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Weltgeschichte der Tauschgeschäfte

Manfred Denning, der ehemalige Spitzenmanager der österreichischen Landesbank, hat ein Buch geschrieben, dessen Titel in Aussicht stellt, mit ökonomistischem Rüstzeug die Übel der Welt auf 500 Seiten erklären zu wollen: "Tauschen und Täuschen - Warum die Gesellschaft ist, wie sie ist." Ja, warum? Rezensent Thomas Fromm sagt, ob das Buch ihm geholfen hat zu verstehen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Und was Silvio Berlusconi damit zu tun hat.

16.06.2008
    Als Silvio Berlusconi im Frühjahr 1994 zum ersten Mal zum italienischen Ministerpräsidenten gewählt wurde, sahen viele Wähler darin eine gerechte Belohnung für den "Cavaliere". Schließlich sei es der Medienzar gewesen, der den Italienern in den Jahren zuvor das Privatfernsehen geschenkt habe - und damit eine Alternative zum Staatsfernsehen RAI.

    Sechs Jahre später wählten sie ihn wieder zum Ministerpräsidenten. Ein so erfolgreicher Unternehmer und Milliardär wie Berlusconi, hörte man damals überall zwischen Bozen und Palermo, sei wohl der Richtige, um Italien zu regieren. Insgeheim vermuteten viele zwar, dass es bei der Gründung von Berlusconis Konzern-Imperium vielleicht nicht immer mit rechten Dingen zugegangen sein könnte.

    Hatte nicht ausgerechnet Berlusconi, dem immer wieder Steuerhinterziehung vorgeworfen wurde, selbst vor seinen Wählern das Delikt der Steuerhinterziehung verteidigt? Gerade dann, wenn der Abgabendruck zu hoch sei? Wenn es schon der Cavaliere macht, dann wird er nichts dagegen haben, wenn wir es auch so machen, mag sich der eine oder andere italienische Kleinunternehmer gedacht haben. Cosi fan tutte eben.

    Vor einigen Wochen wurde Berlusconi zum dritten Mal zum Ministerpräsidenten gewählt, und außerhalb Italiens schüttelte man nur ungläubig mit dem Kopf. Schon wieder - der? Es ist eines der großen Missverständnisse zwischen Deutschland und Italien dieser Tage. Wer nicht begreift, warum die Italiener ihren Berlusconi immer wieder in das Regierungsamt wählen, sieht nicht das Tauschgeschäft, das Berlusconi und viele seiner Wähler verbindet.

    Glaubt man Manfred Drennig, dann ist der Fall kein rein italienisches Phänomen: Der 1940 geborene österreichische Jurist interpretiert die Gesellschaft als reines Netzwerk von Tauschbeziehungen, eine Dynamik, bei der es um mehr geht als die simple ökonomische Beziehung Ware gegen Geld.

    Drennig, ÖVP-Politiker, Ex-Manager der österreichischen Länderbank und heute Mitgesellschafter eines Vermögensverwalters, sieht die Tauschwirtschaft als Motor allen Handelns: Wählerstimmen gegen Wahlversprechen, Sicherheit gegen Gehorsam, Schutz gegen Loyalität, Aufträge gegen Bakschisch, hohes Risiko gegen verlockende Renditen - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

    "Tauschwerte sind nicht Objektives. Ihnen nähert man sich weder über eine Arbeitswerttheorie noch über die Allmacht von Angebot und Nachfrage, sondern nur über subjektive Bewertungsmechanismen. Und erst deren Kenntnis zeigt, wo aus Tauschen durch Täuschen Ausbeutung wird."

    Drennig erweitert den Tauschbegriff weit über das Ökonomische hinaus und öffnet ihn damit. Das ständige Geben und Nehmen wird damit zur Triebfeder sozialer Beziehungen - mit dem Ziel, das Überleben zu sichern. Von den frühen primitiven Gesellschaften über das Römische Reich, vom Nationalsozialismus bis hin zur aktuellen US-Hypothekenkrise.

    Macht wird zur alles entscheidenden Währung im Tauschsystem. Wer sie hat, kann die Bedingungen des Tauschens diktieren und damit über den weiteren Verlauf der Geschichte entscheiden. Die Regeln des Tausches werden dabei zur eigentlichen Kernfrage - so erklärt sich Drennig auch die deutsche Geschichte.

