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Weltenbummler

Die zahlreichen Sammlungen von Reiseerzählungen des 1933 in Den Haag geborenen Schriftstellers Cees Nooteboom belegen eindrücklich seine Leidenschaft fürs Reisen und die Fähigkeit, dem Erfahrenen eine literarische Form zu geben. Die Taschenbuchausgaben sowie die drei gebundenen Bände der Werkausgabe beweisen Nootebooms Rang in Nachbarschaft von Bruce Chatwin, Hubert Fichte, Victor Segalen oder Blaise Cendrars. Die Charakterisierung dieser Autoren als Reisedichter und ihrer Werke als Reiseerzählungen ist allerdings nur eine Notlösung, aus Mangel an besseren Bezeichnungen. Nootebooms Texte von seinen Reisen in Europa, in Asien, Afrika und der islamischen Welt zeigen das ganze Spektrum der von ihm praktizierten Formen: Städteporträts und Landschaftsschilderungen, Streifzüge durch die Geschichte und Kulturgeschichte eines Landes und teils politisch orientierte Reportagen, wenn er etwa 1975 in Persien die despotische Herrschaft des Schahs und die Macht der Geheimpolizei beschreibt oder 1968 im westafrikanischen Mali Zeuge eines gewaltigen gesellschaftlichen Umbruchs wird und in der Rolle des Reporters die Verabschiedung des alten Machthabers und die neuen Lebensverhältnisse skizziert.

Von Hans-Jürgen Heinrichs | 21.10.2004
    Modibo Keita, einst einer der vergötterten Gründerväter der afrikanischen Unabhängigkeit, Präsident der unmöglichen Föderation Senegal-Mali, die bereits 1960 an Blutarmut verschied, zunächst einfacher Lehrer und im Eilzugtempo, mit einem Umweg über das Gefängnis, Vizepräsident der französischen Nationalversammlung, französischer Staatssekretär und schließlich auf dem höchsten Stuhl eines der ärmsten Länder der Welt gelandet, ist am Ende seiner Reise angelangt. Die Ehrenwache am Kai erweist ihm den präsidialen Salut.

    Dieser Text findet sich - ebenso wie die teilweise sehr skizzenhaften und dennoch eindrücklichen Erzählungen zahlreicher Reisen in Marokko und Tunesien - in dem Band Der Laut seines Namens. Einer dieser Texte beginnt mit einer Kindheitserinnerung: Als Nooteboom sechs Jahre alt war, gab es vor seinem Elternhaus ein verwildertes Gelände, das er das "Landje" nannte: ein Ort voller Geheimnisse.

    Hohe Pflanzen, die mir heute nur bis zur Taille reichen, verliehen ihm den Charakter eines Urwalds, und immer noch sehe ich es vor mir: ein gefährliches Gebiet, das ich mit meinen Ängsten und Phantasien bevölkern konnte.

    Die Erregung, die er später beim Reisen in unbekannte Länder empfinden wird, ist von der gleichen Art wie damals, als er Dinge sah, die er nicht begriff, Zeichen, die er nicht lesen konnte. Allerdings heute mit einem großen Unterschied: er hat für sich erkannt, dass "der Schock des völlig Unbekannten aus leiser Wollust gemacht" ist, dass die Erfahrung des Unbekannten eine Wohltat ist. In der Fremde gibt man das eingeübte Rollenverhalten auf, die eigenen Masken werden wertlos.

    Damit wird das Reisen zu einer Art angenehmer Leere, einem Zustand der Schwerelosigkeit, in dem man zwar nicht alle Aktualität für sich selbst verliert, aber doch vieles erlassen bekommt - man treibt in fremdem Gebiet, sieht, schaut, sieht, hinterlässt hier und da einen Ritz in der unverletzlichen Oberfläche, verschwindet wieder und kehrt leerer zurück, freilich auch mit Worten.

