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Weltkriege
Verlorener Glaube an den Fortschritt

Philipp Blom legt nach: "Die zerrissenen Jahre" heißt der Nachfolger seines viel beachteten Titels "Der taumelnde Kontinent". Darin hatte er die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg geschildert. Nun untersucht er die dramatische und ambivalente Zeit zwischen den Weltkriegen.

Von Martin Hubert | 08.09.2014
    Französische Infanterie auf dem Schlachtfeld von Verdun im 1. Weltkrieg (1914-1918).
    Im Ersten Weltkrieg wurde der Fortschritt zur Bedrohung, analysiert Philipp Blome. (picture alliance / AFP)
    "Das ist eine Zeit, die sehr ringt mit ihrer Neuorientierung, weil sie eben den großen Glauben an den Fortschritt, der vorher da war, verloren hat und noch keine Alternative gefunden hat. Und ich würde übrigens auch glauben, das ist eine Suche, die wir noch längst nicht abgeschlossen haben."
    Mit seinem neuen Buch möchte der Historiker und Journalist Philipp Blom die Jahre zwischen den Weltkriegen begreifen und sie mit der Gegenwart verbinden. Blom setzt damit ein Thema fort, das er bereits in seinem viel gelesenen Buch „Der taumelnde Kontinent“ aus dem Jahr 2009 behandelt hatte. Darin schilderte er, wie zwischen den Jahren 1900 und 1918 das Zeitgefühl der Moderne prägend wurde. Neue Technik, Industrialisierung, aufstrebende Wissenschaft, die Beschleunigung von Verkehr und Warentransport brachten zwar auch Verunsicherung und Konkurrenz hervor, trotzdem dominierte der Glaube, in ein neues Zeitalter des Fortschritts einzutreten.
    Der Moderne ist nicht mehr zu trauen
    Es war für Philipp Blom der Erste Weltkrieg, der diese Hoffnung radikal zerstörte. Die viel versprechende Technik verwandelte sich nun in eine Bedrohung aus Gas-, Geschütz-, Panzer- und Maschinengewehrwaffen.
    "Die Körper von Menschen sind nichts mehr als so ein Anhängsel dieser gigantischen, monströsen Maschinen. Und ich glaube letztendlich, dass die Tatsache, dass so viele Soldaten durch diese Maschinen umkamen, das hat ein Gefühl hinterlassen, dass dieser Moderne, dieser Technologie und auch der Rationalität der Aufklärung nicht mehr zu trauen ist."
    "Die zerrissenen Jahre": Der Titel von Philipp Bloms neuem Buch verweist auf diese innere Gespaltenheit des modernen Lebensgefühls nach 1918. Technik, Wissenschaft und Rationalisierung entfalten eine ungeheure Energie – und ein riesiges Zerstörungspotenzial. Philipp Blom führt das zu einer radikalen These: In Anspielung auf den Militärhistoriker Carl von Clausewitz schreibt er, die Zwischenkriegszeit sei nur die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln gewesen.
    "Die Gesellschaften kämpfen jetzt nicht gegen andere Nationalitäten, sondern Sie sind in sich gespalten zwischen verschiedenen Ideologien, zwischen verschiedenen Generationen, zwischen verschiedenen Visionen der Zukunft. Es ist letztendlich eine Periode der dauernden Konflikte, die manchmal blutig und mit der Waffe ausgetragen werden, oft auch in Büchern und Debatten, aber die eigentlich nie zur Ruhe kommen in dieser Zeit."
    Für jedes Jahr schreibt Blom ein Kapitel
    Blom entwickelt diese These nicht in stringenten Argumentationsschritten, er illustriert sie vielmehr, indem er ein breites Panoptikum der damaligen Zeit präsentiert. Er interessiert sich weniger für die großen politischen Taten und Ereignisse, sondern für das Lebensgefühl der Menschen, ihre Ängste, Wünsche und messianischen Sehnsüchte nach der einen erlösenden Idee.
