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Welthaltige Essays

Jonathan Franzen feierte vor drei Jahren mit seinem Roman "Freiheit" einen Welterfolg. In seinem jetzt erschienenen Essayband "Weiter weg" beschreibt er nicht nur die Zeit der Zurückgezogenheit nach dem Erfolgstrubel, sondern auch seine Zerrissenheit über gesellschaftliche und politische Themen.

Von Thomas David | 07.06.2013
    Dass Jonathan Franzen ein «Vogelproblem» hat, ist seinen Lesern seit Längerem bekannt. Schon in «Die Korrekturen» ist die Rede von der «Dunkelheit von Staren [...], die den Sonnenuntergang verfinsterten» - ein Bild, das Denis Johnson oder Jonathan Lethem wohl nie in den Sinn kommen würde und vermutlich selbst dem um keine Metapher verlegenen John Updike als zu eigenwillig und naturverbunden erschienen wäre.

    In «Freiheit», Franzens vor drei Jahren weltweit als Meisterwerk verkauftem Gesellschaftsroman über Krieg und Frieden im Herzen der amerikanischen Mittelschicht, einem in der Bush-Ära durchaus gefährdeten Biotop, arrangiert sich eine der Hauptfiguren mit dem zerstörerischen Raubbau der Kohleindustrie, um als Geschäftsführer einer Stiftung zur Rettung des Pappelwaldsängers die «Renaturierung» der durch die Kohleförderung verwüstete Landschaft durchzuführen und diese als Vogelreservat aufzuforsten. Das Profil des Pappelwaldsängers - «nicht nur ein schönes Tier, sondern auch der Singvogel Nordamerikas mit den am schnellsten rückläufigen Bestandszahlen», wie es in «Freiheit» heißt – ziert sogar das Cover der amerikanischen Erstausgabe des Romans.

    «Meine Liaison mit Vögeln hatte unschuldig angefangen», so Franzen in einer der autobiografischen Skizzen seines vor sieben Jahren erschienenen Buchs «Die Unruhezone»: In «Weiter weg», seinem neuen Essayband, erinnert sich der 1959 in einem Vorort von Chicago geborene Schriftsteller abermals an den Beginn seiner plötzlichen Liebe und beschreibt diese als Befreiung aus den Verkapselungen jenes «radikalen Individualismus», dessen solipsistische Enge zeitweilig auch Franzens Identität als Schriftsteller zu gefährden schien.

    Wie gesagt, die Sache mit den Vögeln kam für mich sehr unerwartet. Bis dahin hatte ich nicht viele Gedanken auf Tiere verschwendet. [...] Aber wenn so eine Liebe einen erst einmal erwischt, wie spät oder früh auch immer, verändert sie die eigene Beziehung zur Welt. Ich zum Beispiel hatte nach ein paar frühen Experimenten den Journalismus aufgegeben, weil mich die Welt der Fakten nicht so sehr begeisterte wie die Welt der Fiktion. Doch nachdem mich meine Vogelkonversionserfahrung gelehrt hatte, auf meinen Schmerz und meine Wut und Verzweiflung zu- statt davor wegzulaufen, nahm ich eine andere Art journalistischer Aufträge an. Was immer mich zu einem bestimmten Zeitpunkt am meisten abstieß, wurde zu dem, worüber ich schreiben wollte.

    Franzen besuchte Washington, als die Republikaner den USA 2003 «Dinge antaten, die mich rasend machten», wie es in «Schmerz bringt dich nicht um» heißt, einer 2011 gehaltenen Rede, die den Essayband einleitet und gewissermaßen das Programm darlegt, dem Franzen in «Weiter weg» folgt. Er reiste nach China, weil der «Zorn darüber, wie die Chinesen ihre Umwelt verwüsteten», ihn nicht mehr schlafen ließ, ans Mittelmeer, «um Jäger und Wilderer zu interviewen, die ziehende Singvögel abschlachten.» In den zwischen 2008 und 2011 entstandenen Reportagen, die neben einem Essay über die Fragen des «autobiografischen» Schreibens zu den interessantesten Texten des Buches zählen, entzieht sich Franzen dem frustrierenden Komfort unserer von den Gadgets einer technologisierten Konsumkultur hypnotisierten Alltagsrealität und setzt sich einer «Welt der Hurrikans und des Leidens und der zerbrechlichen Herzen» aus, einer «widerständigen Welt», die den digitalen Dunst von Gleichgültigkeit und Langeweile durchdringt und durch ihre ungefilterte Wirklichkeit die widersprüchlichsten Emotionen und Empathien provoziert.

    Wenn man in seinem Zimmer bleibt und tobt oder spottet oder die Achseln zuckt, wie ich es viele Jahre lang getan habe, sind die Welt und ihre Probleme entmutigend. Wenn man aber rausgeht und sich in eine wirkliche Beziehung zu wirklichen Menschen oder auch nur wirklichen Tieren setzt, besteht die sehr reale Gefahr, einige von ihnen zu lieben. Und wer weiß, was dann mit einem geschieht?

    Franzen ging der Herstellung einer Golfschlägerhaube nach, eines albernen, in China produzierten Golfzubehörs in Gestalt eines Papageitauchers, und erzählt auf den etwa fünfzig Seiten seines Essays von der Begegnung mit chinesischen Umweltaktivisten, von seinem Besuch in einem Naturreservat nördlich von Schanghai, dem Besuch einer Golfschlägerfabrik, in der ihm die Zwänge des industriellen Systems vor Augen geführt wurden, das den künstlichen Papageitaucher hervorgebracht hat.