    Nootebooms Reisetexte haben eine chronologische Struktur: Der Reisende kommt an, konfrontiert sich mit dem fremden Geschehen und zieht weiter. Der Leser weiß sich in jedem Augenblick in Begleitung des Beobachters und ist immer unterrichtet über dessen Gemütszustand. Und der Leser wird auch nicht entlassen, ohne bestens Bescheid zu wissen über die letzten Augenblicke der Reise, wie der Autor den Tag beendet hat und welches seine letzten Gefühle sind. Zum Beispiel in dem Text "Marrakesch: Schlüssel zum Atlas und zur Sahara":

    Es ist sehr still, nichts berührt die Blätter der Palmen. Und als ich im Bett liege, höre ich noch immer Trommeln auf dem Platz, drohend, unruhig, ein Geräusch, das sich nicht aussperren lässt.

    Oder in "Die gespaltene Stadt. Casablanca ...":

    Ich sitze unter der Galerie des Café de France. Ein Junge will mir einen Quarterdollar verkaufen. Ein Mann will mir Rosen verkaufen. Im Verkehr entstehen Lücken, es wird leer und still. In einer Ecke des Platzes warten gelangweilt zwei Taxis, die letzten Leute verlassen den sinkenden Abend, ich kaufe eine Zeitung und gehe schlafen.

    Nooteboom kann heute auf ein halbes Jahrhundert zurückblicken, in dem er ein nomadisches Leben, mit den beiden Fixpunkten Amsterdam und Menorca, führte. Spanien, wohin er 1954 zum ersten Mal reiste und wo er das findet, was ihn, wie er sagt, ausmache, steht denn auch im Mittelpunkt des ersten Bandes "Auf Reisen" in der Gesamtausgabe und spielt auch noch in den zweiten Band hinein. Außerdem wurden die inzwischen schon legendär gewordenen "Berliner Notizen" aufgenommen. Cees Nooteboom fühlt sich dieser Stadt sehr verbunden und hat im Übrigen in Deutschland eine besonders große Leserschaft.

    Der in den letzten Jahren mit Auszeichnungen, Preisen und guten Kritiken sehr verwöhnte Autor zählt heute zu den bedeutendsten Gegenwarts-Schriftstellern, die es vermochten, die Reiseerzählungen aus den exotischen Klischees zu befreien und neue, gleichermaßen vitale (aus den fremden Lebenszusammenhängen heraus geschriebene) und reflektierte, literarisch avancierte Formen zu entwickeln. Nach Abschluss der achtbändigen Gesamtausgabe im nächsten Jahr wird man noch deutlicher die Konturen dieses Romanciers, Erzählers, Lyrikers und Reisedichters erkennen können. Am besten zusammengefasst hat er das Zentrum seiner Tätigkeit so:

    Mein Leben besteht aus Reisen, Sehen und daraus, dieses anschließend in Bildern auszudrücken. Es ist ein Wesenszug. Ich habe das Sehen, könnte man sagen, zu meinem Spezialgebiet gemacht. Die Prosa, das ist die Praxis, das andere, das ist die Philosophie.

    Dennoch unterschlägt die Charakterisierung als "Augenmensch", dass sein Sehen immer auch begleitet ist vom Imaginären. Er nimmt ja nicht nur wahr, was äußerlich in sein Gesichtsfeld gerät. Ganz in diesem Sinn spielt denn auch die Erinnerung auf eine sehr spezifische Art und Weise eine zentrale Rolle in seinem Werk, nämlich ebenso als ein in die Zukunft gerichteter Akt. Nooteboom spricht von "Zukunftserinnerungen": Frühe, eher unbewußte Ankündigungen in Form eines Bildes oder Namens, an die er sich dann später schreibend erinnert.
    Einmal spricht Nooteboom von seinem "leicht übersteigerten Vorstellungsvermögen" oder von einem "gewissen Talent für Mimikry", das ihm erlaube, sich in Spanien wie ein Einheimischer aufzuführen, ein Talent, das Bruce Chatwin in Meisterschaft beherrschte. Und mit Chatwin zusammen nimmt er sich vielleicht die größte Freiheit in seiner Selbstcharakterisierung: "... mitunter ähneln wir beide zwei quakenden Schwuchteln."

    Cees Nooteboom
    Der Laut seines Namens. Reisen durch die arabische Welt

    Suhrkamp, 270 S., EUR 10,-
    Gesammelte Werke. Bände 4, 5 und 6: Auf Reisen
    Je EUR 40,90