während Kasachstan säkularisiert ist, ist Tadschikistan vom Islam durchsetzt. In Usbekistan und Kirgisistan sind islamische Gruppen einem starken Druck der Regierungen ausgesetzt. Über Turkmenistan ist wenig bekannt. Einige der Regime versuchen, den Strom der jungen Leute ins Ausland aufzuhalten. Sie wollen verhindern, dass sie den Koran auswendig und fließend Arabisch lernen und mit neuen Ideen zurückkommen. Zu sehr fürchten sie den Islam als ein kraftvolles, inspirierendes Instrument, das Menschen mobilisiert und ihnen eine Identität gibt.

    In dem Zusammenhang verweist Vitaly Naumkin auf eine für Russland vollkommen andere Perspektive auf den Islam als in Mitteleuropa. Während hierzulande die Muslime mehr oder minder Neuankömmlinge sind, gibt es in Russland 20 Millionen einheimische Muslime. Die meisten, aus religiösen Gründen Vertriebenen aus Mittelasien, leben heute dort:

    "Der neue Trend ist, dass sich mehr und mehr Zentralasiaten in Russland ansiedeln. Ungefähr die Hälfte der Kirgisen, die nach Russland kamen, sind jetzt russische Staatsbürger und die wollen in den Regionen auch mit ihrer Religion aufgenommen werden. Über ganz Russland verteilt gibt es Moscheen und Gemeinschaften der Tataren und die Freitagsgebete werden in tatarischer Sprache abgehalten. Aber weil ca. 80 Prozent der Leute, die jetzt in die Moscheen geht, keine Tataren sind, wollen sie die Gebete nicht länger in Tatarisch, sondern lieber auf Russisch hören. Einige sind Kirgisen, andere sind Usbeken oder aus dem Kaukasus. Und manchmal werden Neuhinzukommende Imame. Zum Beispiel ist der Mufti von Karelien, im nordwestlichen Teil von Russland, ein palästinensischer Araber. Bisher lebten in den Gemeinschaften ausschließlich Tataren und die sind nun frustriert, weil sie ihren Besitzstand wahren wollen. Sie leben dort bereits Jahrhunderte. Das ist eine neue Situation mit diesen Verstreuten. Russland ist offener und erlaubt mehr, seine religiösen Gefühle auszudrücken als irgendein Staat in Zentralasien. Und deshalb gibt es mehr religiöse Aktivitäten in diesen Gemeinden in Russland als in Zentralasien."

    Der Islam in Zentralasien, das macht die Forschung von Vitaly Naumkin deutlich, ist Europa somit näher, als bisher vermutet.