    Er erzählt in dem 2010 entstandenen Essay «Der leergefegte Himmel» von einem Aufenthalt auf Zypern, wo Franzen sich in einem Touristenstädtchen mit Mitgliedern eines «Komitees gegen den Vogelmord» traf, das die Singvogeljagd in den Mittelmeerländern bekämpft. Er beschreibt die «mit einem klebrigen Sirup aus syrischen Pflaumen» bestrichenen Leimruten am Wegesrand, ein Halsbandschnäppermännchen, das in einem Zitronenbaum an einer Leimrute hing - kopfüber, «wie eine gefiederte Frucht» - und erinnert sich an Gespräche, die er auf Zypern und Malta mit Jägern führte, die durch das offizielle, von der Europäischen Union diktierte Verbot der Vogeljagd ihre nationale Tradition und Kultur bedroht sahen und das Wildern als «patriotischen Akt», als «Symbol des Widerstands gegen den Big Brother EU» verstanden.

    Es ist die Widersprüchlichkeit der auf seinen Reisen gemachten Erfahrungen, der Aufruhr ungeahnter Gefühle für eine andere, mit der eigenen Wut und Verzweiflung scheinbar nicht zu vereinbarenden Sicht der Dinge, in der die Welthaltigkeit von Franzens Essays liegt, die sich wie klassische Reportagen ausnehmen und den Leser doch wie große Literatur aus der narzisstischen Verkrustung des eigenen Ichs befreien und mit der komplizierten Wirklichkeit der Welt versöhnen. Wie unmittelbar Franzens Ausflüge in die Natur - Franzens «Vogelproblem» - dabei mit der Poetologie des Schriftstellers verschränkt sind, zeigt sich insbesondere in «Weiter weg», dem titelgebenden Essay des Bandes, in dem Franzen erzählt, wie er sich im Anschluss an die Veröffentlichung von «Freiheit» und seine viermonatige Presse- und Lesereise in die Einsamkeit der nach dem schottischen Seemann Alexander Selkirk benannten, nur von Seevögeln und Seebären bevölkerten Vulkaninsel im Südpazifik zurückzog.

    Während die im Buch enthaltenen Beiträge über Christina Steads «Der Mann, der seine Kinder liebte», James Purdys «Die Preisgabe» und Sloan Wilsons «Der Mann im grauen Flanell» - vom Vergessen bedrohte Romane, für die sich Franzen ebenso emphatisch engagiert wie für die vom Aussterben bedrohten Vogelarten - eher konventionell anmuten, verbindet Franzen in «Weiter weg», dem außergewöhnlichsten Essay des gesamten Bandes, die eigene Sehnsucht nach Rückzug und Einsamkeit mit einer faszinierenden Lektüre von Daniel Defoes «Robinson Crusoe» und dem Nachdenken über den Selbstmord seines Freundes David Foster Wallace, dessen Asche Franzen schließlich im Ozean verstreut.

    In der Abgeschiedenheit der unbewohnten Insel ist Franzen ein moderner, mit einem GPS-Empfänger ausgestatteter Nachfahre Alexander Selkirks, dessen Schicksal Defoe zu dem «ersten realistischen Porträt eines radikal isolierten Individuums» inspiriert haben soll, während der 2008 gestorbene Wallace aus der Erinnerung des Freundes als dessen Antipode hervorgeht - «lebenslang gefangen auf der Insel seiner selbst», wie Franzen über den von schweren Depressionen heimgesuchten Wallace schreibt, das vom Meer einer gleichgültigen Cyberwelt umspülte Archipel der Einsamkeit und Langeweile, dem offenbar allein die Literatur jene «verlorene Authentizität» der Welt ersetzte, an die sich Franzen bereits beim Anblick eines seiner geliebten Vögel erinnert fühlt.

    «Egal wie sorgsam wir uns abschirmen», so Franzen, der in den in «Weiter weg» versammelten Essays - in seinen Romanen «Die Korrekturen» und «Freiheit» - das Experiment eines «radikalen Individualismus» aufgibt und sich wie Defoes Robinson den Faszinationen einer komplizierten, mitunter gefürchteten oder erschreckenden Wirklichkeit aussetzt, «es braucht nur den Fußabdruck eines anderen wirklichen Menschen, um uns an das unendlich interessante Wagnis einer lebendigen Beziehung zu erinnern.»

    Selbst Facebook, dessen Nutzer Milliarden Stunden mit der Herrichtung ihrer selbstbezogenen Projektionen verbringen, hat einen ontologischen Notausgang, und zwar unter «Beziehungsstatus», wo sich bei den Optionen die Wendung «Es ist kompliziert» findet. Es mag sich dabei um einen Euphemismus für «auf dem Absprung» handeln, aber es ist zugleich eine Beschreibung aller anderen Optionen. Solange wir solche Komplikationen haben – wie können wir es wagen, gelangweilt zu sein?


    Jonathan Franzen: «Weiter weg»
    Essays
    Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell, Wieland Freund, Dirk van Gunsteren und Eike Schönfeld
    Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2013. 368 S.; 19,95 Euro.