    Jedem einzelnen Jahr zwischen 1918 und 1938 ist ein Buchkapitel gewidmet, das anschauliche Szenen der damaligen Lebenswirklichkeit mit Informationen über kulturelle, künstlerische, psychologische und ideologische Prozesse mixt. Im Kapitel über das Jahr 1918 behandelt Blom zum Beispiel die vom Krieg Traumatisierten, die Kriegszitterer, Verbitterten und Hoffnungslosen. In anderen Kapiteln beschreibt er, wie der Ku Klux Klan in den USA unter anderem deshalb erstarkt, weil 5.000 Afroamerikaner die Arbeitsplätze der Soldaten eingenommen hatten, die im Ersten Weltkrieg kämpften: Ein Angriff auf das Ehrgefühl reaktionärer Weißer.
    Blom schildert den Terror des Stalinismus und die Angst des Westens vor dem Bolschewismus, die Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken in der Weimarer Republik. Er beschreibt aber auch, wie der Jazz in den 20er Jahren das zwischen Not und Lebenslust zerrissene Lebensgefühl der Schwarzen zunächst in die amerikanische, dann in die westeuropäische Gesellschaft einsickern ließ. Das Lebensgefühl der sogenannten "Goldenen Zwanziger Jahre" der Weimarer Republik interpretiert er dann als entscheidenden Wendepunkt.
    "Erst einmal wird es getragen von einer Generation, die in dem Krieg noch Kinder waren, das heißt es ist wirklich ein Lossagen von dieser älteren Generation, von dieser Besessenheit von diesem Krieg, von den großen ideologischen Problemen. Es gibt viele Menschen in Europa und Amerika, die sagen, Ideologie interessiert mich einfach nicht, jetzt will ich leben, ich habe ein bisschen Geld in der Tasche und in den mittleren, späten zwanziger Jahren beginnt es in Europa, auch in den Vereinigten Staaten, wieder bergauf zu gehen wirtschaftlich, die Arbeitslosigkeit sinkt und es sieht tatsächlich gut aus. Und für einige Zeit scheint es, als wäre man noch einmal davon gekommen nach diesem schrecklichen Krieg. Und dann kommt die Weltwirtschaftskrise mit dem Wall Street Crash 1929, und dann wird eigentlich schlagartig aus der Nachkriegszeit eine Vorkriegszeit."
    Viel Stoff, nicht immer mit Tiefgang
    Ausführlich schildert Blom die Inszenierungstechniken des deutschen und italienischen Faschismus, die in Reaktion auf diese neuerliche Desillusionierung immer stärkeren Einfluss gewannen. Bis hin zum Zweiten Weltkrieg. Blom schreibt verständlich und breitet eine imposante Stofffülle aus, eilt jedoch ab und zu auch etwas zu schnell und oberflächlich von einem Punkt zum nächsten.
    Man kann sich auch fragen, ob seine These von der zerrissenen Moderne nicht zu großflächig angelegt ist und bestimmte Aspekte unterbelichtet. Beispielsweise prägten die soziale Frage, der Kampf zwischen Privilegierten und Unterprivilegierten und der ökonomische Konkurrenzkampf bereits die Periode seit Ende des 19. Jahrhunderts. Sie können daher selbst schon als Ursachen vieler Konflikte und Ideologisierungen begriffen werden. Blom jedoch beschreibt sie als Auswüchse der zerrissenen Moderne. Andererseits hat Bloms modernisierungskritischer Ansatz den Vorteil, tatsächlich die Gegenwart an die Vergangenheit anzuschließen. Auch nach 1945 war das Trauma eines Weltkriegs zu verarbeiten. Es gab die Periode des Kalten Kriegs mit ihren ideologischen Zuspitzungen, auf die dann im Westen der wirtschaftliche Aufschwung folgte – bis zum Schock der erneuten Weltwirtschaftskrise.
    "Ich glaube schon, dass man sagen kann, dass die Weise, wie wir heute unsere ganze Welt ganz auf den Markt ausgerichtet haben, den freien Markt, dem wir zu dienen haben, das scheint mir eigentlich genau so ein ideologisches Konstrukt zu sein, und wir sind letztendlich auch sehr desorientiert."
    Philipp Bloms Buch ist daher zwar in manchen Punkten diskussionswürdig, aber dennoch lesenswert. Denn es wirft ein Licht auf Mentalitätsmuster, die sich historisch wandeln, aber keineswegs abgegolten sind.
    Philipp Blom: "Die zerrissenen Jahre. 1918 bis 1938"
    Carl Hanser Verlag, 572 Seiten, 27,90 Euro
    ISBN 978-3-446-24617-1