    "Für Nicholas Boyle ist Deutschland bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein nur teilweise moderner Staat. In Deutschland sei die individuelle Identität an die Nation und nicht an die Wirtschaft gebunden gewesen, im Gegensatz zu England, wo die Handelsschichten den Ton angegeben hätten und die Identität der Individuen ökonomisch geprägt worden sei. Verstehen wir das als Bewahren normativen Selbstverständnisses und normativer Tauschmechanismen in Deutschland, während sich im Westen die modernere Nutzenorientierung in Individuen und Gesellschaft früher und stärker durchgesetzt hatte. Genau das ist meiner Meinung nach der Kern des so genannten deutschen Sonderwegs."

    Drennig widmet der Entstehung des Nationalsozialismus ein langes Kapitel und bietet für den Erfolg Hitlers eine simple Erklärung an: Ausgerechnet Männer vom Rande der Gesellschaft wie der arbeitslose Joseph Goebbels oder der ausgemusterte Jagdflieger Hermann Göring trafen auf den Verführer Adolf Hitler. Sie nutzten ihre Chance zum Aufstieg, aus dem Nationalsozialismus und Mitläufertum wurde ein Tauschgeschäft.

    "Er war in der Partei spätestens in den 30er Jahren Angelpunkt des Systems und Ursprung aller Legitimation. Die Angehörigen der Führungsclique waren daher Hitler in einem personalen Treueverhältnis verbunden."

    Man muss es leider so sagen: Drennig mutet seinen Lesern Einiges zu. Auf über 500 Seiten breitet er seine Theorie des Tauschens aus. Herausgekommen ist eine Art kleine "Weltgeschichte des Tauschgeschäfts". Oft wirkt das Buch leider ein wenig zu langatmig und detailfreudig, gerade bei der Analyse der zitierten Quellen. Und nicht selten hat man den Eindruck, dass sich der Autor bei seinen historischen und soziologischen Literaturexkursen verliert.

    Lesenswert ist das Buch trotzdem. Vor allem dann, wenn Drennig Hilfen zur Interpretation aktueller Tagespolitik anbietet. Denn auch die die Bundesregierung muss sich immer wieder die Frage stellen, welche Tauschgeschäfte für sie - wahltechnisch gesehen - Priorität genießen: Will sie die Kürzungen bei der Pendlerpauschale wieder rückgängig machen? Sollen die Rentner ein paar Euro mehr bekommen? Und wie geht sie mit den 13 Prozent der Bundesbürger um, die laut Armutsbericht am unteren Ende der Gesellschaft stehen?

    Wie immer vor politischen Wahlen wird man sich bemühen, es irgendwie allen Recht zu machen - und mehr Tauschgeschäfte zu offerieren, als man am Ende tatsächlich einhalten kann. Der Mensch, so Drennig, strebt im Grunde nach nichts anderem als einem ruhigen Leben - und dafür ist er bereit, einen hohen Preis zu zahlen. Eine These übrigens, die man aus der politischen Debatte hinlänglich kennt.

    "Der Mensch will Sicherheit und hat daher Angst vor der Kehrseite der Freiheit, dem persönlichen Risiko. Deshalb ist er immer wieder offen für autoritäre Strukturen, in denen wie etwa im Kommunismus Sicherheit und Versorgung gegen Unterordnung eingetauscht wird, auch wenn dabei Freiheit und Leben noch so sehr eingeengt werden."

    Am Ende bleibt dem Leser eine Gewissheit: Die Welt ist so, wie sie ist, weil zum Tauschen auch das Täuschen gehört. Korruption, Missbrauch politischer oder wirtschaftlicher Macht, der Machtverfall staatlicher Strukturen - mit dem Hang des Menschen zu gegenseitigen Geschäften lässt sich vieles erklären. Nur eines nicht: Die Frage, warum Tauschgeschäfte auch dann gemacht werden, wenn sie für die eine Seite ein schlechter Deal sind.

    Hier ist Drennig Kulturpessimist: Wo das Vertrauen in Ordnung und sachliche Argumente fehle, steige die Neigung, so Drennig, "archaischen Mechanismen wie Patronat und Gefolgschaft" zu vertrauen.

    "Der starke Mann ist auch ein Modell der Zukunft, nicht nur der Vergangenheit. Die große Chance für die Herrschaft der Wölfe besteht darin, dass viele sich lieber einem starken Leitwolf anvertrauen als einem System, dem sie nicht mehr trauen."

    Oder, anders gesagt: Wer sich auf Tauschgeschäfte mit einem Wolf einlässt, sollte nicht auf das schauen, was er bekommt, sondern genau prüfen, was er dafür hergeben muss. Es könnte die eigene Freiheit sein.

    Manfred Drennig: Tauschen und Täuschen. Warum die Gesellschaft ist, wie sie ist
    Carl Ueberreuter Verlag, 512 Seiten, 24,95 Euro